Shuggie hielt sich so fern vom Ball wie möglich. Wenn der Ball über den Schulhof rollte, tat er so, als würde er hinlaufen, aber er sorgte dafür, dass die anderen Jungs ihn immer überholten. Er stand lieber im Schatten der Torecke und sah den Mädchen beim Gummihüpfen zu, wie sich die besten von ihnen anmutig durch die regenbogenfarbenen Gummiseile fädelten.
Plötzlich klatschte es laut und feucht gegen sein linkes Ohr. Der weiche Fußball war ihm unerwartet von der Seite mitten ins Gesicht geknallt. Seine Wange brannte wie nach einer Ohrfeige. Der Ball prallte ab und rollte dem gegnerischen Team vor die Füße, die ihn direkt ins Tor lüpften.
Francis McAvennie blieb neben Shuggie stehen. Er war der älteste der McAvennies, und der Streit zwischen Colleen und Big Jamesy hatte auf ihn die größten Auswirkungen; mit einem Mal war er zum »Mann im Haus« befördert worden, und während Colleen sich mit Bridies blauen Pillen betäubte, musste er sich um seine kleinen Geschwister kümmern. Jetzt kam Francis ganz nah, bis Shuggie den Regen seiner warmen Spucke spürte. »Verdammte Scheiße. Hör auf, sone kleine Scheißschwuchtel zu sein.« Die anderen Jungs rotteten sich wie Straßenköter zusammen, und er sah den Hunger in ihren Augen.
»Willste lieber ein Mädchen sein?« Grinsend breitete Francis vor der Menge die Arme aus. Shuggie schüttelte den Kopf; er wollte sich nur die Hand auf das glühende Gesicht legen. »Hättste lieber ein Röckchen an?«
»Nein«, murmelte Shuggie.
»Widersprich mir nich, Schwuchtel.« Francis, der einen Kopf größer war, gab Shuggie einen Stoß gegen den Brustkorb. »Du bist ne schwule kleine Schwuchtel. Du und Father Barry kommt in die Hölle für dat Zeugs, dat ihr treibt.«
Die Jungs kicherten im Chor, und dann stimmten sie an: Draufhauen, draufhauen, draufhauen. Francis hob die Linke, um Shuggie auf die rote Wange zu schlagen. Shuggie wich zurück, aber es war nur eine Finte, und Francis ließ die andere Faust gegen seine Schläfe krachen. Er drehte sich zu den jubelnden Jungs um. »Den nennt mein Dad den Rattenfänger.«
Shuggie lag am Boden, und sein Kopf dröhnte von beiden Seiten. Über ihm tauchte ein nacktes Paar Beine in ausgeleierten weißen Socken auf. Das Mädchen fauchte wie eine Katze, und ihr langes Haar erinnerte an einen Fluss sprudelnder Limonade. »Lass dat sein, Francis, du arschiger Klopper! Komm her und versuch die Nummer bei mir, dann lass ich dich kurz und klein hauen. Ich hab viel mehr Vettern als du.« Dann wirbelte das Mädchen herum, um Shuggie zu helfen. Shuggie sah, wie ihr die Jungs hinter ihrem Rücken den Finger zeigten, aber sie trollten sich trotzdem.
Sie hatte Schorf an den nackten Knien, und Shuggie konnte den Blick nicht von den schlaffen Bündchen ihrer Socken lösen. Als sie ihm die Hände unter die Achseln schob und ihn auf die Füße zog, sah er den geblümten Zwickel ihrer Unterhose unter ihrem Rock. »Du musst zurückhaun«, sagte sie. »Ich wette, wenn du ihm einmal eine draufhaust, hackter nich mehr auf dir rum.« Shuggie wusste nicht, welche Seite seines Gesichts er sich zuerst reiben sollte. »Musste heulen?«, fragte das Mädchen. Shuggie nickte. »Machs noch nich jetz, halts zurück, bis wir umme Ecke sind. Da kannste heulen. Ich sags auch niemand.«
Als sie ihn vom Pausenhof wegführte, kletterten die Jungs aufs Geländer, um auf sie herunterzuspucken. »Na, geht ihr Puppen spielen?«, fragte ein rothaariger Junge. In null Komma nichts war das Mädchen oben auf dem Zaun. Sie packte ihn an der Schulkrawatte und riss seinen Kopf gegen die dicken Metallstäbe. Dröhnend knallte seine knochige Stirn gegen das rostige Eisen. »Lauf!«, quiekte das Mädchen. Sie rannten in einer Staubwolke los und wurden nicht langsamer, bis sie den halben Hügel nach Pithead hinauf waren.
Als sie nach Luft schnappten, prustete das limonadenhaarige Mädchen los; sie hatte eine Lücke zwischen den Schneidezähnen, durch die ein kleiner Finger passte. Ihre Nase war voller Sommersprossen, und ihre Augen waren so blau und glänzend wie Murmeln.
»Hast du wirklich genug Vettern, um gegen die McAvennies zu kämpfen?«, fragte Shuggie, der immer noch mit den Tränen rang.
Sie schüttelte den Kopf. »Nee. Wir sind nur mein Dad und ich. Und der würd sich höchstens um die Fernbedienung kloppen, mehr nich.« Sie zuckte die Schultern. »Ich bin Annie. Ich bin ein Jahr über dir.«
»Oh. Ich hab dich noch nie gesehen.«
»Aber ich hab dich gesehen. Dich sieht jeder.« Annie zeigte zur Kuppe des Hügels, wo ein paar Wohnwagen zu einer behelfsmäßigen Sackgasse aufgestellt waren. »Wir wohnen da oben im Wohnwagen. Ich bring dich nach Hause. Wenn ich dabei bin, krümmen die dir kein Haar.« Sie blähte die dürre Brust. »Wo wohnst du?«
Shuggie wollte gerade in Richtung der niedrigen Reihenhäuser zeigen, aber dann ließ er die Hand sinken. Agnes war bestimmt betrunken. Bestimmt saß sie am Telefon und versuchte, seinem Vater über den Taxifunk die Hölle heißzumachen. »Ich will noch nicht heim.«
»Heute is doch Donnerstag«, sagte Annie weise. »Dat Schnapsgeld is sicher schon weg, oder?«
Shuggie blinzelte das Mädchen an. »Woher weißt du das?«
Sie hakte sich bei ihm ein. »Ich habse mah kennengelernt. Deine Ma. Einmal saße nacher Schule bei uns auffem Sofa. Ich hab noch nie jemand gesehen, der so schön geredet hat.«
»Ich hoffe, sie hat keinen Ärger gemacht.«
»Nee, gar nich. Sie hat so gut gerochen. Sie hat mir gezeigt, wie man einen französischen Zopf flechtet.« Ihre Miene wurde finster. »Ich bin bloß wütend wegen dem schlimmen Gerede über sie. Du solltest für sie kämpfen.«
»Ich kämpfe ja für sie!«, sagte er. »Hauptsächlich mit ihr, aber es ist trotzdem ein Kampf.«
Das Mädchen seufzte resigniert. »Meinen lass ich einfach machen. Wenn mein Daddy sich zu Tode saufen will, isses seine Sache. Ich glaub, er is verloren. Er vermisst meine Ma.«
»Ist sie tot?«
»Irgendwie schon. Sie wohnt in Cambuslang mit meinen kleinen Brüdern und einem halbprofessionellen Fußballspieler.« Sie marschierten auf die Wohnwagen zu. »Aber im Ernst, ihr müsst euch wehren. Ich hab gehört, wie die Leute sagen, sie verkauft sich für wat zu trinken, und dass dun Daddy brauchst, und es wär ihre Schuld, dass du so bist, wiede bist.« Das Mädchen sah versonnen in den Himmel. »Aber ich hab noch nie sone schöne Dame gesehen. Wenn sie meine Ma wär, wär ich richtig stolz.«
Die zwölf Wohnwagen bildeten einen Halbkreis, und der holprige Lehmweg war notdürftig mit schweren Feldsteinen begrenzt. Aus den Blechbehausungen quoll jede Menge persönlicher Plunder, und auf dem Weg lagen Plastikspielzeug und durchgeweichte Möbel. Die Schamlosigkeit dieses Elends schockierte Shuggie. Annie stieg über zwei Betonziegel zu einem beigen Wohnwagen hinauf. Vor der offenen Tür lag ein großer brauner Schäferhund. Shuggie folgte ihr zögernd, machte einen vorsichtigen Bogen um den wachsamen Hund und presste ängstlich die Schultasche an die Brust. Der Wohnwagen war lang und schmal und hatte eine Küchenzeile in der Mitte und einen hufeisenförmigen Essplatz an einem Ende. Ein Farbfernseher hing in einer Halterung von der Decke; mit schneller, abgehackter Stimme verkündete er die Ergebnisse der Pferderennen. In der flachen Spüle stapelte sich schmutziges Plastikgeschirr. Shuggie sah ein paar Ameisen, die fleißig zwischen verschütteten Cornflakes umherliefen.
»Dad! Ich bins«, sagte Annie.
Shuggie konnte den Mann in der abgedunkelten Essecke kaum erkennen. Er beugte sich tief über die Zeitung und unterstrich mit einem Kuli die Namen der Pferde. »Haste wat gegessen?«, fragte Annie. »Ich könnt dirne Schüssel Cornflakes machen. Wennde willst, mach ich dir sogar die Milch warm?«
Der Mann mit den wässrigen Augen antwortete nicht. Shuggie sah, dass er aus einer alten Teetasse trank und sich wieder auf die Ergebnisse der Pferderennen konzentrierte. Shuggie versuchte, sich nicht seine Mutter hier vorzustellen.
Annie öffnete eine dünne Tür zum hinteren Teil des Wohnwagens und schob den Jungen hinein. Das Schlafzimmer sah aus wie ein rosa Märchenschloss. In dem ordentlichen kleinen Raum standen zwei schmale Betten, jedes mit einer Disney-Prinzessinnen-Decke, und an den Wänden waren schmale Regalbretter angebracht, auf denen Dutzende bunter Regenbogen-Ponys thronten. Das Zimmer war blitzsauber.
»Tut mir leid wegen dem Chaos«, sagte Annie und ließ sich auf den rosa Teppich in der schmalen Lücke zwischen den Betten sinken. »Ich versuch, den Haushalt zu machen, aber es is schwer, wenn er so entschlossen ist, den ganzen Tag in seim eigenen Dreck zu hocken.« Sie klopfte neben sich auf den Boden, und Shuggie quetschte sich in den engen Spalt. »Wat macht deine Ma, wennse blau ist? Wirdse dann auch so stumpf?«
»Nein, sie betrinkt sich schrecklich, und dann wird sie schrecklich wütend«, sagte er. »Ich mach mir Sorgen, dass sie sich was antut.«
»Du meinst, sich umbringt?«
»Wahrscheinlich. Manchmal, vor der Schule, verstecke ich alle Pillen im Bad. Ich weiß, dass mein Bruder jeden Tag seine Rasierklingen mit zur Arbeit nimmt.« Er fuhr mit den Fingern durch die rosa Teppichfransen. »Aber meistens hab ich bloß Angst, dass sie alles immer noch schlimmer macht. Sie verliert ihren Stolz. Die Leute wollen nichts mehr mit ihr zu tun haben. Wegen ihr wohnt meine Schwester eine Million Kilometer weg in Afrika. Mein großer Bruder versucht Geld zu sparen, damit er auch abhauen kann.«
Annie griff unter das Bett und öffnete ein altes Ausmalbuch. Shuggie war enttäuscht, als er sah, dass sie zwar die richtigen Farben benutzte, aber immer über die Linien kritzelte. »Alse die Zeche stillgelegt ham, musst ich hierbleiben und mich um meinen Dad kümmern«, sagte sie. »Meiner ollen Ma war alles piepegal.« Sie blätterte durch das Buch. »Wollen wir wat ausmalen?«, fragte sie abrupt.
Shuggie schüttelte den Kopf. Er konnte den Blick nicht von den Regalen mit den regenbogenfarbenen Ponys abwenden, die fröhlich auf sie heruntersahen.
»Willste mit meinen Pferden spielen?«, fragte Annie. Sie beobachtete ihn, aber er schüttelte den Kopf und versuchte sich desinteressiert zu geben. »Die schickt meine Ma mir immer an Weihnachten und Ostern. Manchmal schickt sie mir dauernd das Gleiche, daran merke ich, wie egal es ihr is.«
Annie sprang auf eins der schmalen Betten. »Hier, dem hat deine Ma einen Zopf geflechtet.« Sie gab Shuggie ein himbeerrotes Pony. Seine Mähne und sein Schweif waren aus langem lila Plastikhaar, beide ordentlich geflochten und mit Schleifen versehen, die aus den Verschlussklemmen von Brottüten gemacht waren. Annie sammelte eine Handvoll anderer Ponys ein und hüpfte vom Bett zurück auf den Boden. Die Ponys waren kunterbunt, mit langen gemalten Wimpern und einem glücklichen Lächeln. »Du bist Butterscotch, Cottoncandy und Blossom. Ich bin Bluebelle, weil die mein Lieblingspony is. Die anderen wollen ihr immer die schönen Haarspangen klauen, aber sie is zu schnell.«
Die Plastikponys sahen zwar eher aus wie aufgeblasene Hündchen, aber für Shuggie waren sie ein Wunder. Annie ließ ihn den ganzen Nachmittag mit den Ponys spielen. Sie redeten mit hohen, künstlichen Stimmen und ließen sie über die Bettdecken galoppieren. Sie striegelten ihre Mähnen mit winzigen Bürsten, bis das Plastikhaar elektrisch strahlte.
Irgendwann begann das Ponyspiel Annie zu langweilen, und sie wurde rastlos, ungeduldig. Sie schob einen dünnen Arm in die Dunkelheit unter dem Bett. Unter den rosa Rüschen holte sie eine Austernschale hervor, die als Aschenbecher diente und randvoll mit Asche war. In der Asche lagen zwei oder drei halbgerauchte Kippen. Annie schob das Wohnwagenfenster auf, zündete sich eine krumme Zigarette an, nahm einen flachen Zug und blies den Rauch durch den Fensterspalt. Sie nickte in Richtung ihres Vaters. »Tut mir leid, bei mir liegen die Nerven blank.«
Sie bot Shuggie die feuchte Kippe an. Er schürzte die Lippen und schüttelte säuerlich den Kopf. Annie zuckte die Schultern und rutschte mit einem Rumms auf den Boden, die Zigarette zwischen die Zähne geklemmt.
Shuggie ließ Cottoncandy über ein Kassettenhindernis springen und Bluebelle hinterherjagen, als Annie aus heiterem Himmel fragte: »Haste wirklich Johnny Bells Pimmel angefasst, Shuggie?«
Bei der Erinnerung an Bonny Johnny, den Jungen aus der Waschmaschine, fingen die schmerzenden Beulen in seinem Gesicht wieder an zu glühen. Plötzlich wollte er das Spielzeug des Mädchens fallen lassen, von sich wegstoßen, als wären sie der Beweis für die schmutzigen Dinge, die er getan hatte. »Nein«, log er.
»Wie hat es sich angefühlt?«, fragte sie unbeirrt. Die Zigarette hing in ihrem Mundwinkel, als sie die Flanke des Ponys mit sternförmigen Aufklebern verschönerte. Sie tat es mit routinierten, gelangweilten Handgriffen, so träge wie eine Gewerkschafterin.
»Ich hab gesagt, ich habs nicht gemacht.«
Sie kniff das linke Auge zu, damit kein Rauch hineinkam. »Na ja. Dat würd ich auch sagen. Aber ich hab auch schomman Pimmel angefasst. Den von den O’Heany-Jungs und den von Fran Buchanan.«
»Aber du bist doch erst neun!«, sagte Shuggie. Er rückte weg von den Ponys. »Die sind schon in der großen Schule.«
»Ich bin zehn drei Viertel.« Annie atmete eine lange Rauchschwade aus und formte sie zu einem perfekten, eleganten Kringel. »Die ham mich mit zu den alten Fördermaschinen genommen und ham mir Buckfast zu trinken gegeben.«
»Hast du es Father Barry nicht gesagt? Die Polizei würde die für sowas ins Gefängnis stecken.«
»Nein.« Sie drückte die Kippe aus und legte den Kopf zurück aufs Bett, jetzt war sie entspannter. »Aber es wars nich wert. Buckfast schmeckt total eklig.«
Ihre Gleichgültigkeit schockierte Shuggie. Er musste wieder an seine Mutter denken, hier, in dieser Blechbüchse, mit Annies Vater und seinen Nikotinfingern. Er wusste, dass Agnes es hier grässlich finden würde, und trotzdem war sie hier gewesen. Zorn stieg in ihm auf. »Warum hast du das getan?«, schrie er Annie an. »Warum lassen Mädchen Jungs immer ihren Willen haben?«
Ihr lila Pony war in zierlichen Kreisen herumstolziert. Jetzt rutschte Annie von den Spielsachen weg, und zum ersten Mal an diesem Nachmittag war sie sprachlos.
Draußen fing der Schäferhund an zu bellen. Shuggie spürte den ganzen Wohnwagen wackeln, als der Hund aufsprang und die Stufen herunterstürzte. »Ach, verdammte Scheiße. RAMBO! Rambo!« Annie schwang sich über das Bett und stürzte aus dem winzigen Schlafzimmer. Im Halbkreis der Wohnwagen war die Hölle los, als der Schäferhund sich auf einen anderen Hund stürzte und die beiden bellend mit gebleckten Zähnen miteinander kämpften.
Shuggie wollte nicht mehr hier sein. Er wollte nicht so tun, als wäre es okay, mit Mädchenspielzeug zu spielen oder die schmutzigen Teile von Jungs in der Oberschule anzufassen. Er wollte nicht wie das Limonadenmädchen sein. Er wollte nicht wie Agnes sein. Er wollte normal sein.
Er stand auf und nahm seine Schultasche. Annie brüllte Rambo an, den anderen Hund loszulassen. Aus dem Fernseher knatterten die Wettergebnisse. Shuggie wollte nicht daran denken, dass Agnes hier gewesen war, er wollte nicht daran denken, wie der nikotingelbe Mann sie begrapscht hatte und wie sie für eine warme Dose Special Brew Annies Haar geflochten hatte.
Es machte ihn wütend, und deshalb öffnete er die Schultasche und steckte zwei Ponys hinein.
Jeden Tag vor dem letzten Klingeln verknotete sich Shuggies Magen, und er meldete sich und bat höflich, entschuldigt zu werden. Father Ewan mit dem teigigen Gesicht verfluchte den kleinen Jungen innerlich, dessen Verdauung so pünktlich zu funktionieren schien wie ein Uhrwerk. Erst versuchte er ihm abzuverlangen, die letzten fünfzehn Minuten auszuhalten, bis die Schule aus war. Shuggie, stets gehorsam, nickte mit verzerrtem Gesicht und saß zur Seite gekrümmt da, als ob es wirklich dringend wäre. Nach kurzer Zeit begannen seinen Zuckungen und sein Herumrutschen die anderen Kinder abzulenken, und schließlich gab der Lehrer nach.
Später im Lehrerzimmer machte der weichherzige Priester Witze darüber, was die Bergmannsdiät aus gekochtem Kohl und Hackfleisch dem Klerus antat. Der höfliche kleine Junge, der Einzige, der den Unterschied zwischen darf ich und kann ich kannte, bekam an so gut wie jedem Tag des Schuljahrs pünktlich um Viertel nach drei Krämpfe. Father Ewan konnte die Uhr danach stellen.
Also verbrachte Shuggie die letzten Minuten jedes Schultags auf der niedrigen Kloschüssel. Zur Sicherheit zog er die Hosen herunter, aber er wusste inzwischen, dass es nur Verstopfung war. Es war die ätzende Galle der Sorge, die wachsende Angst davor, was ihn zu Hause erwarten mochte.
Agnes war schon häufig trocken geworden, aber die Krämpfe waren nie ganz weggegangen. Ihre Phasen der Nüchternheit waren flüchtig und unvorhersehbar für Shuggie, und er konnte sie nie wirklich genießen. Wie bei jedem guten Wetter wartete danach nur umso mehr Regen. Shuggie zählte die Tage schon lange nicht mehr. Ihre Nüchternheit in Tagen zu messen, war, als würde man einem schönen Wochenende beim Verrinnen zusehen: Wenn man hinsah, war es immer zu kurz. Deswegen hatte er zu zählen aufgehört.
An die eigentliche Veränderung erinnerte sich der Junge nicht.
Er konnte nicht sagen, zu welchem Zeitpunkt die Krämpfe aufhörten und die Dinge anders wurden. Er erinnerte sich, wie er eines Freitags im November von der Schule kam und wie immer vor dem Haus stehen blieb. Jedes kleine Detail war ein Hinweis darauf, was sich im Innern des Hauses tat. Heute waren die Vorhänge wegen der Kälte zugezogen, und die Lichter brannten. In seinem Magen regte sich Hoffnung. Shuggie öffnete die Haustür einen Spalt, weit genug, um dem Summen des Hauses zu lauschen. Er wusste, worauf er horchen musste. Heulen und Jammern kündigten einen schlimmen Abend an; sie würde ihn an sich drücken und ihm böse Geschichten von all den Männern erzählen, die sie kaputt gemacht hatten. Wenn er Countrymusic und traurigen Gesang hörte, begann ihm gleich die feuchte Wärme von Scheiße in die Unterhose zu rinnen.
Die Stimme seiner Mutter am Telefon war nicht immer ein schlechtes Zeichen. Er musste in den Windfang treten, das Ohr an die kalte gemusterte Glastür pressen und die Luft anhalten, um ganz genau hinzuhören. Sie musste nicht weinen oder schreien oder lallen, um betrunken zu sein. Manchmal war sie es trotzdem. Dann war sie überhöflich, setzte ihren falschen Milngavie-Akzent auf und benutzte lauter vielsilbige Ausdrücke. Sie bleckte die Schneidezähne und verwendete Wörter wie selbstverständlich und bedauerlicherweise.
Das waren die schlimmsten Anzeichen. Agnes beklagte ihre Verluste, aber sie war noch lange nicht hinüber. Dann ließ sie Shuggie sich zu ihr setzen und erzählte ihm wieder ihre Geschichten, nur dass sie wütend, nicht traurig war. Mit einem Päckchen halbgerauchter Zigaretten bei der Hand ließ sie den Finger über die Seiten des Telefonbuchs wandern und zwang Shuggie, die Nummern zu wählen, die sie vorlas.
»Fünf-fünf-vier, sechs-drei-drei-neun.«
Mit dem Hörer in der Hand lauschte der Junge dem Drring-drring und hoffte, dass niemand antwortete. Wenn sich am anderen Ende eine Stimme meldete, wurde er aschfahl.
»Hallo?«, sagte der Fremde.
»Oh. Hallo. Entschuldigen Sie vielmals, wenn ich störe.« Agnes nickte billigend in ihrem Sessel. »Ich suche nach jemandem namens Mister Cam McCallum?«
»Wen?«, fragte die Stimme.
»Cam McCallum«, wiederholte der Junge. »Er hat zwischen 1967 und 1969 in Dennistoun gewohnt. Er war Busfahrer im East End, die Linie zwischen George Square und Shettleston. Er hatte eine Schwester namens Renée, die einen Mann namens Jock geheiratet hat.«
Verwirrt von den seltsam detaillierten Informationen, antwortete die Stimme: »Tut mir leid, Junge, hier gibt’s keinen Cam McCallum, der hier wohnt.«
»Ich verstehe. Vielen Dank, Sir. Entschuldigen Sie vielmals die Störung.« Aus dem Wohnzimmer zischte Agnes angewidert und zwang ihn, den nächsten McCallum im Telefonbuch anzurufen.
Noch schlimmer war es, wenn Agnes fand, wen sie suchte. Der Mann am anderen Ende würde sagen: »Wer is da? Ich bin Cam McCallum. Wat is los?«
Dann wurde dem Jungen schwer ums Herz. »Ah, ich verstehe. Würden Sie bitte einen Moment warten, Mister McCallum? Ich stelle Sie durch.«
Agnes’ Brauen wanderten ungläubig nach oben. Ist er das? Der Junge hielt die Sprechmuschel zu und nickte. »Also gut«, sagte sie und griff nach ihrer Tasse Lager und einem neuen Zigarettenpäckchen. Shuggie reichte ihr wie eine ergebene Sekretärin das Telefon, und Agnes richtete sich das Haar, als könnte Mr McCallum sie durchs Telefon sehen. Mit einer frischen Zigarette zwischen den langen Fingern hielt sie sich den Hörer an den Mund.
»Duuu Scheißkerl«, zischte sie zur Einleitung.
»Hallo? Wer ist da?«, sagte der Mann.
»Duuu dreckiger beschissener Hurenbock von einem Scheißkerl.«
Irgendwann legte der Mann einfach auf. So war es immer. Agnes nahm einen langen Zug an der Zigarette und einen langen Schluck aus der alten Teetasse. Sie drückte auf die Wiederwahltaste und lächelte, während sie schnell verbunden wurde.
»Du legst nicht auf, wenn ich mit dir rede. Wage es nicht aufzulegen, wenn ich mit dir rede!«
»Wer ist denn da, Herrgott noch mal?«
»Glaubst du, damit kommst du durch? He? Die Sachen, die du dem jungen Ding angetan hast? Du widerliches Schwein. Du besitzt keinen Funken Anstand, oder?«
Cam McCallum legte wieder auf, und falls er schlau war, hängte er das Telefon aus. Agnes ließ den Finger über die Einträge im Telefonbuch gleiten, als wäre es eine Speisekarte, und suchte hungrig nach dem nächsten Happen. Das Alphabet führte sie zum nächsten Mann, der ihr etwas angetan hatte. Brendan McGowan. »Warte nur, bis ich dir von dem Scheißkerl erzähle«, sagte Agnes zu Shuggie, den Hörer unters Kinn geklemmt. »Mich zu verlieren, war der größte Fehler seines Lebens.«
Manchmal saß sie am Telefontisch, bis es dunkel wurde, und dann saß sie im Stockdunkeln da. Das glühende Ende der Zigarette war ihr einziges Licht. Shuggie saß vor dem Heizstrahler und lauschte ihrem Geifern. Er wagte es nicht, Licht anzumachen, hoffte, die Dunkelheit würde sie beruhigen, fürchtete, die Lampe würde sie zu ihm locken wie eine Motte.
Mit all diesen Szenarien im Kopf schlich Shuggie angespannt von der Schule nach Hause, lauschte vorsichtig an der Glastür und hoffte, dass sie weder weinte noch Countrymusic hörte, noch streitlustig am Telefon saß. Selbst das Summen von Stille konnte ihm den Magen umdrehen. Einmal hatte er ihm geglaubt, dem ohrenbetäubenden Zischen des Nichts. Er war ins Haus geschlichen, um besser hören zu können, hatte es für ein gutes Zeichen gehalten und die Deckung sinken lassen. Agnes hatte dagesessen, auf dem Küchenboden, in ihrem engen schwarzen Rock und dem guten Wintermantel. Sie kniete, als würde sie beten, doch ihre Handrücken lagen schlaff auf dem Linoleum, und ihr Kopf steckte tief in dem großen weißen Ofen. Der Klang des Nichts war ein Trick gewesen. Das Zischen des Nichts war bloß das giftige Gas, das sie davontrug.
Seitdem traute er der Stille nicht mehr.
Das beste Zeichen war geschäftiges Klappern in der Küche, das Gluckern und Rumpeln der Waschmaschine, Metalllöffel in der Spüle und das Brodeln von Suppe in großen Töpfen. An solchen Tagen stand er glücklich im Flur und wischte das Kondenswasser vom Strukturputz der Wand, bis sie ihn dort fand, betäubt vor Glück, mit den Fingern nasse Muster auf den Gips malend.
Bis auf die McAvennies kamen die schlimmsten Schulhofrowdys aus Familien, wo die Väter noch Arbeit hatten. Ihre Lunchpakete waren in der Mikrowelle zubereitet oder paniert, in Alufolie gewickelt und einzeln portioniert. Ihre Eltern waren jünger, und sie durften essen, worauf sie Lust hatten, wann sie Lust hatten. Sie hänselten die Kinder, die Eintopf und Hack dabeihatten, hielten sich die Nase zu und behaupteten, sie würden nach Kohl stinken. Wenn sie Shuggie damit aufzogen, drückte er das Gesicht in die Armbeuge seines Schulpullovers und atmete tief durch die Nase ein. Gekochter Kohl und Eisbein, Kartoffeln und Lammhack, für ihn waren es tröstliche Gerüche, und er schätzte sich glücklich, wenn sie an ihm hingen.
An manchen Tagen kam er nach Hause und hörte mehr als eine Stimme. Dann schlich er sich langsam an, bis er ganz sicher wusste, wer es war. Die netten Leute kamen schon eine Weile nicht mehr zu Besuch. Je länger seine Mutter in Pithead lebte, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Besuch ein schlechter Mensch war.
Zu den schlimmsten gehörten die Zechenonkel, nervöse, zuckende Männer mit dünnem Haar, das immer nass wirkte. Sie kamen vorbei, um zu sehen, wie seine Mutter ohne Mann im Haus zurechtkam. Sie brachten Schokolade und Plastiktüten voller Bierdosen mit und behielten im Haus die Jacke an.
Shuggie wusste, dass er, wenn er von der Schule kam, ihre bösen Hoffnungen störte. Hin und wieder heuchelte einer der Onkel hohles Interesse an dem Jungen, weil er es darauf anlegte, die Füße längerfristig unter Agnes’ Klapptisch zu stellen, schob ihm über den vollgeaschten Tisch eine Tafel Schokolade hin und fragte: Wie es so in der Schule lief? Spielte er denn nicht gern draußen?
Als Shuggie größer wurde, fragten sie nicht mehr und grinsten ihn auch nicht mehr mit ihrer Heuchlermiene an. Jetzt, mit zehn, sahen sie beinahe einen Mann in ihm und warfen ihm finstere Blicke zu, die ihm klarmachten, dass Shuggie ihre schmutzigen Pläne durchkreuzte.
Falls noch ungeöffnete Bierdosen da waren, zwang Agnes Shuggie, sich neben die Männer auf die Couch zu setzen. Dann lehnte sie sich zurück und beobachtete blinzelnd durch den Zigarettenrauch, wie die Männer unbehaglich herumrutschten. Zwischen Schlucken an ihrer Tasse musterte sie die beiden, als wären sie Vorhänge und eine Tagesdecke, und Agnes versuchte, ein passendes Set zu finden. Sie erzählte den Männern, wie schlau ihr Hugh war oder wie gut in der Schule. Sie hörten zu und nickten, während ihr Plan, seine Mutter am Nachmittag zu besteigen, den Bach runterging. Manche hatten viel Geld ausgegeben, um Agnes auf den richtigen Pegel der Fügsamkeit zu bringen. Und jetzt funkte ihnen ein trotteliger verschwitzter Scheißer dazwischen, der nach der Schule Zeichentrickfilme sah.
Die Onkel, die wiederkamen, lernten ihre Lektion; sie brachten billige Fußbälle mit, Plastikdrachen, lauter Spielzeug für draußen. Die richtig Verzweifelten gaben ihm eine schmierige Handvoll Münzen und sagten: »Geh mah ne Stunde ins Kino.« Shuggie sah die klammen Männer ausdruckslos an, ließ die schmierigen Münzen wie ein Schaffner in die Schultasche fallen, bedankte sich artig und stellte den lauten Fernseher an.
All das passierte natürlich nur, wenn sie bei Shuggies Rückkehr von der Schule noch im Wohnzimmer saßen. Waren sie schon im Schlafzimmer, bekam der Junge kein Geld, und keinen interessierte, was er werden wollte, wenn er groß war.
So schlimm die Onkel waren, sie waren wenigstens nur an seiner Mutter interessiert. Für Shuggie waren die Tanten, die vorbeikamen, noch schlimmer. Es war, als hätten Agnes’ schlimmste Eigenschaften Gesellschaft gefunden. Dann musste Shuggie für zwei Frauen den Babysitter spielen, wenn sie sich besinnungslos tranken und herumkrakeelten, sich über den Aschenbecher gebeugt die letzten Kippen teilten und die Männer verfluchten, die Schuld an all dem Elend hatten. Anders als die Onkel redeten und redeten und redeten sie.
Wie verwilderte Katzen standen die Zechentanten mit den eingefallenen Gesichtern fast täglich morgens vor der Tür. Sie schafften es sogar nach fünf trockenen Tagen, Agnes wieder zurück zur Flasche zu bringen. Es war, als würden sie Agnes’ Entzugserscheinungen von der anderen Seite der Siedlung riechen, und dann standen sie morgens um neun mit einer Tüte voll billigem Alkohol vor der Tür. Falls Agnes noch die Entschlossenheit besaß, nüchtern zu bleiben, setzten sie sich in ihr Wohnzimmer und tranken vor ihrer Nase. Elend brauchte Gesellschaft, und früher oder später wanderte Agnes’ Blick gierig zu der Plastiktüte zu ihren Füßen.
Wenn Shuggie zu Hause war, ließ er die Frauen nicht herein. Sie standen schon vor dem ersten Postboten mit ihren schweren Tüten da. Vor der Tür sahen sie beinahe aus wie brave Leute, aber er wusste es besser. Viele Male hatte er versucht, sie höflich die Stufen hinunterzuschieben. Er schloss die Tür ab, doch sie riefen durch den Briefkastenschlitz. »Is deine Mammy nich da?«, bettelten sie. »Ich wollt doch nurne lütte Tasse Tee mitse trinken.« Am liebsten hätte er ihnen durch den Briefkastenschlitz eine Gabel ins dünne Gesicht gestoßen, wenn Agnes mit schlotternden Knochen im Haus lag und ihre Eingeweide nach einem Schluck warmem Bier schrien.
Irgendwie schafften sie es immer herein, wie ein kalter Luftzug.
Morgens warteten sie auf das Läuten der Schulglocke, um sicher zu sein, dass er weg war. Wenn er nachmittags um vier durch die Tür geschlichen kam, grinsten sie ihn triumphierend an.
Tante Jinty war von allen die schlimmste. Wenn er von der Schule kam, triezte sie ihn, bis sie einen Kuss kriegte. Der Junge spürte ihre warme Zunge auf der Wange wie ein Stück zähes Suppenfleisch. An schwülen Tagen zwang Agnes ihn, der kleinen Frau die verhornten Füße zu massieren. Jahre des Trinkens hatten ihr Gesicht aufgezehrt, aber vor Vergnügen spannte ihre Haut noch straffer über den Knochen, wenn sie mit den verhärmten kleinen Füßen genüsslich in der braunen Strumpfhose wackelte. Sie gab ihm nie Geld.
Jinty hasste Shuggie, weil er Agnes ein schlechtes Gewissen machte, wenn er da war, und sie hin und wieder seinetwegen für eine Weile trocken wurde. Ohne ihn hätten sie die Ufer der Nüchternheit endgültig hinter sich lassen und für immer auf die hohe See des Special Brew hinaussegeln können.
»In welche Klasse gehste jetzt?«, fragte Jinty einmal, als sie sich von ihm die Füße massieren ließ.
»In die fünfte«, sagte Shuggie, ohne sie aus den Augen zu lassen.
Sie sah seine Mutter an; sie trug immer noch ihr Kopftuch. »Na ja, bisschen spät jetzt, Agnes, aber ich glaube, es ist noch nich zu spät.«
»Zu spät wofür?«, fragte Shuggie, während er ihre Hühneraugen rieb.
»Dass du auffe Schule von unser Louise gehst.«
Der Junge sah empört auf; er blinzelte mit den langen Wimpern und zog die Brauen zusammen. »Aber Louise ist doch bekloppt.« Als er es aussprach, wusste er, dass es nicht nett war.
Jinty zog den Fuß aus seiner Hand und beugte sich auf dem weichen Sofa vor. Sie bohrte ihm den knochigen Finger in die Brust. Sie hatte eine Beule im Gesicht, und Shuggie wusste, dass ihr Mann sie schlug. Agnes hatte es ihm erzählt. Beim Sprechen sah ihre geschwollene Unterlippe aus, als würde sie gleich platzen. »Unser Louise hat Förderbedarf, und in ihrer Schule halten sie Esel. Gips an deiner Schule Esel?«
»Nein.«
»Siehste? Ich finde, du wärst an ihrer Schule besser dran, weilse da Esel haben.« Zufrieden trank sie ihr schaumiges Bier.
»Mammy, sag ihr, dass ich kein Depp bin. Ich muss nicht zur Eselschule.« Seine Stimme klang weinerlich und kippte fast. Er ließ Jinty nicht aus den Augen.
Agnes hatte die Augen geschlossen, und die brennende Zigarette rutschte ihr langsam aus der Hand. Bier regnete in großen Tropfen auf ihren Schoß. Jinty witterte ihre Chance und fuhr mit einem falschen Lächeln fort. »Da gips noch lauter andere Kinder wie dich. Du findest viele Freunde und kriegst auch noch zwei gute warme Mahlzeiten an Tag.«
»Ich hab Freunde«, log er.
»Das wärn großes Abenteuer, weil du da übernachten darfst und erst freitagabends übers Wochenende heimkommst.«
Shuggie hatte den Förderbus gesehen, der Louise freitagabends in Pithead absetzte. Er hatte gesehen, wie die McAvennie-Jungs Steine auf den Bus warfen, wenn er vorbeifuhr. Er kannte Louise vom Sehen, sie war so still wie Leek. Er hatte auch gesehen, dass sie sonntags glücklicher aussah als freitags.
»Hömma, es is echt gut da. Da biste nicht mehr so anders als die andern.« Jinty sah Agnes an, die in den geräuschvollen Schlaf eines alten Mannes abdriftete. »Dann isset abgemacht, oder, Agnes?« Sie gab seiner schlafenden Mutter einen Schubs. »Morgen ruf ich an und sag denen, dasse Shuggie gleich zu unser Louise inne Klasse stecken sollen.« Jinty hob wieder das Bein und drückte den Fuß auf Shuggies Schoß.
Shuggie wusste, dass Louise eigentlich nur ein bisschen langsam war; die Vernachlässigung war schuld, dass sie so seltsam und in sich gekehrt und immer einen Schritt neben dem Takt war, was in Pithead schon als komisch durchging. Doch in der Förderschule war Louise während des ganzen Schuljahrs weg, so dass sich Jinty voll und ganz ihrem Lieblingskind widmen konnte, Stella Artois Pilsner.
Agnes sagte später, bis sie begriff, was los war, hatte Shuggie Jinty bereits zu Boden gerissen, und die Schließe ihres Christopherus-Medaillons war kaputt. Als Leek fragte, was passiert sei, erinnerte sich Shuggie nur noch, wie er Jintys großen Zeh gedreht hatte, bis es knackte; er hatte so lange gezogen, bis ihr Knie nachgab und sie kreischend vom Sofa fiel. Danach, sagte Shuggie, war alles weg; es war, als ob er alles durch ein Fernglas sah, aber von der falschen Seite.
Wie gewohnt lauschte Shuggie an der Haustür. Als er durch den langen Flur ging, fühlte er, dass die Wände feucht von Kohldunst und Dampf aus dem Kessel waren. Er glitt wie ein Geist tiefer ins Haus, bis er sie sah; sie stand in der Küchentür und wickelte ein Stück weiches weißes Schmalz in das Papier zurück. Ihr Haar war weich, die Ansätze hoben sich weiß von der schwarzen Farbe ab, und ihr Gesicht war ungeschminkt. Während sie das Schmalz einpackte, blickte sie durch das kleine Fenster über der Spüle auf das kilometerweite Sumpfland hinaus. Sie wirkte friedlich.
Endlich ließ die Spannung nach, und seine Eingeweide entkrampften sich. Dann bemerkte sie ihn im dunklen Flur. Er ging zu ihr, und sie legte die Arme um seinen Kopf und zog ihn an ihren weichen Bauch. Shuggie schlang ihr die Arme um die Taille und sie drückte das Gesicht in sein weiches schwarzes Haar. »Mmmmh, du riechst nach frischer Luft«, sagte sie, nahm seine kalten Wangen in beide Hände und küsste sie zärtlich.
»Du riechst nach Suppe«, sagte er.
»Charmant! Los, zieh die Schuluniform aus. Ich bringe dir was zu essen.«
»Im Ernst?«
Sie jagte ihn aus der Küche. Im Wohnzimmer war es behaglich, und es roch nach Staubsauger und Zitronenmöbelpolitur. Der elektrische Heizstrahler brannte, und die langen Vorhänge waren zugezogen, um die kalte Siedlung draußen zu halten. Shuggie schaltete den Fernseher ein, und der Zähler zeigte blinkend an, dass er sechs Stunden fernsehen konnte, bevor sie weitere Fünfzig-Pence-Münzen einwerfen mussten; es war der reine Luxus. Er streifte sich die Schuhe ab, schüttelte die Wollhose herunter und knöpfte sich das weiße Hemd auf. Er ließ die Kleider in einem Haufen auf den Boden fallen. In der sauberen Unterhose setzte er sich auf den großen eckigen Couchtisch und sah sich mit offenem Mund die Nachmittagssendungen an.
Agnes kam mit einer Tasse heißem Tee und einem kleinen Teller herein, die sie vor ihn stellte.
»Was ist das?«, fragte er.
»Das ist für dich«, sagte sie.
Shuggie starrte die goldene Apfeltasche an und berührte sie langsam mit einem Finger. Er spürte die Hitze aufsteigen. Agnes hatte das Gebäck mit dem Teller im Ofen aufgewärmt. Er war braun und blättrig, mit weißen Zuckerkristallen bestreut, die geschmolzen waren und eine knusprige süße Kruste bildeten. Zu beiden Seiten quoll klebriges goldenes Apfelmus heraus und schlug heiße Blasen auf dem Teller. Als er auf die Apfeltasche drückte, knisterte sie appetitlich.
Der Junge starrte sprachlos den Teller an. Er hatte Angst, dass er keinen Bissen herunterbekam, weil sein Magen rumorte wie bei den Angstkrämpfen. Aber diesmal war es nicht die würgende Galle, die in ihm brodelte, sondern etwas, das sich anfühlte wie gelber Sonnenschein. Ein Lächeln breitete sich in ihm aus, und er hob die Füße, kippte auf den Rücken und drehte sich wie ein Kreisel auf dem Steißbein, immer wieder, bis der ganze Couchtisch vor Freude glänzte.
Agnes hatte das Meeting in der Dundas Street ausgewählt, weil sie hoffte, dort niemanden zu kennen. Sie hatte schon in der Vergangenheit hin und wieder ein AA-Meeting besucht, war aber nie damit warm geworden. Wenn sie sich in der Gesellschaft der gebrochenen Männer und Frauen umgesehen hatte, war Scham in ihr aufgestiegen. Sie hätte am helllichten Tag die Straßenseite gewechselt, um solchen Leuten aus dem Weg zu gehen.
Auch wenn sie nur selten hinkam, hatte die East-End-Gruppe, die sie manchmal besuchte, angefangen, sich zu eng und zu vertraut anzufühlen. Agnes hatte alles verbockt. Die meisten der älteren Männer hatten sie schon in Pithead besucht, und sie fing an, in den verhärmten Gesichtern der fahrigen Frauen vertraute Züge ihrer selbst zu entdecken. Es wurde immer schwerer so zu tun, als wäre sie anders. Deswegen war Agnes eines Abends einfach im Bus sitzen geblieben, hatte die bekannten Räume links liegen lassen und war bis zur Dundas Street gefahren. Ein neuer Anfang, hatte sie gedacht, und hoffentlich eine bessere Klasse von Alkoholikern.
Das Dundas-Street-Meeting zwischen dem Bahnhof Queen Street und der Bushaltestelle Buchanan Street in der Innenstadt zog eine ziemlich breite Versammlung an. Es fand in einem Sandsteingebäude statt, einem ehemals prachtvollen Kontorhaus, das nach baulichen Veränderungen in den sechziger Jahren an eine schlecht geführte Grundschule erinnerte. Der Stuck war abgeschlagen und die Räume verkümmerten in hässlicher brauner Amtsfarbe, mit Neonröhren und abblätterndem Linoleum. Auf Agnes wirkte alles sehr anonym.
Die AA-Gruppe Dundas Street hatte einen langfristigen billigen Mietvertrag für einen Versammlungssaal mit hoher Decke. Vorne befand sich ein leicht erhöhtes Podium mit einem Klapptisch und sechs Plastikstühlen auf einer Seite. Links war ein kleiner Vorraum mit einem schmalen Flur, wo die Urne und die Kekse standen. Es fühlte sich provisorisch an, auch wenn die Stammgäste versuchten, sich mit Kalendern und Postkarten aus Lourdes, Rom und Blackpool häuslich einzurichten.
Agnes brachte Shuggie früh ins Bett und fuhr mit dem Bus in die Stadt, ohne zu wissen, ob sie es zu dem Meeting schaffte oder stattdessen, wie sie es früher schon getan hatte, zu einer der Bingohallen in Gallowgate ging. Sie brauchte alle Kraft, die sie besaß, um die Stufen des Kontorhauses hinaufzusteigen, und als sie den Saal betrat, war sie erleichtert, kein bekanntes Gesicht zu sehen. Der Raum war stark verraucht. Die Leute rutschten nervös auf ihren Plätzen herum, jeder mit respektvollem Abstand zum nächsten. Fast ununterbrochen war ein Chor von feuchtem Röcheln und Hustenanfällen zu hören. Die Anwesenden waren weniger leutselig als bei den anderen Meetings. Man nickte und lächelte einander höflich zu, doch es schien weniger Gemeinschaft zu herrschen und mehr Anonymität, was genau das war, was Agnes brauchte. Sie setzte sich in unaufdringlichem Abstand zum Podium und spürte das Brennen der Blicke in ihrem Rücken. In ihrem langen Mohairmantel war sie zu elegant, aber sie fühlte sich wohler darin.
Eine Gruppe von Leuten, die sich leise in einer Ecke unterhalten hatten, setzten sich auf die sechs Stühle auf dem Podium. Dann erhob sich ein gutaussehender Mann mit silbernem Haar. Seine Augen waren tief und braun, und seine Brauen bildeten eine dichte, struppige Linie. Trotz ihrer Nervosität und dem Zittern wurde Agnes unwillkürlich von Aufregung erfasst.
»Hallo«, sagte der Mann mit dröhnender Stimme. »Danke, dass ihr zur Dienstagabendgruppe gekommen seid. Für die von euch, die mich nicht kennen, ich heiße George und ich bin Alkoholiker. Ich gehe jetzt seit, tja, fast zwölf Jahren zum Dundas-Street-Meeting. Ich fühle mich ermutigt von den vielen bekannten Gesichtern, die ich heute Abend unter euch sehe, und wie immer bin ich traurig über die vielen neuen.«
Er legte die fleischigen Hände auf den Tisch. »Hier oben am Tisch sitzen heute Abend ein paar alte Freunde und ein oder zwei neue.« Die Leute rechts und links von ihm richteten sich auf und lächelten. »Bevor ich sie vorstelle, lasst uns zu Beginn den Herrn um Hilfe bitten.« Der Mann senkte den Kopf, und sein Haar glänzte wie Lametta. Agnes kniff die Augen zusammen, um ihn besser sehen zu können. Auch die Versammelten senkten den Kopf und schlossen die Augen, um das Gelassenheitsgebet zu sprechen. Agnes kannte es auswendig, aber bisher war kein Wort davon zu ihr durchgedrungen.
Dann begann das Meeting, und sie hörte zu, als auf dem Podium geschäftliche Dinge angesprochen und Neuigkeiten und Beileidsbekundungen mitgeteilt wurden. Eine Freundin der Gruppe war gestorben; soweit Agnes verstand, hatte sie den Kampf gegen die Flasche verloren. George stellte die neuen Gesichter am Podiumstisch vor und bat sie, der Gruppe ihre Geschichte zu erzählen. Ein dünner Mann mit knappem Glasweger Akzent stand auf. »Hiya, ich heiß Pe’er, unnich bin Alkoliker.« Seine Augen wurden feucht, als er erzählte, wie er den Kontakt zu seiner Frau verloren hatte, und wie seine Söhne später erst alkohol- und dann drogenabhängig wurden. Agnes lauschte, wie der Mann seine Vokale zusammenzog und die Geschichte ausspuckte, als wäre er wütend, mit der vertrauten Glasweger Schnodderigkeit. Sie hatte das Gefühl, allein an seiner Sprache konnte sie seine Herkunft bis auf das Mietshaus eingrenzen, in dem er aufgewachsen war. Seine Lebensumstände überraschten sie nicht, und am Ende hatte sie Mitleid mit ihm: Der Bürde seines Akzents würde er nie entkommen.
Während weitergeredet wurde, schweiften ihre Gedanken kilometerweit ab, und sie sehnte sich nach einem Drink. Plötzlich rief eine Stimme. »Du. Die schwarzhaarige Frau in dem lila Mantel.« George zeigte direkt auf sie. »Möchtest du der Gruppe etwas mitteilen?«
Agnes wollte den Kopf schütteln, aber sie spürte, wie sich ihre Beine anspannten, und fast gegen ihren Willen stand sie auf. Sie hatte es schon früher getan, ein Dutzend Mal in einer Handvoll Gruppen. Sie sah nach links, dann nach rechts, und lächelte ein kleines Lächeln. Alle wandten sich ihr zu, aber die Gesichter der Leute verschwammen zu hellen Flecken. Kurz ließ sie sich von der Sorge ablenken, dass der Rücken ihres schönen Mantels vom Sitzen zerknittert war, und sie stolperte über ihre ersten Worte. »H-hallo, ich heiße Ag-Agnes, und ich bin. Ich schätze, ich bin. Alkoholikerin.«
Im Saal erhob sich ein lauwarmes Raunen der Zustimmung. »Willkommen, Agnes.«
Agnes wollte weitersprechen, aber plötzlich fehlten ihr die Worte. Sie strich sich mit der Hand über den Mantelrücken, um die Falten zu glätten. Bis auf den chronischen Husten war es still im Saal.
»Ich stehe in Flammen, doch ich verbrenne nicht«, dröhnte die Stimme.
»Wie bitte?«, sagte Agnes.
»Ego sum in flammis, tamen non adolebit«, sagte George. »Ich stehe in Flammen. Ich verbrenne nicht. Die Worte der heiligen Agnes.«
»Oh.« Sie wusste nicht, ob sie sich wieder setzen sollte.
»Nie wurde ein wahreres Wort gesprochen, oder?«, fuhr er fort, fand den Faden und richtete sich an die Versammlung. »Ich stehe in Flammen, aber ich verbrenne nicht. Nun, lasst uns aus diesen Worten Hoffnung schöpfen. Jeder von uns, die wir heute Abend hier versammelt sind, wurde von den Flammen heimgesucht.« Er räusperte sich und breitete die Arme aus wie ein Jahrmarktkrämer. »Haben wir nicht alle für das nächste Glas gebrannt, im Fieber gebrannt, in Schweiß und Panik, unsere Kehle in Flammen, das Herz in unserer Brust in Flammen?« Die Menge murmelte zustimmend. »Und da ist er.« Er gab ein befriedigtes Aaaah von sich. »Der wundervolle Drink, nach dem ihr euch so gesehnt habt, und er brennt durch euch durch wie Benzin. Wie Benzin feuert er die Dämonen in euch an, verbrennt euch, bis der Teufel übrigbleibt. Ihr steht in Flammen und zerstört alles, was ihr berührt; alle, die ihr liebt, weichen vor euch zurück, weichen vor dem Feuer zurück. Geld verbrennt, Familien verbrennen, Karrieren verbrennen, Ansehen verbrennt, und dann, wenn alles verbrannt ist, brennt ihr immer noch.«
Die Menge lauschte atemlos. »Aye, ich kann nicht beschreiben, wie ich zusah, als die Flammen alles verschlangen, was ich besaß. Selbst als ich versuchte, trocken zu werden, als ich dastand und um Hilfe flehte, war es, als stünde ich immer noch in Flammen, der große Unberührbare.« Verständnisvoll schnalzte die Menge mit der Zunge. »Als ich um Hilfe bat, wichen alle vor mir zurück; weil sie Angst hatten, dass das Feuer wiederkommt. ›Helft ihm nicht‹, sagten sie. ›Er ist es nicht wert‹, sagten sie. ›Er ändert sich nie, er zieht euch alle nur mit runter.‹«
Der attraktive Mann schüttelte den Kopf. Im Saal war es ganz still. »Doch am Ende war es wahr, oder? Ich stehe in Flammen, aber ich verbrenne nicht.« Er wischte sich den Speichel aus den Mundwinkeln. »Das ist die Lehre, die uns die heilige Agnes mit auf den Weg gibt. Selbst in der Dunkelheit ist noch Hoffnung.«
Agnes blinzelte blind in den verrauchten Saal. Sie strich sich den Rock und den Mantel glatt, um sich wieder zu setzen. Aber der Mann erhob wieder die Stimme und zeigte auf sie. »Flammen sind nicht nur das Ende, sie sind auch der Anfang. Denn alles, was zerstört wird, kann wieder entstehen. Du kannst aus deiner eigenen Asche wieder wachsen.«
Agnes lächelte demütig und widerstand der Versuchung, die Augen zu rollen.
Der Sprecher hatte sein Bestes getan, die Anwesenden zu inspirieren. Das Meeting ging weiter, und die Gemeinschaft wandte den Blick nach vorn. Agnes holte leise tief Luft; es fühlte sich an wie der erste Atemzug heute Abend.
Plötzlich lag eine tröstende Hand auf ihrer Schulter, die Hand einer Frau, schmal und blass, aber auf dem Handrücken wölbten sich bereits die dicken blauen Adern des Alters. Die Frau beugte sich vor, um Agnes ins Ohr zu flüstern. Sie kam so nah, dass Agnes sich nicht nach ihrem Gesicht umdrehen konnte.
»Aye, genau. Verbrennen konnten die Arschlöcher die heilige Agnes nich, deswegen hamse dem armen Ding den Kopf abgeschlagen. Scheißmänner! Oder?« Die alte Frau klopfte Agnes einmal auf die Schulter, dann setzte sie sich hustend in ihren Stuhl zurück.