Ihr Oberkörper hing von der Bettkante, und an dem schrägen Winkel sah Shuggie, dass sie sich im Rausch die ganze Nacht wie ein Propeller gedreht hatte. Er legte ihren Kopf auf die Seite, damit sie nicht an ihrem Erbrochenen erstickte. Dann stellte er den Putzeimer ans Bett, öffnete behutsam den Reißverschluss ihres cremefarbenen Kleids und löste den Verschluss ihres BHs. Er hätte ihr auch die Schuhe ausgezogen, aber sie hatte keine an, und ihre Beine leuchteten weiß und nackt ohne die schwarzen Strumpfhosen. An den bleichen Schenkeln waren frische blaue Flecke.
Shuggie stellte ihr drei Tassen hin: eine mit Leitungswasser gegen den Brand, eine mit Milch gegen das Sodbrennen, und die dritte mit den schalen Resten des Special Brew und Stout, die er im Haus gesammelt und mit der Gabel verrührt hatte. Er wusste, dass sie zuerst nach der dritten Tasse greifen würde, weil sie es war, die das Heulen in ihren Knochen beruhigte.
Er beugte sich vor und lauschte ihrem Atem. Sie roch nach Zigaretten und Schlaf, also ging er in die Küche und füllte eine vierte Tasse mit Bleiche für ihre Zähne. Dann riss er eine Seite aus seinem Aufsatz über die »Päpste im Kaiserreich« und schrieb mit weichem Bleistift darauf: ACHTUNG! Zahnbleiche. Nicht trinken. Nicht mal Ausversehen.
Er hörte das sanfte Schließen der Haustür. Leek ging wieder zu spät zur Arbeit. Er sträubte sich morgens, den schützenden Kokon seines Betts zu verlassen; unter der Decke war der Tag immer noch unverdorben. Shuggie spähte durch den Vorhangspalt und sah seinem Bruder hinterher, der mit hängenden Schultern die Straße hinauftrottete. Die ersten Zechenkinder machten sich auf den Weg zur Schule. Die Jungs, die morgens früher zur Schule gingen, um vor dem Unterricht auf dem Betonplatz noch ein paar Bälle zu kicken, waren dieselben, die Shuggie einkreisten und herumschubsten, wenn ihnen langweilig wurde. Shuggie fand Agnes’ blauen Kuli, ging wie ein Buchhalter seine Hausaufgaben durch und setzte mit einem Schnörkel ihre Unterschrift darunter. Mrs Bain. Ihr Name sah jetzt seltsam aus.
Der Radiowecker zeigte immer noch reichlich Zeit, bis er sich unbeachtet in die Morgenmesse schleichen konnte, also drehte er sich auf dem Hocker um, verschränkte die Hände und wartete geduldig. Die Kommode war aufgeräumt und sauber, wie sie es gerne hatte. Wenn das Zittern es zuließ, leerte sie das kleine Schmuckkästchen aus und polierte jedes einzelne Stück, egal, was es wert war. Manchmal breitete sie alles auf der Kommode aus und sie spielten Juweliergeschäft. Agnes ließ Shuggie neue Kombinationen zusammenstellen, eine Auswahl an Ohrringen mit passenden Ketten. Es hatte mehr Spaß gemacht, bevor sie die schönsten Schmuckstücke zum Pfandleiher gebracht hatte.
Er beobachtete sie im Spiegel, das Heben und Senken ihres schlafenden Rückens. Shuggie schraubte ein Fläschchen Wimperntusche auf und malte mit der schwarzen Tinte die grauen Risse seiner Halbschuhe nach. Dann nahm er das Bürstchen und hielt es an seine Wimpern. Die feinen Wimpern hoben sich anmutig von seinem Gesicht ab. Hinter ihm richtete sich Agnes auf wie ein Jahrmarktskelett. Er versuchte das Bürstchen schnell wieder in den Behälter zu stecken, aber er schaffte es nicht, also ließ er die Wimperntusche heimlich hinter die Kommode fallen.
Aber Agnes achtete gar nicht auf ihn. Der nachlassende Rausch hatte sie aufgerüttelt, und jetzt stand sie steif vor dem Bett, eine Brust hing halb aus dem schwarzen BH, und der BH hing halb aus den Kleidern von gestern. Dann sank sie neben dem Bett in die Knie, als wollte sie ein Abendgebet sprechen.
Ihr Junge war wohl schon in der Schule. Sie wusste, dass er über sie gewacht hatte wie ein unerlöstes Gespenst, aber als sie die Augen wieder aufschlug, war er weg. Sie rappelte sich hoch, setzte sich auf die Bettkante, den Eimer zwischen den Knien, und versuchte den Puls, der in ihrem heißen Gesicht pochte, zu beruhigen. Sie musste würgen und krümmte sich über den Eimer wie eine keuchende Katze. Vorsichtig griff sie nach einem Faden der Erinnerung und begann zögernd, die Bilder heraufzuziehen, die daran festhingen. Sie sah einen Stuhl, die Uhr und das leere Haus. Sie sah sich selbst, wie sie von der Küche ins Wohnzimmer und wieder zurück ging, und dann kniete sie auf dem Boden und kratzte mit den Fingernägeln den Staub von der Scheuerleiste. Sie sah wieder die Uhr, und dann gingen die Lichter der Siedlung an, die Vorhänge waren zurückgezogen, und der Junge war von der Schule zu Hause.
Der Rest flatterte in ihrem Kopf wie Wäsche an der Leine. Da war das Telefon, ein Taxi, da war ein Bingosaal, und sie saß allein. Da war ein Getränk und noch ein Getränk, und kein Gewinn und ein Getränk und kein Gewinn, und die Frau neben ihr fragte, ob alles in Ordnung sei, und Agnes fragte sie, ob sie Kinder habe, und die Frau sagte Nein und drehte sich weg. Da war ein Taxi, das sie nach Hause fuhr, nicht Shug, und dann ein Halt am dunklen Eingang der stillgelegten Zeche. Sie sah beinahe das Gesicht des Taxifahrers, und dann schrie sie und erstickte an seinem Aftershave, und dann war da nur noch Panik.
Sie würgte und erbrach sich in einem heftigen, rotgesichtigen Schwall. Spritzer landeten auf ihrer Hand, dem Bett und der schwarzen Ledertasche, die am Boden lag. Sie streckte die klebrige Hand weg, legte sich aufs Kissen zurück und schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende. Zögernd, ängstlich schob sie die saubere Hand über das Laken, zwischen ihre Beine. Sie drückte leicht, spürte ein neues wundes Gefühl. Dann übergab sie sich wieder.
Es dauerte eine Weile, bis sie Kraft genug gesammelt hatte, um sich aufzusetzen. Verzweifelt sehnte sie sich nach einem kochend heißen Bad, aber der halbleere Zähler bedeutete, dass das Wasser nur lauwarm wurde. Im flachen Wasser sah sie die roten Striemen an der Innenseite ihrer Schenkel, die pfannkuchengroßen blauen Flecken, die aussahen, als wäre das Fleisch unter ihrer cremefarbenen Haut abgestorben. Nach kurzer Zeit war das Wasser ganz abgekühlt, und sie trocknete sich zitternd ab und zog einen sauberen Pullover an. Sie schaffte es gerade noch, sich das Haar mit Haarspray einzusprühen und ein wenig blauen Lidschatten über den Augen aufzutragen, dann sank sie in den Sessel und saß unbeweglich da wie eine königliche Wachsfigur.
Sie bewegte sich immer noch nicht, als es munter an die Tür klopfte und lange Fingernägel einen verzweifelten Gruß schabten. »Ag-niss! Ah-g-niss. Ich bins nur.« Jinty McClinchy stand schon an ihrem Sessel, als sie fragte: »Darf ich reinkommen?« Sie sah auf die versteinerte Frau herunter und saugte mit einem quietschenden Lacher Luft durch die Zähne. »Ach, Süße. Siehst aus, als hättse dir nix geschenkt letzte Nacht. Dat kenn ich, ich sachs dir.«
Von der ganzen Pithead-Verwandtschaft war Jinty die Einzige, die nach üppiger Nachtcreme und Elizabeth-Arden-Parfum duftete. Wenn die Sonne schien, knotete sie sich ein Tuch ums Haar, und sie trug gerne bequeme Schuhe an ihren kleinen Kinderfüßen. Jinty hatte ein Medaillon des heiligen Christopherus um, und sie schwor immer auf die Bibel, wenn sie ein Urteil über andere fällte. Während Agnes vom Trinken melancholisch und reumütig wurde, wurde Jinty scharfzüngig und angriffslustig. Sie saß gern da, erklärte die Welt und wies andere darauf hin, was sie wo alles falsch gemacht hatten. Nach zwei Dosen Lager wurden ihre Augen schmal wie die einer pingeligen Richterin beim Marmeladenwettbewerb. Jinty war eine Giftspritze, und es hieß, sie sei schon aus jedem Haus in der Siedlung geflogen.
Jetzt schüttelte Jinty mitleidig den Kopf. »Sollichen Stück trocken Toast innen Toaster stecken?« Sie nahm ihr geblümtes Kopftuch ab.
Agnes nickte schweigend; ihre Mundwinkel konnten das höfliche Lächeln nicht lange halten. Jinty ging in die Küche, und obwohl das Brot direkt neben dem Toaster lag, hörte Agnes, wie sie die Nase in jeden Schrank steckte und etwas zu trinken suchte. Weil Jinty zu klein war, um in die oberen Fächer zu sehen, sprang sie auf und ab wie ein kleiner aufgeregter Hund, und ihre flachen Sandalen klatschten auf dem harten Linoleum.
Nach einer Weile kam Jinty mit einer Scheibe hartem braunem Toast zurück. »Schlimme Nacht gehabt, Süße?«, fragte sie mit ihrer hohen, kindlichen Stimme, während sie den Blick durchs Zimmer schweifen ließ.
»Ja.«
»Na dann, Süße. Kannich lang bleiben. Wollte nur auffen Tee vorbeikommen. Hab viel zu erledigen.« Jinty zog den Mantel aus und setzte sich erwartungsvoll.
Agnes wollte den Teller neben den Sessel stellen, aber ihre Hand zitterte, und der trockene Toast fiel auf den Boden.
»Ach je. Schau dich an. Wat haste dir bloß eingebrockt.«
Agnes legte das Gesicht in die Hände. Ihr Schädel brummte, ihre Arme schmerzten, und ihr ganzer Körper fühlte sich an, als wäre er mit blauen Flecken übersät.
»Ach je. Ach je. Ich brings nich übers Herz, dich leiden zu sehen.« Jinty beobachtete sie aus dem Augenwinkel und schniefte. »Du hast nich zufällig noch was da, oder?«
Agnes wusste, dass Jinty über ihre Bestände Bescheid wusste, weil sie die Küchenschränke durchsucht hatte. »Ich glaube, unter der Spüle steht noch eine Dose. In einer Tüte, hinter der Bleiche.« In ihrem Kopf drehte sich alles.
Jinty schniefte wieder. »Solln wern Schluck zusammen trinken? Weißt schon. Damitte wieder auffe Beine kommst?«
Agnes nickte, und Jinty sprang mit knackenden Knien vom Sofa und tanzte fast in die Küche. Wie Agnes erwartet hatte, fand sie die Dose sofort und kam mit zwei ausgespülten Teetassen zurück. Sie stellte die Tassen auf den Tisch und zog mit dem kleinen Finger den Ring der Bierdose auf. Die Dose blubberte schäumend, als Jinty sie fachmännisch auf die beiden Tassen verteilte. Am Ende fuhr sie mit dem Finger um den Rand der leeren Dose und leckte sich den weißen Finger ab, als wäre es Sahne.
»Dattis nett«, seufzte sie leise. »Macht ja nix, wenn wirn Tee überspringen und gleich zur Sache kommen.« Sie wich Agnes’ Blick aus. »Ich mach sowat sonst nie, aber dein Anblick is ja zum Steinerweichen, und ich kannen Geschöpf Gottes einfach nich leiden sehen.«
Wie beim Puppentee nahm Jinty mit ihren kleinen Händchen eine Tasse und hielt sie Agnes hin. Agnes setzte die Tasse an die Lippen und trank einen kleinen Schluck. In ihrem Magen rumorte es. Sie trank noch einen Schluck und stellte die Tasse aus Gewohnheit hinter dem Sessel ab, wo sie keiner sah.
Jinty hob ihre Tasse und trank einen Mäuseschluck. Sie gluckste glücklich, dann trank sie noch einen Schluck, und noch einen. Die beiden Frauen wechselten kein Wort, bis ihre Tassen fast leer waren. Agnes merkte, wie das Bier ihren Magen beruhigte. Auch das Zittern in ihren Knochen ließ nach. Als sie sich über die schmerzenden Schenkel strich, stieg Wut in ihr auf.
Vor sich hin schlürfend sah Jinty den Boden der Tasse am Horizont. »Aye, aye. Ich kannich lang bleiben.« Sie nahm ein Taschentuch heraus und wischte ihren Lippenstift vom Rand der leeren Tasse. »Aber du brauchst vielleicht nochen lütten Schluck, damitte dich besser fühlst?«, schniefte sie.
Agnes nickte schwach.
Jintys intrigante Augen wurden schmal. »Unter deiner Spüle war nix mehr. Haste vielleicht nochen anderes Versteck?«
Agnes dachte an die üblichen Stellen — im Fach hinter dem Tauchsieder, oben auf dem höchsten Garderobenschrank. Sie schüttelte den Kopf.
»Ach! Na ja, ich kann eh nich lang bleiben«, sagte Jinty traurig, die feinen Fältchen um ihren Mund zusammengepresst. »Oder haste vielleicht en paar Pfund? Dann könnt ich schnell zum Lädchen gehen.«
Agnes griff neben den Sessel und hob ihre Handtasche auf. Sie war leer bis auf ein paar Kaugummipapiere. Ihre Gedanken kehrten zu dem Taxi und dem Fahrer und der dunklen Zeche zurück, und sie spürte, wie ihr die Galle hochkam.
»Nich man bisschen vom Dienstagbuch übrig?«, fragte Jinty enttäuscht.
Agnes schüttelte den Kopf.
Jinty McClinchy rutschte nervös auf dem Stuhl herum, als juckten ihre Hämorrhoiden. Sie sah Agnes an und dann sah sie in ihre leere Tasse. Schließlich seufzte sie und schniefte noch einmal. »Na gut, dann seh ich mah nach, was ich inner Tasche habe, wat?«
Mit Schwung zerrte die winzige Frau ihre große Ledertasche vom Boden. Sie nahm sie auf den Schoß und krabbelte fast hinein. Agnes hörte das Geklimper von Schlüsseln und Münzen am Boden, und dann ein süßes Gluckern, als Jinty drei warme Carlsberg-Dosen hervorzauberte. »Dat Geld dafür kannste mir später gehm.« Jinty öffnete eine Dose und wiederholte ihr Ritual, das sorgfältige Einschenken und Warten und Ablecken des Schaums von ihrem kleinen weißen Finger. Erst bei der dritten Dose waren sie beide wieder sie selbst.
»Ich war gestern Ahmd bei meiner Tochter. Du hätts mah sehen sollen, wies da aussieht.« Jinty putzte sich mit dem alten Taschentuch die Nase. »Ich habben faulen Sack mit ner kaputten Leber zu versorgen und ich halt meine Bude trotzdem in Ordnung.«
»Wie gehts ihr mit dem neuen Baby?«, fragte Agnes nur halb interessiert.
»Aye. Ganz gut, würd ich sagen. Die liebt dat Ding wie verrückt«, sagte Jinty leidenschaftslos. »Jetzt kriegtse natürlich noch mehr Kindergeld. Ich hab gesagt, sie soll sich wat zur Seite legen unne Putzfrau anheuern. Widerlich. Ehrlich wah, manchmal kuck ich mir die an und weiß nicht, wat ich da großgezogen hab.« Jinty redete sich in Rage. »Auffer Scheuerleiste war so hoch Staub. Und die kuckt mich an, als wolltse mich fragen: ›Mammy, kannst du nich helfen?‹ Aber da hab ich nur gesagt: ›Hömma, ich hab meine eigenen Blagen großgezogen. Ich. Bin. Bedient.‹« Sie machte mit der Hand einen Strich durch die Luft.
Agnes nickte traurig. Wie gerne hätte sie ein Haus voller Enkel gehabt. Wie gerne hätte sie wieder ein volles Haus gehabt, mit ihren eigenen Kindern.
Jinty fuhr fort. »Gillian, ihr Ältester, hat neulich Granny zu mir gesagt. Da hab ich dem Knirps fast die kleine Zunge abgeschnitten. Eigentlich wärs mir egal, aber die andere Omma lässt sich Shirly nennen, und an Weihnachten will ich bestimmt nich die einzige alte Granny sein.« Sie nahm ihre Tasse und betrachtete Agnes über den Rand. »Wat is eigentlich heut los mit dir, dasse so still bist?«
»Ich?«, sagte Agnes. »Ach, nichts.«
»Agnes, ich hab vielleicht ein sitzen, aber ich seh, wenn eine lügt.«
Schweigend saßen die beiden Frauen da und tankten den Rest der Dose Bier. Irgendwann sagte Agnes leise: »Jinty, wenn ich dir was erzähle, behältst du es für dich und sagst es keiner Menschenseele weiter?«
Jintys Augen leuchteten wie Perlen. Sie bekreuzigte sich mit einem Finger, nur dass sie ihr Herz verfehlte und die falsche Seite bekreuzigte. »Bei meim Leben.«
»Ich hatte einen schlimmen Filmriss gestern.« Dann erzählte Agnes Jinty die Geschichte von dem Bingo und dem Taxi, und wie der Fahrer am Zecheneingang angehalten hatte. Sie schob den Ärmel ihres Pullovers hoch und zeigte Jinty die Handabdrücke, die der Vergewaltiger auf ihrer weißen Haut hinterlassen hatte.
Die kleine Frau schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Lockenkopf. »Wat fürn Drecksack. Ner wehrlosen Frau sowat anzutun. Wie weit isset bloß mitte Welt gekommen? Die Menschen nutzen einander nur noch aus. Früher hätts sowas nich gegeben. Die hätten dat Schwein gekriegt und ihn auffen Zaun durch Trongate reiten lassen.« Mit einem knochigen Finger machte sie den spitzen Zaunpfahl nach, der sich dem Täter in den Arsch gebohrt hätte. Sie nahm wieder das Taschentuch heraus und putzte sich die Nase. Dann wischte sie damit den Ladenstaub von der letzten Dose. Die beiden Frauen sahen sie melancholisch an. »Könnste nich irgendwien paar Pfund auftreim?«
Agnes sah zu, wie der Rest der goldenen Flüssigkeit in die Tassen strömte. Im Kopf schüttelte sie den Fernsehzähler, den Gaszähler und den Stromzähler, aber alle waren leer. »Nein«, sagte sie traurig.
»Haste nichen Männerfreund, dende anrufen könnst?«
Agnes dachte an die blauen Flecken an ihrem Körper. »Nein.«
Eine Weile saß Jinty schweigend da und genoss den letzten goldenen Schluck. »Und wenn wir diesen Typen anrufen?«, fragte sie. »Weißt schon, den kleinen Kerl mit dem Vokuhila.« Sie machte mit den Händen die lockige Matte nach, die bei Fußballern und Popstars so beliebt war. »Ich hab gehört, der is immer flüssig, und dass er gern einen hebt.«
»Wer?«
Jinty dachte nach. »Lamby. Aye, so heißt der. Wir könnten Lamby anrufen.«
Die Cousinen von Pithead erzählten sich, dass Iain Lambert in der Grube gearbeitet hatte und ihm, kurz bevor die Zeche dichtmachte, seine Frau abgehauen war. Ohne Frau, die sein Geld verjubelte, lag seine karge Abfindung unter seinem Bett und fing Staub. Während die anderen Bergleute ihr Geld versoffen oder für ihre wachsende Brut ausgaben, saß Lamby auf seinem Ei, als er die Teilzeitstelle in einer Reparaturwerkstatt für gemietete Fernseher fand. Die Cousinen sagten, Lamby sei ein langweiliger Einzelgänger, kein Stoff für Liebesromane. Trotz der modischen Fußballermatte, die er sich zugelegt hatte, sah er aus wie ein unterernährter Teenager. Doch obwohl er optisch nicht viel zu bieten hatte, brachten ihm dieselben Frauen Teller mit Röstkartoffeln und grauem Fleisch oder eingefrorene Brühe vorbei. Die Cousinen sagten, er sei ein guter Mann, der gern für sich blieb und nach der Schließung der Zeche gezeigt hatte, dass er immer noch was leisten konnte. Sie fütterten ihn mit Resten, weil sie wussten, dass seine Abfindung ihre Kinder ein Jahr oder länger durchfüttern könnte.
Jinty rief: »Wie könnten ne kleine Party machen. Nur wir drei.«
Agnes starrte in ihre fast leere Tasse und spürte einen Anflug von Panik. Sie nickte.
Jinty war so rasch auf den Beinen wie eine aufgeschreckte Katze. Sie schnappte sich das örtliche Telefonbuch vom Tischchen im Flur, leckte sich die kleinen Finger und blätterte, bis sie zu L kam. Sie las laut vor. »L. L. Lambert. Mister I.« Jinty prüfte die Adresse, sah, dass es Lamby war, und wählte die Nummer. Als das Telefon klingelte, räusperte sie sich. Es war Donnerstagmittag, aber es meldete sich eine Männerstimme.
»Oh, hallo, Lamby«, flötete sie mit ihrer besten Aussprache. »Hier spricht Jinty. Aye, genau … ich wohne auf der anderen Seite der Siedlung. Du kennst sicher meinen John. Ich war früher mit Mhari McClure unterwegs. Aye, genau die.« Sie ließ eine Pause. »Mhari? Ach, die hat zu viel Valium genommen, aye. Ich weiß, ne echte Schande. Dabei isse son süßes Mädchen gewesen. Dat letzte, was ich gehört hab, ist, dasse am Blythswood Square anschafft. Ach ja, ne echte Schande, oder. Aber et is eben was anderes, ob man sich mal nen gemütlichen Drink genehmigt oder sich fürn verschreibungspflichtiges Medikament verkauft, oder? Traurige Sache. Ich weiß noch, wie sie mit dem Valiumquatsch angefangen hat. Aye, dat war schlimm.« Jinty schniefte. »Na ja, ich wollt nur mah eben anrufen, um zu hören, ob du nich Lust hast, aufn kleinen Drink bei meiner Freundin vorbeizukommen.« Sie ließ eine Pause. »Aye, bisschen früh, was? Et is bloß, die is sone schöne Frau, und ich wollt euch schon längst bekannt machen. Aye, Agnes Bain. Aye, genau, sieht aus wie Liz Taylor, nurn bisschen blasser.« Jinty lächelte aufgeregt ins Wohnzimmer und bedeutete Agnes mit einer Geste, sich zu schminken. »Also, kommste? Guut! Ach, Lamby, dat is mir jetzt echt unangenehm, aber könnsten echter Kumpel sein und wat zu trinken mitbringen? Aye. Wir sind hiern bisschen knapp. Aye, sie ist wunderschön. Richtig gepflegt, und sie kann gut reden … Aye, wir machen ne kleine Party. Bring einfach sechs Dosen mit und ne kleine Flasche Härteres. Ach, und natürlich auch was für dich. Nich vergessen, es ist dat Haus nicht weit vonne Ecke.«
Jinty beendete das Gespräch und sagte Agnes, dass er in einer Stunde kommen wollte. Sie begann die leere Zigarettenschachtel und die Dosenringe wegzuräumen. »Hömma, Süße, wenn ich du wär, würd ich mirn bisschen über die Haare bürsten. Die blauen Flecken abdecken. Damitten bisschen appetitlicher aussiehst.«
Mit blanken Nerven warteten sie über eine Stunde, bis Lamby kam. Jinty ließ ihn herein. Lamby setzte sich auf die Sofakante und nestelte wie ein Teenager an seiner modischen Bomberjacke. Agnes sah mit einem Blick, dass alles, was sie in der Siedlung über ihn sagten, stimmte. Jinty stellte die beiden vor und nahm ihm die schwere Plastiktüte aus der Hand.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Agnes«, sagte er durch eine Reihe sauberer Zähne.
Agnes kratzte ihren Charme zusammen. »Nett von Ihnen, uns zu besuchen. Manchmal ist es schwer, sich an einem so traurigen Ort zu amüsieren.«
»Aye, also, ein Kerl wie ich kriegt nicht alle Tage ne Einladung von zwei wunderschönen Frauen«, sagte Lamby. Jinty quiekte vor schmutzigem Vergnügen.
Agnes hatte schon originellere Sprüche gehört. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Ihr seid also nicht verwandt?«, fragte sie. »Ich glaube, ich habe in der Siedlung noch niemand kennengelernt, der nicht durch Blut oder Heirat oder Kinder mit Jinty verwandt war.«
»Nein, ich glaub, meine Ex-Frau hatte irgendwas mit den McAvennies zu tun. Aber ich bin ein O’Hara; die meisten von uns bleiben auf der Marschseite der Siedlung … in den Flachdachhäusern.«
»Ein Wunder, dass den Kindern hier überhaupt Knochen wachsen.«
Lamby lächelte nachsichtig über die Beleidigung. »Na ja. Wahrscheinlich reden deswegen alle über Sie. Frisches Blut und so.«
Jinty zog eine Halbliterflasche Smirnoff aus der Tüte und schenkte einen großzügigen Fingerbreit in jede der drei Tassen. Dann kippte sie einen Schluck orange leuchtende Irn-Bru auf den Wodka. Die Mischung sprudelte und zischte und sah so unschuldig aus wie Gingerale. »Ach, leider kannich nich lang bleiben«, murmelte sie vor sich hin und trank einen großen Schluck.
Lamby rauchte Selbstgedrehte, er bröselte Tabak auf das Papier und leckte die Klebekante mit der rosa Zungenspitze an. »Sie sind mir gleich aufgefallen«, sagte er zu Agnes. »Ich dachte immer, eine wie Sie muss einen Mann haben. Wer so toll aussieht.« Er rollte die erste Zigarette und reichte sie Jinty.
»Es kostet nichts, auf sein Äußeres zu achten …«
»Glücklich geschieden«, unterbrach Jinty. »Die hats gut. Ne Frau kann gut leben, wennse nich jede Nacht son schnarchenden Fettsack neben sich liegen hat. Stimmts nich, Süße?«
»So spricht eine wahre Frau«, sagte Lamby.
Agnes fand, er sah zu jung aus, um zu wissen, wie eine wahre Frau sprach, aber sie hielt die Klappe. Stattdessen trank sie einen tiefen Schluck aus ihrer Tasse. Der Wodka schmeckte sauber, wie Bleiche. Lamby leckte langsam die nächste Zigarette ab. Agnes sah, dass seine Fingernägel sehr sauber waren und seine Ohren und sein Hals rosa leuchteten, als hätte er gerade heiß gebadet.
»Aber es muss doch irgendwas geben, wofür Männer noch gut sind«, sagte er anzüglich.
Offenbar regte er damit Jintys Fantasie an. Sie strampelte mit den kurzen Beinen und kicherte wie ein kleines Mädchen. »Absolut überhaupt nix«, quiekte sie. »Agnes, haste gehört, wie frech der kleine Dreckspatz is? Der denkt wohl, wir wärn von gestern.« Die Hitze des Wodkas ließ die roten Äderchen an ihren Wangen leuchten. »Triffse dich in letzer Zeit mit jemand, Lamby?«
»Aye, pah Mädels«, sagte er und sah Agnes an. »Ich spiel dat Feld. Versuch nichs Großes draus zu machen.« Er zwinkerte ihr zu.
»Och, ihr Männers seid doch alle gleich, oder, Agnes? Schon wennse als Babys auffem Rücken liegen, sinse von ihrm Ding beeindruckt.«
»Und wie isset bei Ihnen?«, fragte er Agnes. »Treffen Sie sich mit irgendwem?«
Aufgeregt rollte Jinty die Knie im Kreis und antwortete für Agnes. »Die!«, quiekte sie. »Die bedient praktisch die ganze Taxizunft im Großraum Glasgow.«
Die beißenden Worte ließen Agnes’ wunden Körper schmerzen. Trotzdem hob sie die Tasse und nahm traurig nickend den Titel an.
Jinty zog die Plastiktüte zwischen ihren kleinen Füßen hervor und setzte gehässig nach: »Wenn du kein Taxifahrer biss, isse nich interessiert.«
»Ach ja?«, fragte Lamby. Er sah Agnes direkt an und runzelte beleidigt die Stirn: »Und wie läuft das so für Sie?«
Wieder unterbrach Jinty. »Die kann nix dafür. Es is wien Fluch! Die muss bloß das Tuckern vonnem Diesel hören, und zack, isse raus außer Unterhose, und schon läufte Taxiuhr.«
Plötzlich war es kalt geworden. Die Luft schien aus dem Zimmer zu weichen, und Agnes’ Gesicht wurde hart wie Glas. Langsam erreichte sie der Alkohol, und die Worte kamen mit einem leisen, drohenden Zischen heraus. »Du bist eine miese kleine hinterfotzige Drecksau, Jinty McClinchy.«
Die Giftspritze unterbrach ihr einfältiges Gegacker. »Och, jetz hab dich nich so. War doch nich so gemeint.« Gierig setzte sie die Tasse an die Lippen, doch ihre kleinen Augen blitzten über dem Tassenrand wie spitze Dolche.
Erschrocken blickte Lamby von einer Frau zur anderen. Es war still. »Hey, also, vielleicht mach ich mich mah besser auffen Weg, oder?«
Jinty kreuzte die Beine vor der Tüte mir den Getränken und beruhigte ihn. »Nee, schon gut, achte einfach nich auf die. Die hat bloßen bisschen Pech gehabt gestern Abend. Du musst unbedingt bleiben. Du musst mir helfen, sie aufzuheitern, ja?«
Agnes schwieg den Rest des Nachmittags. Sie trank, was Jinty ihr vorsetzte, und rauchte die Zigaretten, die Lamby drehte. Er versuchte, alle möglichen Themen anzuschneiden, aber wenn sie die Chance bekam, selbst zu antworten, brachte sie nur ein Ja oder Nein heraus. Als sie bei der zweiten oder dritten Dose waren, hatte Jinty genug.
»Lamby, Junge, ich weiß nich, wat in die gefahren ist«, stöhnte sie verdrossen. »Normalerweise isse ne richtige Partynudel.«
»Schon gut.« Seine Wangen waren genauso rot wie Jintys, und er saß immer noch in seiner Nylonbomberjacke da. Agnes dachte, dass ihm bestimmt zu heiß war; sie fragte sich, ob er sich schämte, dass er keine Frau zu Hause hatte, die ihm ein sauberes Hemd bügelte.
»Aye, aber nich dasse, wennde gehst, denkst, du hätts bei ollen Ommas rumgesessen. Leg mah ne Kassette auf, ja? Wir feiern ne Pahty.«
Lamby beugte sich vor und öffnete Lizzies alten Kassettenrekorder. Er nahm eine der Kassetten von dem Stapel und schob sie in das Fach. »Die hat meine Frau auch gern gehört«, sagte er mehr zu sich selbst.
»Och, watne Stimme die hat. Watne. Stimme!«, rief Jinty zwischen den Zügen an der Zigarette. Sie ließ ihre kleinen weißen Hände zur Melodie in der Luft herumwirbeln. »Lamby, sieh um Himmels willen zu, datt wir dat Häufchen Elend wieder auffe Beine kriegen.«
Er sah Agnes nervös an. »Nee. Lasse in Ruhe. Sie will nich tanzen.« Eine viertel Flasche Wodka und sechs Bier hatten seine Schüchternheit nur wenig gelockert.
»Lady Bain!«, tadelte Jinty wie eine Schuldirektorin. »Dat isne Pahty! Der Mann hat uns wat zu trinken mitgebracht! Jetzt tanz schon mit ihn!«
Agnes sah Lamby an, der so hibbelig wie ein Teenager in der Schuldisco war. Sie schenkte ihm das beste halbe Lächeln, dass sie noch zustande brachte, um ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung war. Auf unsicheren Beinen stand Lamby auf. Er nahm ihre Hände und versuchte sie aus dem Sessel zu hieven, wie ein Klempner einen widerspenstigen Stöpsel aus dem Abfluss zieht. Agnes hatte, seit sie sich morgens in den Sessel gesetzt hatte, nicht mehr gestanden; das Trinken und die Trägheit machten ihre Knie weich, und als sie versuchte aufzustehen, fing er sie auf wie ein langjähriger Geliebter.
»Na also«, quiekte Jinty vergnügt und schenkte sich hinter ihrem Rücken noch einmal die Tasse voll. »Haltse gut fest.«
Sie schunkelten eine Art Rausschmeißertanz, einen ungeschickten Schieber, langsam und altmodisch. Beide hielten sich nur auf den Beinen, weil ihre verschwitzten Körper aneinanderlehnten. Agnes’ Gesicht war nur ein paar Zentimeter von seinem entfernt, und zum ersten Mal fiel ihr auf, dass er sich für die kleine Party rasiert hatte. Sein Hals sah aus wie aufgeschürfte Gänsehaut, und er roch nach Latschenkiefer, ein Aftershave wie Scheuerpulver, ohne einen Hauch von Sinnlichkeit.
»Du kannst richtig toll tanzen.« Seine Stimme war liebevoll. Sie versuchte aufmerksam zu sein und ihm zuzuhören. Aber nur ihr Körper war noch im Raum.
Jinty trank ihre Tasse leer. »Gib ihmen kleinen Kuss!«
»Ich hab seit meiner Scheidung nich mehr getanzt«, sagte er.
»Jetz sei nich so undankbar! Er hat dir den ganzen Schnaps besorgt! Küss ihn!«, rief Jinty.
»Vielleicht könnten wir mal abends ausgehen?«
»Der kommt nicht wieder!«, krähte Jinty.
Agnes war fast fünf Zentimeter größer als der jüngere Mann. Bei dem Altersunterschied hatte sie fast das Gefühl, sie würde mit ihrem Leek tanzen. Sie entdeckte die Narbe auf seiner Wange, vom Ohr bis zum Kinn, wahrscheinlich von irgendeiner Messerstecherei, was nichts Ungewöhnliches war, aber schade an einem so jungen Mann. Mit schwerfälliger Hand berührte sie sie.
»Ah. Hastes bemerkt?«, fragte er unsicher.
»Du siehst aus wie mein Ältester.«
»Jetzt gib ihm schon nen lütten Kuss, verdammt noch mah!«, quiekte Jinty und öffnete die nächste Dose.
Agnes ließ die Hand auf dem Gesicht des jungen Mannes und dachte daran, wie sehr sie ihren ältesten Sohn vermisste. Sie vermisste Leek sogar, wenn er da war; er hatte etwas an sich, das sie immer einsam machte. Lamby legte ihr die Hand ans Gesicht und den Mund auf die Lippen. Jinty jubelte. Agnes spürte, wie er die Lippen öffnete, spürte ihn saugen, spürte seine forschende Zunge. Seine Hand glitt in ihr Kreuz.
»Aber nix machen, watter inne Kirche beichten müsst, ihr beiden.« Vergnügt fächelte sich Jinty McClinchy Luft zu, zufrieden, dass sie sich die Getränke verdient hatte.
Seine Hände, die so wohlerzogen angefangen hatten, begannen lüstern über ihren Hintern zu streichen. Mit knetenden Fingern drückte er auf den blauen Fleck über ihrem Steißbein. Plötzlich musste sie würgen. Sie drehte den Kopf weg, aber es war zu spät. Der saure Inhalt von Lager, Wodka und Irn-Bru ergoss sich über seine modische Jacke.
»Ach, du Scheiße!«, kreischte der Mann, dem wässrige Galle von der Brust triefte.
»Mammy?« Shuggie stand in der Tür.
Agnes sank in den Sessel zurück, schlug sich die Hände vors Gesicht, und heiße, betrunkene Tränen loderten aus ihr heraus. Der Mann sah von der gebrochenen Frau zu dem kleinen Jungen in der Schuluniform zu der Frau, die gerade den restlichen Inhalt der Plastiktüte in ihre große Lederhandtasche schob. Als er sich an Shuggie vorbeidrückte, rief Jinty ihm in den Flur hinterher: »Lamby, Junge! Normalerweise isse ganz anders! Ich ruf dich bald wieder an, dann machenwer nochmah ne lütte Pahty!«
Als die Haustür zuschlug, seufzte die kleine Frau, und dann filzte sie die offenen Zigarettenschachteln auf dem Tisch, sammelte die Reste in ein Päckchen zusammen und ließ es in der Tasche verschwinden. Sie schüttelte die offenen Dosen, und wenn sie es plätschern hörte, kippte sie sich den Rest in die Tasse. Jinty trank die Tasse mit zwei, drei großen Schlucken aus, dann holte sie wieder das geblümte Kopftuch aus der Tasche. »Aye, ich kann leider nich lang bleiben.«