Pünktlich zu Shuggies zehntem Geburtstag erhob sich Agnes aus der Asche. Sie war seit drei Monaten trocken, als sie die Nachtschicht an der Zechentankstelle übernahm. Weihnachten hatte sie aus vier verschiedenen Katalogen bestückt, hatte Berge von Geschenken unter den Baum gelegt und vier verschiedene Sorten Fleisch aufgetischt, ohne Mittel, um dafür zu bezahlen. Als Leek und Shuggie rund und voll im Schein des Fernsehers lagen, merkte Agnes nicht, dass sie sich die Mühe gar nicht hätte machen müssen. Ihre Söhne waren allein ihretwegen glücklich, wegen ihrer Nüchternheit und des Friedens, der damit einherging.
Dann begannen die Rechnungen der Kataloge einzutrudeln, aber der Job bot ihr noch etwas, das wichtiger war als das Geld. Die Arbeit half gegen die Einsamkeit. Sie hatte etwas zu tun, war beschäftigt in den langen, leeren Nächten. Ohne die Arbeit hätte sie zu Hause gesessen und nicht gewusst, wohin mit sich, bevor endlich der Schlaf kam. In solchen Nächten grübelte sie über Shug, über die Freunde, die sich nicht mehr meldeten, über Lizzie und Wullie und über Catherine in Südafrika. Die Nachtschicht half ihr, nicht zur Flasche zu greifen.
Die Tankstelle diente auch als kleiner Laden, der einzige weit und breit, wo es Zigaretten, Eis am Stiel und Chips gab. Er war das Zentrum des Nichts. Agnes zog die Schublade zu sich, nahm die schmutzigen Münzen entgegen, die darin klimperten, ließ das Wechselgeld hineinfallen und schob sie mit den Zigaretten und Milchtüten durch die Sicherheitsschleuse zurück. Es war eine Art von gesellschaftlichem Leben, und dafür war sie dankbar.
Vier Abende die Woche saß Agnes hinter dem Sicherheitsglas und starrte hinaus in die leere Dunkelheit. In großen Intervallen kamen Taxifahrer vorbei und befüllten ihre schwarzen Hackneys mit Diesel. Manche fragten nach dem Schlüssel für das feuchte kleine Klo, und manche wollten die Zeitung und eine kalte Dose Irn-Bru. Dann plauderten sie, jeder auf seiner Seite der Glasscheibe, es ging um die Streiks draußen in Ravenscraig, um den Tod des Clyde, um Gemeinsamkeiten in ihrem Leben. Taxifahrer waren es gewohnt, hinter Glas zu sein; ihre Nächte bestanden aus Trennscheiben und Windschutzscheiben. Agnes mochte ihre Gesellschaft.
Mit der Zeit wurden ein paar Männer zu Stammgästen, und manche begannen ihre Pausen mit Agnes zu verbringen, jeder mit seinem Sandwich auf seiner Seite der Scheibe. Seit Agnes da war, lief das Nachtgeschäft an der Tankstelle besser. Manche Hackney-Fahrer fuhren Umwege, um fünf Minuten mit der schönen Frau zu verbringen, die über ihre Witze lachte, dieser Lady, die sich immer zu freuen schien, wenn sie kamen. Meistens machten sie sich erst wieder auf den Weg, wenn der nächste Fahrer hielt.
Es gab Taxis, die, wenn Agnes sich gerade unterhielt, Schleifen um die Tankstelle fuhren, bis sie wieder frei war. Sie beobachteten sie wie schüchterne Kinder eine Büchse Kekse. Agnes sah, wie sie auf der leeren Straße hin und her kurvten, auf ihre zehn Minuten mit ihr warteten und beleidigt waren, wenn sie sahen, dass Agnes mit einem anderen Fahrer lachte.
Manche der älteren Fahrer verlangten nur Waren aus den unteren Regalfächern. Es war ein Spiel, eine Art, die Zeit totzuschlagen. Agnes machte es nichts aus. Sie redeten und glotzten, wenn sie sich durch den kleinen Laden bewegte und die bestellten Päckchen Zucker und Stärke zusammensuchte. Es linderte die Einsamkeit der Fahrer, wenn Agnes sich vorbeugte und nach der Tageszeitung griff, wenn ihr Rock spannte, weil sie in die Knie ging, um das unterste Fach zu erreichen. Sie freuten sich, wenn der Ausschnitt ihres Pullovers verrutschte und der schwarze BH-Träger sich von ihrer rosigen Haut abhob. Agnes wusste, wie schwer die Einsamkeit sein konnte.
Nach ein paar dunklen Wintermonaten an der Tankstelle begann Agnes Geschenke zu bekommen. Erst waren es nur Kleinigkeiten, eine Kiste Kartoffeln oder ein Glas eingelegte Zwiebeln vom Supermarkt. Eines Morgens bekam sie einen Versandkarton Slipeinlagen. Dann begannen ein paar der Fahrer größere Geschenke vorbeizubringen, einen gebrauchten Kühlschrank, einen alten tragbaren Fernseher und andere Elektrogeräte, die direkt aus dem Laster verhökert wurden. Einmal, als Shuggie von der Schule kam, sah er, dass die Scheibe der kaputten Glastür repariert war. Einmal war die schimmlige Küchenzeile neu gestrichen.
Gegen Ende der Nachtschicht, wenn keiner mehr an der Tankstelle vorbeikam, zog sich die Zeit. Agnes saß da, starrte hinaus auf die Pit Road und zählte am Hin und Her des einsamen Nachtbusses die Stunden. Hinter ihrer Scheibe blätterte sie langsam durch den Freemans-Katalog und gab Geld aus, bevor sie es verdiente. Wenn die Sonne über den Horizont kletterte, machte sie Feierabend, schob einen Schokoladenriegel in die Tasche, den sie dem Kleinen mit in die Schule gab, und ließ ein Päckchen Zigaretten mitgehen. Dann entriegelte sie die Tür und ließ die Morgenschicht herein. Wenn sie am Rand der Landstraße zu Fuß nach Pithead zurückging, steckte die Morgensonne die Abraumhalden in Flammen, bevor der schwere Himmel hereinrollte und die Siedlung unter seiner üblichen bleiernen Decke begrub.
Auf dem Heimweg kam Agnes an der Bushaltestelle vorbei und wünschte den Frauen mit den müden Knochen, die in der Stadt putzen gingen, höflich Guten Morgen. Die Putzfrauen rieben ihre goldenen Kruzifixe, ohne sie anzusehen, und murmelten ein kaum hörbares Aye. Es ging über ihren Verstand, was eine anständige Katholikin um diese gottlose Uhrzeit auf dem Heimweg machte. Die dünnen Frauen waren voller Misstrauen gegen diese Frau, die frühmorgens Lippenstift trug und deren makelloser Nagellack die Farbe von Sex hatte. Die Männer, die das Glück hatten, nicht arbeitslos zu sein, sahen auf und lächelten, wenn sie an Agnes vorbeigingen. Sie versuchten, die Lunchpakete zu verstecken, die ihre Frauen für sie gepackt hatten, und zwinkerten ihr heimlich zu, wenn sie guten Morgen sagten.
Zu Hause schmuggelte Agnes den geklauten Schokoladenriegel unter Shuggies Kissen und weckte ihn mit einem Kuss und einer Tasse Tee mit Milch für die Schule. Ans Fußende von Leeks Bett legte sie seinen Overall, den sie am Abend frisch gewaschen hatte. Die Jungs lagen im Bett und sahen einander schweigend an, während sie lauschten, wie Agnes beim Morgenradio mitsang. Sie wagten nicht zu blinzeln, weil sie beide Angst hatten, den Bann zu brechen.
Agnes arbeitete erst seit ein paar Monaten an der Tankstelle, als sie den rothaarigen Ochsen zum ersten Mal sah. Er war anders als die anderen Taxifahrer. Die anderen hatten die vertraute Form von Männern angenommen, die ihren Zenit überschritten hatten, zusammengesackt vom stundenlangen Sitzen hinter dem Lenkrad, während sich das üppige schottische Frühstück und die Schokoriegel zum Abendessen wie ein Ring aus kaltem Porridge um ihre Mitte legte. Irgendwann deformierte das Taxifahren sie alle, ihre Schultern erschlafften zu weichen Buckeln und der Kopf mit den Hängebacken reckte sich aus dem welken Hals nach vorn. Diejenigen, die schon lange die Nachtschicht fuhren, waren gespenstisch bleich, die einzige Farbe in ihrem Gesicht das zarte Netz der Rosazea vom jahrelangen Trinken. Das waren die Männer, die gern einen Ring mit einem goldenen Sovereign am Finger trugen und eitle Freude empfanden, wenn sie ihren geschmückten Finger hoch und glänzend auf dem Lenkrad liegen sahen. Unweigerlich erinnerten sie Agnes an Shug.
Als der Rote zum ersten Mal aus dem Taxi stieg, musste sie sich zwingen, ihn nicht anzustarren. Offenbar war er neu im Taxigewerbe. Seine Schultern waren immer noch breit, und sein Gesicht war von Tageslicht und frischer Luft gefärbt, nicht von dunklen Pubs und goldenem Stout. Er war ein großer, stattlicher Mann, und als er sein Taxi mit Diesel volltankte, registrierte sie seine aufrechte, stolze Haltung. Mit einem muskulösen Arm schaukelte er das Taxi hin und her, und seine roten Locken leuchteten unter den flackernden Neonröhren. Als er sie sah, zuckte er nicht zusammen, wie manche Männer es taten, aber er lächelte auch nicht. Agnes saß mit verschränkten Armen hinter der Scheibe, als wartete sie auf einen Liebhaber, der sie vergessen hatte. Sie schob ihm die kleine Schublade mit dem Wechselgeld hin, und er bedankte sich murmelnd und ging zurück zu seinem Taxi.
Es dauerte ein paar Wochen, bis er wiederkam. Diesmal sprach sie ihn an, noch bevor er den Schalter erreicht hatte. »Sie fahren noch nicht lange, oder?«, fragte sie mit einem Lippenstiftlächeln, die Schublade einladend zu ihm hingeschoben.
»Schulding Sie?«, sagte er aus den Gedanken gerissen. »Ich habse durche Scheibe nich gehört.«
Agnes mochte sein breites Schottisch, den weichen Singsang aus Strathclyde. Sie redete in bestem Queen’s English weiter. »Ich habe nur gefragt, ob Sie neu in der Taxibranche sind.«
»Wie kommse dazu, en Mann sone Frage zu stellen?«, fragte er gereizt, sein Atem warm an der kalten Scheibe.
Agnes’ Lächeln bekam Risse. »Na ja, hier kommen viele Taxifahrer vorbei. Und Sie wirken irgendwie … frischer als der Rest.« Er starrte sie an wie einen sprechenden Hund. Sie suchte nach den richtigen Worten. »Ich meine, Sie wirken nicht so abgestumpft. Von der ganzen Fahrerei. Den ganzen schwierigen Kunden.«
»Sie halten sich wohl fürn Menschenkenner, wat?«
Die Frage überrumpelte sie. Jetzt war es Agnes, die schwieg. Der rothaarige Mann ließ laut klimpernd ein paar Münzen in die Schublade fallen. »Ich nehm nochen Pint Milch unnen Weißbrot. Scheibenbrot, nich am Stück. Aber passense auf, dasset frisch is, und dasset nich plattdrücken in dem Ding hier.« Er zeigte auf die Schublade.
Agnes brauchte einen Moment, um sich zu erholen und aufzustehen. In der Mitte des kleinen Ladens drehte sie sich um, um nachzusehen, ob er sie beobachtete, aber der Rote starrte seine Schuhe an, als stünde eine Geschichte darauf. Er schnaufte durch seine Pferdenüstern, und sie sah, wie sich seine Schultern hoben, breiter wurden und wieder sanken. Er sah müde aus, krank und müde. Als sie zum Fenster zurückkam, legte sie die kleine Milchflasche in die Schublade und schob sie zu ihm. Er nahm sie mit seiner großen Pranke heraus. Dann legte sie das Kastenbrot hinein, und jetzt meldete er sich wieder. »So drückenses platt.« Agnes sah ihn sprachlos an. Wenn sie es ein bisschen quetschte, würde das Brot durchpassen, aber der Mann protestierte, und das Blut schoss ihm in die Wangen. »Ich hab gesagt, Sie sollens nich da durch schiem.«
»Dem Brot passiert nichts. Es gibt nach.« Sie drückte mit den Fingern auf den feuchten Laib, und wie in der Werbung sprang es wieder in seine Form zurück.
Der Mann schwieg.
Agnes lächelte unschuldig. »Tja, ich kann es nicht ändern. Ich kann ja nicht die Sicherheitstür öffnen.« Sie legte sich die Hand aufs Herz und sah ihn mit großen Augen an. »Wie Sie sehen, bin ich ganz allein hier.«
Der Mann trat von einem Fuß auf den anderen, und seine Wangen liefen dunkelrot an. Blinzelnd starrte er auf seine Schuhe und atmete tief durch die großen Nasenlöcher ein.
»Wollen Sie das Brot jetzt oder nicht?«, fragte Agnes und beugte sich zur Scheibe. Der Ausschnitt ihres Pullovers verrutschte, und sie wusste, dass über ihrer Schulter der schwarze Träger ihres BHs zu sehen war. Sie lächelte mit halbgesenkten Lidern.
Der Mann schlug mit der fleischigen Faust gegen die Scheibe. Erschrocken zuckte sie zurück, als hätte er sie geohrfeigt. »Heilige Muttergottes. Kannen anständiger Mann kein einfachen Laib Brot kriegen, verdammt noch mal?«
Damit weckte er Agnes’ Dämonen. Es tat ihr nicht gut, sich so unsichtbar zu fühlen. Wenn sie ignoriert wurde, bekam sie Durst. Mit einem lackierten Fingernagel öffnete sie das zugeklebte Ende der Brottüte und zog die Randscheibe heraus. Sie ließ die Scheibe wie einen toten Fisch in die Schublade fallen. Dann schob sie dem großen Mann die Scheibe zu.
Er starrte die Brotscheibe in der Schublade an, als hätte sie hineingespuckt. »Nehmen Sie schon«, warnte sie, und das Lächeln und der BH-Träger waren verschwunden. Der Mann mit den roten Haaren nahm die Scheibe heraus und hielt sie behutsam in der Hand. Mit metallischem Schleifen glitt die Schublade zurück, Agnes legte die nächste Scheibe hinein und schob sie zu ihm. Der Mann nahm sie. So ging es wortlos weiter, Agnes legte Scheibe für Scheibe des Brotlaibs in die Schublade, und der Mann sammelte sie vorsichtig ein, als wären es Porzellanteller. Sie war überzeugt, er hatte nicht einmal geatmet, seit er die erste Scheibe herausgenommen hatte. Schließlich entwich die Luft aus ihm wie aus einem geplatzten Reifen, und er sah auf den halben Laib Brot, den er im Arm hielt. Agnes füllte weiter die Schublade.
»Ich hab inne Grube gearbeitet, bevorse dichtgemacht ham«, sagte er leise. »Woher wusstense, dass ich kein Taxifahrer bin?«
»Ich habe es einfach gewusst«, sagte Agnes. »Ich habe Erfahrung.«
»Aye?«
»Ich könnte ein Buch darüber schreiben.« Sie legte die nächste Scheibe in die Wanne.
»Ich weiß nich, wies die annern aushalten«, sagte der rothaarige Mann. »Und die Gestalten, die eim begegnen? Alle möglichen Halunken.«
»Es gehört eine bestimmte Art von Mensch dazu, hier nachts unterwegs zu sein. Fahren Sie schon lange die Nachtschicht?«
»Vielleicht einen Monat.«
»Schrecklich einsam, oder?«, fragte Agnes.
Der Mann sah sie an, als wäre es das erste Mal. »Aye, ziemlich einsam«, sagte er mit müden Augen.
Sie schob ihm das Endstück zu. »Tja, dann kommen Sie morgen Nacht wieder. Ich schicke Ihnen eine Packung Cornflakes durch die Schublade.«
Zum ersten Mal lächelte der Mann. Seine Zähne waren groß und weiß und gerade. »Okay.«
»Und vergessen Sie nicht, eine Plastiktüte mitzubringen, weil ich Sie Ihnen einzeln rausgebe.«
Nach Shug hatte es andere Männer gegeben, aber keiner war mit ihr ausgegangen. Sie wartete den ganzen Tag auf die Taxihupe. Sie hatte schon vor dem Mittagessen gebadet und musste sich noch bis acht Uhr gedulden. Der Radiowecker blinkte die Neonzahlen herunter wie einen Countdown. Agnes’ Stimmung schwankte den ganzen Tag zwischen fieberhaft und mutlos, und jetzt, als sie wartend vor dem Schminktisch saß, kam sie sich zunehmend dumm vor. Sie erstellte im Kopf eine Liste von all den Dingen, die sie dem neuen Mann auf keinen Fall erzählen durfte. Die schlimmen Dinge, die sie besser für sich behielt, schnürten ihr die Kehle zu. Sie machten sie durstig.
Shuggie saß nachdenklich schweigend neben ihr, die Hände geduldig im Schoß, die Füße sittsam übereinandergeschlagen, mit dem gleichen angespannten Ausdruck im Gesicht. Agnes versuchte ihr Leben in eine Geschichte zu packen und kam sich immer langweiliger und nichtssagender vor. Die Dinge, über die sie nicht sprechen durfte, hinterließen gähnende Lücken. Ohne sie war sie eine Frau, die ihr Leben seit 1967, als sie Shug kennengelernt hatte, im Tiefschlaf verbrachte.
Der rothaarige Ochse hieß Eugene. Es war ein guter Name, altmodisch und schlicht. Ein Name, den Mütter ihren Erstgeborenen gaben, den Söhnen, die anständig und ehrlich waren, der Stolz ihrer Mutter, nicht ihr Glück. Agnes hatte immer gedacht, es sei ein Name, den katholische Mütter den Söhnen gaben, die für das Priesteramt bestimmt waren, den Söhnen, die der Kirche geopfert wurden wie der Zehnte.
Eugene drückte die Hupe des schwarzen Hackney, und Agnes zuckte erschrocken zusammen. Die Parfumfläschchen auf dem Nachttisch klirrten leise. Sie sah den Jungen an, der die Finger gekreuzt hatte, um ihr Glück zu wünschen. Er hob die Hand und schüttelte sie mit einem hoffnungsvollen Lächeln. Leek lehnte mit verschränkten Armen in der Tür. Sie bat ihn um einen Kuss, um ihr Glück zu bringen, und Shuggie sah, wie sie die Arme um Leeks Hals legte. Erst rührte sich Leek nicht, aber dann entknotete er sich langsam und umarmte sie. Er gab ihr so viele Küsse, bis sie ihn wie ein Schulmädchen kichernd von sich schob und kontrollierte, ob er ihr Rouge verschmiert hatte.
Draußen im weichen Abendlicht fiel ihr wieder auf, wie attraktiv der Mann war. Mit dem Anzug mit dem breiten Revers und dem nass zurückgekämmten dicken Haar saß er in seinem Hackney wie in einem Rolls-Royce. Eugene öffnete die Fahrertür und stieg aus. Agnes’ Blick fiel auf seine dünne Westernkrawatte mit der stolz glänzenden Brosche. Ihr wurde bewusst, dass sie zum ersten Mal nicht von einer Scheibe getrennt waren. Eugene öffnete die hintere Tür für sie, und ohne sich umzusehen, wusste Agnes, dass die Frauen von Pithead an ihren Fenstern standen und schäumten. Sie spürte den Luftzug von tausend raschelnden Gardinen. Sie hob die Hand mit den Ringen, strich sich das Haar aus dem Gesicht und hob das Kinn. Fast konnte sie hören, wie sie wütend mit der Zunge schnalzten.
»Hast du gut hierher gefunden?«, fragte sie, als er die Wagentür schloss.
»Aye, kein Problem«, sagte er und ließ den Motor an. »Hab ich dich warten lassen?«
»Nein, nein. Ich musste mich beeilen, der Tag ist vergangen wie im Flug.« Sie versuchte, ein leichtes beiläufiges Lachen einzustreuen.
»Jedenfalls siehste schnieke aus.« Er betrachtete sie anerkennend im Spiegel.
»Da bin ich ja froh«, sagte sie und ließ die Lederfransen an den Ärmeln flattern. »Ich hatte keine Ahnung, was ich anziehen soll.«
Agnes war noch nie im Grand Ole Opry gewesen. Der Westernclub befand sich in einem alten umgebauten Kino auf der Govan Road, in einer heruntergekommenen Gegend der Glasgower Southside. An den Countrymusic-Abenden kamen Paare von überall zu Line-Dancing und Revolvertrick-Duellen. Ob es an der guten Musik oder den rauchenden Colts lag, das Opry war ein Highlight in Glasgow. Die Musikhalle war jeden Abend der Woche rappelvoll. Hier konnte Edna McCluskey aus Clarkston für ein paar Stunden Kentucky-Belle sein, während ihr Mann, der lütte Stan, in Lederweste und dem großen Stetson mit den Fransen zu Postkutschen-Stan, dem Kopfgeldjäger, wurde.
Eugene parkte und half Agnes aus dem Wagen. Das Neonschild beleuchtete die Straße und spiegelte sich im nassen Asphalt. Die Leute drängelten sich am Eingang, und Agnes kam sich vor, als besuchten sie eine gefragte Premiere. Eugene schob sich an der Schlange vorbei, ließ einen silbernen Sheriffstern aufblitzen, und sofort wurden sie durchgelassen.
Im Innern erinnerte der Saal kaum noch an ein Kino. Es gab zwei Ebenen, und auf einer Seite befand sich eine große Bühne. Auf der Bühne spielte eine Band, der Sänger in hellbraunen Wildlederhosen, das Haar über dem pockennarbigen Gesicht zu einer Rockabilly-Tolle geföhnt. Er hatte sich den Mikrofonständer zwischen die Beine geklemmt, als wäre die Stange seine Angebetete. Beim Singen imitierte er den Südstaaten-Akzent von Johnny Cash.
Vor der Bühne war eine kleine Tanzfläche, wo ein paar ältere Paare schwoften. Alte Männer in engen Jeans schleuderten dickarmige Hausfrauen herum, und sie sahen aus, als amüsierten sie sich prächtig, als sie sich unterhakten und im Twostep zu den Country-Schlagern schunkelten. Die Frauen trugen entweder Cowgirl-Outfits mit Stetson-Hüten oder ausladende, tief ausgeschnittene Dirnenkleider mit Rüschenbesätzen und Federn im Haar. Agnes sah an sich hinunter. Der enge schwarze Rock und die Lederjacke, die sie im Katalog bestellt hatte, hatten ein Vermögen gekostet. Sie hatte sie zweimal zurückgeschickt, um die passende Größe zu finden. Doch als sie die Jeans und die Rüschenkleider der anderen sah, war ihr das Outfit verdorben.
Eugene führte sie durch die Menge. Er hatte Cowboystiefel an, und unter der braunen Anzugjacke trug er einen hübsch verzierten Holster mit einer glänzenden Pistole auf jeder Seite. Viele Köpfe nickten ihm zu, als kennten sie ihn, und er nickte hölzern zurück. Um die Tanzfläche standen kleine runde Tische mit jüngeren Paaren, die noch nicht genug getrunken hatten, um ungeniert zu tanzen. Eugene zog Agnes einen Stuhl heraus, und sie nahmen mitten im Saal Platz, nicht irgendwo versteckt in einer Ecke. Er half ihr aus der Jacke, und sie ließ ihn gewähren, als er die großen Hände auf ihren Schultern ruhen ließ, lange genug, um den Duft ihres Haars einzuatmen.
Der Laden brummte, der Rhythmus der Band war ansteckend und die Tänzer wogten auf dem Parkett. Der warme, schwere Geruch von goldenem Whisky und Leder hing in der Luft. Es war noch früh, aber die Gäste schlugen bereits über die Stränge. Agnes stellte amüsiert fest, wie befreiend ein bisschen billige Verkleidung offenbar wirkte.
»Wat sachste dazu?«, fragte Eugene mit einem stolzen Grinsen.
»Es ist fabelhaft.«
»Ja, oder? Eigentlich is Glasgow der richtige Wilde Westen. Auffer Maryhill Road kannste nachts unter der Woche immer noch skalpiert werden.« Eugene war in seinem Element und entspannte sich. »Ich freu mich, dass wirs endlich geschafft ham.«
»Ich auch.«
»Heut Abend seh ich zum ersten Mal, dasse echte Beine hast.« Er lachte. »Und nich vonner Hüfte abwärts bloßen alter Tankstellenhocker bist.«
»Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht.«
»Nee.« Lachend hielt Eugene ihr die Pranke hin, um sich offiziell vorzustellen. »Freut mich, dich kennenzulernen. Erzählste mirn bisschen wat von dir?«
»Es gibt nicht viel zu erzählen.« Agnes hob einen feuchten Bierdeckel hoch und begann nervös damit herumzuspielen. Sie griff zu der Geschichte, die sie eingeübt hatte. »Geboren und aufgewachsen als Glasweger Papistin. War ein ruhiges Leben.«
»Aye, wie bei mir.«
»Ich bin geschieden«, sagte Agnes schnell, weil es besser klang als mein Mann hat mich wegen einer hässlichen, langweiligen Hure sitzenlassen.
Eugene schwieg; die Pause kam ihr eine Sekunde zu lang vor. »Hättet ihr euch nich zusammenraufen können?«, fragte der Katholik dann.
War er enttäuscht? Agnes wusste es nicht. Sie schüttelte den Kopf und war erleichtert, als eine Kellnerin mit rasselnden Sporen an den Tisch kam. Sie war recht hübsch, in engen hellen Jeans mit einem breiten Schlangenledergürtel mit Schlangenkopf, der sich in die eigene Klapper biss. »Howdie, Sheriff, wie gehts, wie stehts inne Prärie?« Durch den aufgesetzten texanischen Akzent war das scharfe Ende von Gorbals zu hören, der miesesten Ecke Glasgows.
»Hiya, Belle, kann mich nich beschweren.« Eugene deutete auf Agnes, um sie vorzustellen. »Dat is meine Freundin Agnes; die is zum ersten Mal hier.«
Ohne die Miene zu verziehen, nickte Belle mit dem großen Hut in Agnes’ Richtung. Es war eine kalte Begrüßung. »Und, Sheriff, lenkse immer noch die neue Postkutsche durch die wilde Stadt?«
»Aye. Leider.«
»Na, irgendwann schaff ich et noch, dich zu überreden, mit mir einen draufzumachen«, fuhr sie in ihrem Hollywood-Texanisch fort und beugte sich vor, dass die Knöpfe ihrer Hemdbluse spannten. »Vielleicht machenwa man kleinen Ausflug nach Burntisland. Meine Nichte hatten Wohnwagen am Wasser.«
Agnes fragte sich, ob es in Texas Wohnwagen am Wasser gab, und sie kicherte. Die Kellnerin sah auf sie herab, als wäre sie die Pest.
»Ein andermal vielleicht.« Eugene rutschte auf dem Stuhl herum.
Belle seufzte und schob den Daumen in den Gürtel. »Also, wat darfs sein, Kumpel?« Jetzt klang sie nur noch nach Southside.
»Ich nehmen Halben unden Pint.« Er sah Agnes an.
»Äh … ich nehme nur eine Coca-Cola«, sagte Agnes. Ihr Mund war trocken. Vor diesem Moment hatte sie sich den ganzen Tag gefürchtet.
»Is dat alles?«
»Mit Zitrone?«, setzte Agnes so beiläufig wie möglich nach.
»Kommt sofort.« Seufzend zog die Dame ab und wackelte mit dem Hintern wie eine Mastkuh.
Agnes beobachtete Eugenes Gesicht. Sie war froh, dass er nicht auf Belles Hintern starrte. »Na, die scheint ja nett zu sein.«
»Doch, schon«, sagte Eugene wenig überzeugend.
»Belle ist ein schöner Name.«
»Aye. Zu blöd, dass sie eigentlich Geraldine heißt.«
Agnes lachte. »Ach, wirklich, Sheriff?«
Eugene ließ sie großzügig über ihn lachen, und Agnes entspannte sich ein wenig. »Aye, Geraldine aus Gartcosh, und ich bin mir nich sicher, ob sie die Schlange, die sie am Gürtel trägt, nicht eigenhändig erledigt hat.«
»Dann passe ich wohl lieber auf.«
»Aye. Die Frau würde aussem alten Ehemann neue Stiefel machen.«
Die Getränke kamen, und sie sahen eine Weile zu, wie die Line-Dancers ihre Kreise drehten, bevor er sich wieder an Agnes wandte. »So, wie kommts, dass du keinen richtigen Drink willst?«
Agnes ging im Kopf die überarbeitete Version ihres Lebens durch. »Ach, weißt du, ich vertrage es einfach nicht gut. Morgens habe ich immer fürchterliche Kopfschmerzen.« Sie kratzte sich nervös im Nacken.
Eugene schien die Lüge nicht zu schlucken. Ein Flackern der Erkenntnis blitzte zwischen ihnen auf. »Aye, na ja, vielleicht später.«
»Vielleicht.« Agnes versuchte das Thema zu wechseln. »Wie kommt es eigentlich, dass der Sheriff der Stadt noch Single ist?«
»Dat Gleiche wollt ich auch grade fragen.«
»Das ist eine lange Geschichte. Du weißt schon, die Stiefel, die man aus Ehemännern macht?«
»Wat? Muss ich aufpassen?«
»Tja, manche behaupten, ich bin eine Geschiedene, die nach der passenden Handtasche sucht.« Sie saugte an ihrem dünnen Strohhalm. »Und jetzt du. Beantworte meine Frage.«
Er brauchte eine Weile. Er trank einen Schluck von seinem Bier, dann trank er einen Schluck Whisky. »Also, ich war sehr lange verheiratet, um genau zu sein, bis letztes Jahr. Und dann kam der Krebs. Ziemlich plötzlich.«
»Das tut mir sehr leid.« Agnes legte die Hand auf seine. »Mein Vater ist auch an Krebs gestorben.«
Eugene nickte nur und trank noch einen Schluck von beiden Getränken. Das Kondenswasser an seinem Bierglas sah erfrischend aus.
Die Countrymusic setzte aus, und die Band verkündete, dass sie eine Pause machten. Ein verschwitztes Paar trat an ihren Tisch, die Frau in einem Rüschenkleid, der Mann in der üblichen Cowboykluft. »Hiya, Sheriff, wie läufts?«, sagte die Frau so westernmäßig, wie es einer Glaswegerin möglich war. Eugene stellte die beiden als Leslie und Lesley vor, Stammgäste im Opry.
Leslie sagte: »Falls du meine Frau siehst, sag ihr bloß nicht, dass ich mit der jungen Lady hier bin.« Der kleine Mann grinste frettchenartig.
»Ach, halt die Klappe. Der Witz hat son Bart.« Sie verdrehte die Augen, gelangweilt von Jahren desselben Unsinns. »Wir wollten nur rüberkommen und fragen, wies dir geht, Sheriff.« Lesley faltete ihre Hammelarme unter der Brust und nahm ihr Kruzifix zwischen die Finger. »Wie hältse dich?«
»Ganz gut.« Eugene sah aus, als fühlte er sich ertappt.
»Inne Kirche beten wir immer noch für dich«, sagte Lesley. »Fühlt sich an, als wärs gestern gewesen, oder?«
»Aye«, sagte Eugene. Er warf Agnes einen nervösen Blick zu.
»Wen Gott liebt, nimmt er zu sich.« Lesley drehte an ihrem Kruzifix.
Eugene hob den Whisky, um ihr zuzuprosten, aber er trank nicht.
Agnes beobachtete Lesley. Die Frau sah Eugene neugierig an, musterte sein Haar, die angenähten Westenknöpfe und den Hemdkragen, der weiß gebleicht und gestärkt war. Offenbar gehörte sie zu den Frauen, die von Details lebten. Wer bügelte sein Hemd? Wer kochte für ihn? »Wie gehts deinen Schwestern?«, fragte sie schließlich.
»Ganz gut«, sagte er. »Dat ich der Älteste bin, merktma nich, wenn man die machen lässt. Die würden noch Methusalem in allet reinreden.«
»Och, sie machen sich bloß Sorgen um dich. Sag Colleen, dat ich nach ihr und den Lütten gefragt hab, ja? Scheußliche Sache mit ihrn Jamesy. Sag ihr, ich schick ihrn paar alte Kleider rüber. Unser Gerald ist schon wieder in die Höhe geschossen, der wächst wie Unkraut. Ich weiß nich, wies deine Colleen schafft, fünf Kinder anzuziehen, seit die Grube dicht ist.«
Eugene saß stocksteif da, das Whiskyglas erhoben. Es dauerte einen Moment, bis bei Agnes der Groschen fiel, aber dann bekam ihr Lächeln Risse.
»Seit die Grube zu ist, geht das Nest vor die Hunde. Ich hab von der Valium-Plage gehört. Ach, und ich hab von der Alki-Nutte gehört, die gegenüber eingezogen ist.« Sie sah Agnes an, als erwartete sie Solidarität von Frau zu Frau. »Zu meiner Zeit hätte die Kirche jemand wie die woanders untergebracht. Is einfach nich richtig, so jemand zwischen anständige Familien anzusiedeln.«
Der frettchenartige Cowboy verdrehte die Augen und nahm den gepolsterten Arm seiner Frau. Er zerrte sie zurück auf die Tanzfläche. »Aye, also, cheerio dann«, sagte sie heiter und sah Agnes an. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Herzchen.«
Agnes nickte, aber ihre Augen schwammen, und der schwarze Eyeliner drohte sich zu verflüssigen. Als die Leslies fort waren, schwiegen Agnes und Eugene eine lange Zeit. Dann sprach Agnes: »Ihr lacht also alle über mich?«
»Nein.« Eugene schüttelte die roten Locken wie ein ernstes Kind. »Ich nicht.«
»Jeder lacht über mich«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Ich bin wohl nur ein großer Witz für dich.«
»Nein«, wiederholte er. Er hatte die breiten Hände mit der Handfläche nach oben auf den Tisch gelegt, wie Shug es immer getan hatte, ein Trickster, der ehrlich wirken will.
Agnes sah seine Hände an und schluckte das Selbstmitleid herunter, den Teil von ihr, der wollte, dass er ihr wehtat, weil sie nichts anderes erwartete. »Was genau ist Colleen McAvennie für dich? Ihr seid alle so versippt, dass ich mich nicht wundern würde, wenn sie deine Cousine, deine Schwester und dein Milchmann gleichzeitig wäre.«
Eugene seufzte. »Du hast gefragt, ob ich den Weg zu dir gut gefunden hätte, und ich hab ja gesagt. Na ja, ich hab vielleicht nicht alles gesagt.« Er trank einen langsamen Schluck Bier, dann einen schnellen Schluck Whisky, und dann legte er die Hände wieder offen auf den Tisch. »Colleen McAvennie is meine kleine Schwester.«
Der fröhliche Lärm im Saal erstarb. Agnes bildete sich ein, sie würde die Blicke der Leslies spüren. Ihre schmalen Blicke brannten die altvertraute Scham in Agnes’ Gesicht, sie spürte sie auf dem Saum ihres Rocks, auf den Ringen an ihren Fingern. Sie ließ die Worte sacken. Das goldene Lager rief nach ihr. Es versprach, mit ihm wäre alles erträglicher.
Dann wurde ihr bewusst, dass Eugene weiterredete. »Colleen is eine von acht, und alle leben inne Siedlung. Gute irische Abstammung. Du weißt, wies sein kann. Unser Grandad war einer der ersten Bergleute, und wir sind alle hier groß geworden und irgendwie geblieben. Die hatten früher nich viel Fantasie.« Er versuchte sie aufrichtig anzulächeln, aber Agnes taute nicht auf.
»Also. Was sagt sie über mich?«, fragte Agnes und richtete sich kerzengerade auf.
»Och, mach dir wegen der Lütten keine Sorgen. Die redet sich über alles den Mund fusselig.« Die geöffneten Hände schlossen sich.
»Schon gut, ich kann es mir vorstellen …«
»Es ist bloßen kleines Nest …«, tröstete sie Eugene.
»Ich bin eine Säuferin …«
»… sonst nix zu tun …«
»… und eine schlechte Mutter …«
»… wo sich jeder bei jedem einmischt …«
»Ich bin hochnäsig …«
»… statt sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern.«
»… und eine dreckige Hure …«
Beim letzten Wort rutschte er verlegen auf dem Stuhl herum. Der gute Katholik, der Erstgeborene, der so standfest und ehrlich war.
»Ich verstehe«, sagte sie leise.
»Ich muss dich dat fragen«, sagte er nach einem Moment. »Ich mein. Es tut mir echt leid, dass ich dich fragen muss.« Sie sah, wie sein kräftiger Hals zuckte. »Aber hast du mit ihrem Mann geschlafen? Mit Big Jamesy?«
Agnes zögerte, bevor sie antwortete. Das jahrelange Trinken verunsicherte einen. Die Jahre der Scham und der Filmrisse hatten ihr das Gefühl für die Wahrheit genommen. Dinge, die sie verdrängt oder vergessen hatte, konnten klein und unbedeutend sein, aber sie konnten auch gewaltig sein, und sie konnten schlimm sein. Die Wahrheit war, sie hatte nicht mit Jamesy geschlafen, jedenfalls nicht mit Absicht. Er hatte sie reingelegt, und dann hatte er sich nicht an die Abmachung gehalten. Damit war es etwas Schlimmeres als Sex. Sie hatte keinen Namen dafür.
»Nein. Ich habe nie mit Jamesy geschlafen«, sagte sie in dem überzeugendsten Ton, den sie aufbrachte.
Eugene setzte das Glas wieder an, als wäre er froh, etwas zwischen die Lippen zu bekommen. Agnes saß mit perfekter Haltung da, den Kopf so hoch erhoben, dass es unbequem aussah. »Du weißt, dass das Gerede über mich nicht wahr ist. Ich führe ein ordentliches Haus. Ich bin keine Schlampe.«
Ein dünner Mann betrat die Bühne. Er sah zottelig und richtig ausgemergelt aus mit langer weißer Mähne wie Willie Nelson, die vom jahrelangen Nikotinkonsum vorne vergilbt war. Er rasselte ins Mikrofon, als wollte er zu einem schottischen Jig aufrufen.
»Kommt näher, Leude, et is wieder so weit. Jetzt isset H-high Noon. Und für die guten alten irischen Cowboys unter uns heißt dat, et is halb elf.« Die Menge lachte wohlwollend. »Jetz kommt der Revolver-Tanz. Kommt, stellt euch inne Reihe. Wir fangen gleich mitte erste Runde an.«
Froh über die Ablenkung trank Eugene den Rest seines bernsteinfarbenen Lagers aus. »Na dann! Los geht’s.« Er stand auf und zog Agnes, ohne ihre Antwort abzuwarten, aus dem Stuhl. Er schob das Jackett zurück und zeigte seine zwei silbernen Pistolen. Dann nahm er den Holster ab und schlang ihn ihr um die Hüfte. Er zog den Gurt fest, aber er saß immer noch locker. »Pass auf. Schau her.«
»Der Cowboy auf der Bühne zählt bis drei.« Eugene hielt die Hände steif an den Seiten. »Erst wenn er bei drei is, darfste die Waffe ziehen. Verstanden? Wenn er bei drei is, ziehste deinen Revolver, und dann zielste, spannst den Hahn und schießt.« Eugene zog eine der Waffen, strich mit einer schnellen Bewegung den Hahn zurück und tat so, als würde er den Abzug drücken. »Keine Angst, wenne nich gut zielen kannst. Mach einfach, so schnellde kannst.«
»Das geht doch nicht. Ich mache mich völlig lächerlich.«
»Den Stolz hamwer an der Tür abgegeben.« Eugene zeigte auf seinen glänzenden Plastikstern. »Ich bin der Sheriff hier in der Stadt, und du bist meine Lady. Mit mir legt sich keiner an.«
Agnes hörte nur den Teil, wo er meine Lady sagte.
Der dürre Mann auf der Bühne rief zur Damenrunde, und die Frauen begannen sich in einer Reihe aufzustellen. Bis jetzt waren Agnes die ganzen Pistolen nicht aufgefallen, aber nun sah sie sie, lang und glänzend und unecht. Eugene schob sie in die Reihe. »Ich kann nicht!«, zischte sie.
»Stell dir einfach vor, es wär unser Colleen. Dann erwischst du sie bestimmt genau zwischen den Augen.«
Die ersten beiden Frauen stellten sich mit zwanzig Fuß Abstand auf den mit Sägespänen bestreuten Boden. Der dünne Mann präsentierte sie als Anniesland Angel und Delta Deirdre. Er hielt die Hand in die Luft und zählte laut ins Mikrofon. »Eins … zwei.« Auf drei griffen die Frauen nach den Revolvern an ihrem Gürtel. Sie zogen die Waffen, schoben mit der freien Hand den Hahn zurück und drückten ab. Es knallte laut und rauchend wie bei Spielzeugpistolen. Delta Deirdre kam Anniesland Angel eindeutig zuvor. Sie blies den Rauch vom Lauf des Revolvers. Der Saal grölte.
»Ach ja«, sagte Eugene. »Ich hab vergessen dir zu sagen, dasse nen Künstlernamen brauchst.« Grinsend schlich er davon. Sie beobachtete, wie er sich wieder an den Tisch setzte und noch eine Runde bestellte. Dann sah er sie an und hielt den Daumen hoch, die Finger rosa und fleischig.
Als Agnes den Anfang der Reihe erreichte, war die Luft schwefelschwer wie am Guy-Fawkes-Tag nach dem Feuerwerk. Die Frau an der Spitze fragte Agnes nach ihrem Namen, schrieb ihn auf und reichte ihn dem Mann am Mikrofon. Agnes wurde auf die Tanzfläche geführt und umgedreht, so dass sie der Frau, die sie erschießen musste, gegenüberstand. Leider hatte sie überhaupt keine Ähnlichkeit mit Colleen. Sie trug das Haar in Rattenschwänzen und hatte weiße Rüschensöckchen und ein kurzes Kinderkleid an, obwohl sie über sechzig war und aussah wie eine Schulköchin.
Der Mann auf der Bühne stellte die Schützinnen vor. Zur Linken stand Arizona Ann. Die Menge klatschte, als die Köchin den Saum ihres Kleids hob und einen Knicks machte. »Zur Rechten«, sagte der Mann und zeigte auf den Neuzugang, »haben wir Phoenix Rising.« Wieder klatschte die Menge, und Agnes hatte das Gefühl, dass sie für sie ein bisschen lauter klatschten.
Der Mann begann zu zählen. »Eins … zwei …«
»Halt! Tut mir leid. Einen Moment noch!«, rief Agnes, bückte sich und stellte die Clutchbag zwischen ihre Füße. Die Menge lachte. Agnes wurde dunkelrot.
Seufzend fing der Mann noch einmal an. Konzentriert schob Agnes die Zunge zwischen die Zähne. Alle Männer starrten sie an. »Eins … zwei … drei!«
Es knallte, und kurz darauf knallte es noch einmal. Agnes öffnete die Augen. Die Köchin riss triumphierend die Faust in die Luft.
Als der Sheriff dran war, schaffte er es bis zum Halbfinale, und Agnes saß die meiste Zeit allein am Tisch und trank ihr warmes Glas Cola. Eugene erledigte seine Gegner mit Leichtigkeit, und auf eine seltsame Art war sie stolz auf ihn; sie fühlte sich wie betäubt und gestattete sich den Gedanken, was für ein gutaussehendes Paar sie abgaben. Dann dachte sie an Colleen und all die anderen verkniffenen Gesichter, die sie verurteilten und vielleicht seine Schwestern waren.
Irgendwann wurde der Sheriff von dem Countrysänger rausgeschmissen, der sich der »singende Klempner« nannte. Der pockennarbige Kerl sah aus, als nähme er die Sache sehr ernst und übte heimlich bei Kenny-Rogers-Platten in seinem Zimmer. Er trug eine billige Clint-Eastwood-Grimasse zur Schau, die er stolz perfektioniert hatte.
Der Klempner gewann das Turnier; er bekam ein paar Getränkemarken, und irgendwann bestieg er die Bühne wieder, und seine Band spielte weiter. Jetzt strömten mehr Paare auf das Parkett, geölt mit billigen Getränken. Auch der Sheriff führte Agnes auf die Tanzfläche und zog sie an sich, auf die altmodische Art, wie es die jungen Leute heute nicht mehr machten.
»Mir gefällt dein Kampfname.«
»Danke, ich hatte ja nicht viel Bedenkzeit.« Er war warm und roch süß, und sein Atem war heiß. Sie ließ sich von ihm halten, schmiegte den Körper an seine fassbreite Brust.
»Du warst toll.« Er sah ehrlich stolz aus. Es machte sie froh.
»Na ja. Ich bin nach drei Sekunden umgelegt worden.«
»Hats nich geholfen, an Colleen zu denken?«
»Ich hatte die Augen zu.«
Eugene lachte schallend, und seine Augen glänzten angetrunken. »Tja. Auf jeden Fall haste den Preis als Schönste hier verdient.«
»Ach was. Aber warts ab. Zu Hause habe ich ein paar alte Vorhänge, aus denen mache ich mir fürs nächste Mal ein richtiges Kleid.«
Er wirkte erfreut. Dann schüttelte er sie leicht. »Gibt es ein nächstes Mal?«
»Na, frag schon, jetzt, wo ich das Outfit geplant habe.«
»Ich kanns kaum abwarten. Wirds eins von diesen großen bauschigen Hurenkleidern?«
Agnes zuckte, als wäre er ihr auf den Fuß getreten. Er spürte, wie sie in seinen Armen erstarrte. Sie wich zurück, und die Stellen, wo sie sich an ihn geschmiegt hatte, füllten sich mit kalter Luft. Die Band spielte einen neuen Song, eine der traurigen Balladen, bei denen Frauen mit Frauen tanzten und mitsangen.
»Wie lange bist du schon trocken?«
»Das solltest du vielleicht deine Colleen fragen.« Jetzt war es Eugene, der erstarrte.
»Isset schwer? Nich zu trinken?«, fragte er ernst.
»Ja, und es wird immer schwerer, nicht leichter.«
»Wie dat?«
»Na ja, man wird zwar jeden Tag ein bisschen stärker, aber der Alkohol lauert immer im Hintergrund. Es spielt keine Rolle, ob du wegrennst oder dich wegschleichst, er ist immer genau hinter dir, wie ein Schatten. Der Trick ist, nicht zu vergessen.«
»Wat nich zu vergessen?«
»Alles Mögliche«, seufzte sie. »Wie schwach du bist, wie schlimm es war, als du getrunken hast. Manchmal denkst du, du hättest es unter Kontrolle. Dass du es beherrschen kannst.«
»Ich wette, du kannst es beherrschen«, sagte er schlicht.
Sie sah zu ihm auf. »Deswegen ist es so wichtig, zu den Meetings zu gehen. Man beherrscht es nie.«
»Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich trinke?«
Sie zögerte einen Moment. »Nein.«
»Oder doch?«
»Oh, nein. Ich wünschte nur, ich könnte mit dir trinken. Normal sein.«
»Och, auf mich wirkste auch so ganz normal.«
Er hatte so schlicht, so schnell geantwortet, dass sie gerührt war. »Ob du es glaubst oder nicht, das war das Netteste, was seit langer Zeit jemand zu mir gesagt hat.«
Sie tanzten weiter, und Agnes versuchte, sich besser zu fühlen. Sie versuchte, den Zweifel und die Scham zu vertreiben und die Tagträume von vorhin wieder heraufzubeschwören. Er könnte der sein, der ihr helfen würde, sich aus der Leere herauszugraben, ein Freund, ein Liebhaber, ein Vater. Sie würde dafür sorgen, dass er sauber und satt war; und sie würde auch für sich selbst sorgen. Er würde ihr Geld geben. Sie würden Urlaub machen. Er würde mit einem großen Einkaufswagen in einem großen Supermarkt für sie alle einkaufen. Sie würde ihn lieben. Das war der Kurs, den ihre Tagträume nahmen.
Die kühle Lücke zwischen ihren Körpern schloss sich wieder, als sie die Frage stellte, die ihr auf dem Herzen lastete: »Wenn Colleen dir erzählt hat, was für eine Schande ich bin, warum bist du heute mit mir ausgegangen?«
Er sagte lange nichts; das Warten machte sie verlegen, und als er schließlich antwortete, war klar, dass er sich die Frage schon selbst gestellt hatte. »Ich bin schon viele Jahre einsam. Ich war schon lange einsam, bevor meine Frau gestorben is. Versteh mich nich falsch. Sie war ne gute Frau, ne gute Frau wie unser Colleen, aber wir sind einfach in unserm Alltag steckengeblieben.« Die Musik passte nicht zur stillen Traurigkeit seiner Worte. »Wennde überlegst, bin ich die meiste Zeit meines Lebens unter Tage gewesen. Da war nich viel, wat ich nach Feierabend erzählen konnte. Nach zwanzig Jahren, worüber redet man da noch? Aber sie warne gute Frau. Sie hat immer viel und warm zu Abend gekocht, Fleisch mit Soße, die Teller heiß, weilse den ganzen Tag zum Vorwärmen im Ofen standen. Wir ham viel und warm gegessen, weil wir uns nix mehr zu sagen hatten. Jedenfalls nix, wat interessant war.«
Er fuhr fort. »Ich bin jetz dreiundvierzig. Dat sind vier Jahre älter wie mein Vatter, wie er gestorben is, und eigentlich müsst ich schon fertig sein. Eigentlich hätt ich in Rente gehen und den Rest meiner Tage mit ihr verbringen sollen, ohne dass wa uns wat zu sagen hatten.«
Sie hörte, wie seine Stimme rau wurde. »Als ich dich gesehen hab, war ich nich auf der Suche. Ich wusste nix von dir, hab Colleen nie deinen Namen sagen hören. Sowat is Weibersache. Über sowat redense nich mit Männern. Tratsch. Gerüchte. Kirche. Dat is ihr Club. Ich weiß nur, dass ich, als ich dich da hinter der Scheibe sitzen sah, jemand gesehen hab, der auch einsam is, und ich hab gehofft, dass wir uns vielleicht wat zu sagen haben.« Seine Lippe zitterte. »Und da is mir wat klar geworden. Ich bin noch nich fertig mit meim Leben.«
Agnes küsste ihn. Eugene, der Standhafte und Ehrliche. Seine Lippen waren hart, aber sie schmeckten süß.