Agnes kniete mit dem Rücken zur Tür auf dem Schlafzimmerteppich. Im Radiowecker spielten leise Liebeslieder, und sie wackelte mit den Zehen und summte glücklich mit. Shuggie sah zu, wie sie mit konzentriert gesenktem Kopf haufenweise Unterwäsche durchging. Sie sortierte alles in Schwarz und Weiß, und dann unterteilte sie den weißen Stapel in Schneeweiß, Cremeweiß und Früher-mal-Weiß, die letzten zum Aussortieren. Shuggie stellte sich hinter sie; er spreizte die Zehen und verschränkte sie mit ihren, zwängte jeden Zeh zwischen die seiner Mutter. Er legte den Arm um sie und sah ihr bei der Arbeit zu.
Sie hielt ihm eine Unterhose hin, die vorne einen Satinzwickel hatte und an den Seiten nur aus Spitze bestand. Sie zupfte an der Seitennaht. »Was hältst du davon?«, fragte sie. »Ich glaube, sie sitzt zu tief, zu sehr auf der Hüfte, ist vielleicht ein bisschen altmodisch?«
Die Unterhose erinnerte ihn an irgendwas. Shuggie sah von der Unterhose zur weißen Spitzengardine am Fenster. Agnes folgte seinem Blick. »Du Frechdachs!« Aber sie war nicht böse, sondern lehnte sich an ihn und warf die Unterhose zu den Aussortierten. »Das wäre geklärt!«
Shuggie griff nach einem alten weißen BH. Er dehnte ihn und lauschte dem elastischen Ächzen und Schnappen. »Ich wette, aus dem könnte Leek eine Steinschleuder machen. Mit fünf Stück Kohle würde ich den McAvennies alle Fenster einschlagen.«
Agnes bog seine Finger auf und warf den BH zurück zum Ausschuss. »Das könnte ich nie wiedergutmachen.«
»Wozu tust du das überhaupt?«
Agnes hielt sich ein Negligé vors Gesicht, ließ den seidigen Stoff wie einen Schleier unter ihren Augen flattern und bewegte ihn hin und her, als gehörte sie zu Sindbads verzaubertem Harem. »Ich muss hier bloß mal Ordnung reinkriegen.«
»Aber wofür? Father Barry hat gesagt, der einzige Mensch, der unsere Unterwäsche sehen soll, sind wir selber.«
»Dieser Father Barry scheint ja was von Spaß zu verstehen. Aber wenn du es unbedingt wissen willst, ich habe ein Rendezvous«, sie beugte sich verschwörerisch vor, »nur dass es tagsüber ist.«
»Mit dem Taxifahrer? Aber dem zeigst du doch nicht deine Unterwäsche, oder?«
Sie lachte und rieb seine kleine Stupsnase. »Genau, mit dem großen Wikinger. Und zu deiner Information, nein, ich zeige ihm nicht meine Unterwäsche.«
Er war so aufgeregt gewesen. Seit sie in den Hackney gestiegen war, sagte er alle paar Minuten abwechselnd: »Es wird dir gefallen«, und: »Ich hoffe, es gefällt dir.« Eugene nahm Straßen, die Agnes nie gesehen hatte, und zuerst war sie enttäuscht, dass sie nicht in Richtung Stadt, sondern raus aufs Land fuhren. Eigentlich hatte sie gehofft, er würde sie in der Stadt schick zum Mittagessen einladen, oder noch besser, in die Matinee im King’s Theatre, und entsprechend hatte sie sich angezogen.
Jetzt waren sie angekommen und blickten in den tiefen Erdspalt, und Eugene kratzte sich verlegen am Kopf. »Verdammt, ich muss dich wohl tragen.«
Ihre schwarzen Pumps versanken im Matsch, und sie drohte jeden Moment steckenzubleiben. »Und wenn du mich fallen lässt?«
Er spähte in die Kluft. »Och, keine Sorge. Du wärst sofort tot.« Er ging vor ihr auf ein Knie wie ein Ritter, damit sie ihm auf den Rücken steigen konnte. Behutsam zog Agnes den Rock hoch so weit es ging, und es war ihr egal, wenn er ihre Beine sah, nur den hässlichen, breiten Zwickel der schwarzen Nylonstrumpfhose wollte sie ihm nicht zeigen.
Sie schlang die Beine um ihn, und er hob sie mit Leichtigkeit hoch. Der Abstieg war sehr gefährlich; zwar waren in der klammen Erde ein paar rutschige Stufen ausgetreten, aber weiter unten bröckelte das Gestein, und der Pfad wurde von abgestürzten Felsblöcken blockiert. Eugene ging langsam und hielt sich dicht an der Felswand. Mehrmals musste er Agnes absetzen, ein Stück vorausklettern und ihr dann über das Hindernis helfen. Als sie den Boden der Schlucht erreichten, waren beide schmutzig und außer Atem.
Der Canyon, in dem sie standen, war über Jahrtausende vom langsam strömenden Wasser ausgehöhlt worden. Der träge Fluss war rostrot von den im Wasser schwebenden Sandsteinsedimenten der Millennien. Fast sah es aus wie verdünntes Blut, und der Anblick war Agnes unbehaglich. Die roten Felswände ragten über ihnen empor, krümmten und wanden sich nach der bedächtigen Willkür des Stroms. In der Mitte erhob sich ein seltsamer Sandsteinsockel aus dem Wasser, der aussah wie ein Altar. Zum Grund hin wurde die Schlucht breiter, und oben an der engen Öffnung wucherten Bäume und Moos über die Kanten. Als Agnes hinaufblickte, sah sie kaum ein Stück Himmel. Eugene strahlte.
»Die Teufelskanzel«, sagte er stolz. »Is dat nicht umwerfend?«
Agnes stand auf den Fersen. Die Absätze ihrer Pumps kippten und blieben in den Ritzen des Gesteins stecken. »Auf jeden Fall merkt man, dass du Bergmann warst.«
Er streichelte zärtlich über den mossbewachsenen Sandstein, als hätte er ihn vermisst. »Zum ersten Mal war ich mit meim Vatter hier. Damals hat fast keiner den Ort hier gekannt. Er hatten Klappstuhl unnen pah Dosen mitgebracht und hat uns stundenlang spielen und rumtollen lassen.« Eugene sah sich versonnen um und dachte an die schönen Zeiten. »Dat Wasser is eiskalt, aber unser Coleen is immer reingehüppt. Die hatte so lange Beine, damit hatse uns in jedem Rennen geschlagen.«
Agnes sah mit gerunzelter Stirn in das blutrote Wasser, die Handtasche unter den Arm geklemmt. »Abends hat sie wahrscheinlich ausgesehen wie Carrie.«
Eugene beugte sich vor, schöpfte eine hohle Hand aus dem Fluss. »Nein, nein! Dat kannste trinken, es is quellfrisch. Kuck.«
Er hielt ihr das Wasser an die Lippen, aber sie griff sich an die Brust und schüttelte den Kopf. Fast im gleichen Moment bereute sie es. Eugene war geknickt. Er trocknete sich die nasse Hand an der Hose ab. »Wie dumm von mir, wat? Wat hab ich mir bloß dabei gedacht, ne piekfeine Dame wie dich an son Ort zu bringen?«
»Aber nein. Ich habe nur nicht mit so etwas gerechnet.« Sie legte die Hand auf den roten Sandstein und versuchte, die Wärme seiner Erinnerungen zu spüren. »Ich glaube, es ist bei uns beiden eine Weile her, dass wir jemand Neues kennengelernt haben, oder?«
»Merkt man dat?« Eugene rieb sich an der Rückseite seines Hosenbeins den Staub vom Schuh. Mit dem Daumennagel löste er ein Stück roten Stein aus der Wand. Dann drückte er ihn, bis seine Knöchel weiß wurden. »Ich war bloßen einfacher Bergmann, aber ich wette, wenn ich den hier lang genug drücke, kommten Diamant raus.«
Agnes lachte. Sie öffnete ihre Handtasche und hielt sie ihm hin. »Warum sagst du das nicht gleich? Das ist ein Wort!«
Als zwei deutsche Touristen herunter in die Schlucht stiegen, trug er sie auf dem Rücken zurück nach oben. Diesmal schlang sie sich mit dem ganzen Körper um ihn und hielt die Lippen absichtlich ganz dicht an der rosa Haut hinter seinem Ohr. Eugene hatte den Tag genau geplant, und egal, was er vorhatte, sie nahm sich fest vor, ihm nichts mehr davon zu verderben.
Sie fuhren zu den Campsie Fells und folgten einem matschigen Wanderweg zur anderen Seite der Hügel, aber diesmal beschwerte sich Agnes nicht. Dann setzten sie sich an einen der grünen Hänge und blickten hinaus auf die Stadt in der Ferne. Eugene hatte eine alte karierte Wolldecke mitgebracht, und ohne dass sie ihn darum bitten musste, setzte er sich schützend zwischen sie und den heulenden Wind und packte das Picknick aus, das er vorbereitet hatte.
Es war eine einfache Mahlzeit, herzhaft und gut. Da waren üppige Käsebrote mit Käsescheiben so dick wie das Brot, eine ganze Steige großer roter Erdbeeren und eine Wanne voller Würstchen, die er zu Hause gebraten hatte. Was dem Mahl an Raffinesse fehlte, machte es durch die Menge wett; Eugene hatte genug zu essen dabei, um eine ganze Schicht Bergmänner satt zu kriegen.
»Wie viel hat deine Frau früher gegessen?«, fragte Agnes.
»Aye, ich glaube, sie hatte einen gesunden Appetit.« Er ließ sie über ihn lachen, und Agnes merkte wieder, was für ein guter Mensch er war. Eugene zog eine Dose Lager aus der Sporttasche. »Dat stört dich nicht, oder?«
Sie kratzte Matsch von ihrem Rock. »Bitte. Fühl dich wie zu Hause.«
Er ließ ihr die Wahl zwischen einem warmen Pint Milch und einer Zweiliterflasche Gingerale. Sie zeigte auf die Limonade, und er schenkte ihr den Becher der Thermoskanne ein. »Wat trinkt man eigentlich, wenn man keinen Alkohol trinkt?« Er sah sie arglos an. Es war eine allgemeine Frage, die nicht persönlich gemeint war.
Aber Agnes fasste die Frage persönlich auf. »Am liebsten trinke ich die Tränen meiner Feinde, aber wenn die nicht zu haben sind, nehme ich Tee oder Leitungswasser.«
Sie stießen mit einem ausgelassenen slàinte! darauf an. Agnes stieg der vertraute lehmig-säuerliche Biergeruch in die Nase, und auf einmal bereute sie, dass Eugene gegen den Wind saß. Sie nahm sich ein Käsebrot; es war guter Käse, ein leuchtender, würziger Cheddar. Agnes pickte nur wie ein Vogel daran, damit das dick mit Butter bestrichene Brot nicht von hinten an ihrem Gebiss kleben blieb.
»Schmeckt es nicht?«
»Doch, es ist köstlich«, sagte sie. »Ich habe gerade überlegt, aber ich erinnere mich nicht, wann das letzte Mal jemand für mich was zu essen gemacht hat.«
»Oje, du wurdest ja völlig vernachlässigt.«
Sie streckte die Arme aus und lachte. »Lieber Gott. Danke. Das sage ich schon die ganze Zeit!«
»Tja, ich kann Käsebrote schmieren und Schinken mit Salat machen, wenn welcher da ist. Ich kann auch selber Dosen öffnen, und ich kann sogar ein weiches Ei kochen.« Er legte den Kopf schräg und grinste sie stolz wie ein kleiner Junge an.
Agnes griff sich seufzend ans Herz. »Mister McNamara, wo haben Sie nur die ganze Zeit gesteckt.«
Vielleicht erzählte er ihr irgendwann, dass er die Einkäufe für das Picknick in sein eigenes Haus schmuggeln musste wie ein Teenager eine Tasche voller Diebesgut. Irgendwann würde er ihr auch erzählen, dass er die dicken Brote morgens im Bad geschmiert hatte, auf einem Brett, nachdem er hinter sich abgeschlossen hatte. Er würde ihr von seiner Tochter Bernie erzählen und ihrer schrecklichen Neugier, aber später, viel später. All das konnte warten, er wollte ihr nicht den schönen Tag verderben.
Agnes hielt sich den Handrücken vor den Mund und gähnte. Eugene lachte, dann tat er dasselbe. »Aye, die Nachtschicht fällt eim immer innen Rücken.«
»Schau uns an. Bei Tageslicht kriechen wir herum wie ein paar nächtliche Kreaturen.«
Eugene trank einen Schluck Lager. »Ach. Ich bin einfach nur froh, dass ich Arbeit hab. Selbst wenn ich rumschleiche wien …«
»Wie ein Wiesel«, schlug Agnes vor.
»Missus, hamse mich etwa grade Wiesel genannt?«
»Andere Männer vielleicht. Aber dich, niemals. Abgesehen davon liebe ich Hermelin. Aus Wieselpelz kann man sicher auch einen wunderschönen Mantel machen.« Agnes gähnte wieder und richtete den Blick auf Glasgow. In diesem Moment schien die Stadt weit weg, ein grauer Haufen in einem grünen Tal. Sie sahen zu, wie die Strahlen der Nachmittagssonne, die sich durch die niedrigen Wolken bohrten, in der Stadt herumstocherten. »Können wir so lange hierbleiben, bis die Lichter angehen?«
»Wenn du nich erfrierst, aye, warum nicht.«
Als hätte das Wetter zugehört, blies im nächsten Moment ein kalter Wind über die Campsie Fells, und Agnes schauderte, als er ihr das Haar zerzauste. Eugene öffnete die Wand seines Körpers und klopfte sich an die breite Brust, als würde sie dorthin gehören. Sie war zu elegant, um auf allen vieren zu ihm zu kriechen. Also stand Agnes auf, stakste auf ihren schwarzen Pumps über die Wolldecke und setzte sich neben ihn.
Sie schloss die Augen, als er die Arme um sie schloss und sie beschützte. So saßen sie sehr lange da, ohne zu reden, und beobachteten, wie sich das Zwielicht träge über die Stadt senkte. In seinen Armen war ihr warm, und sie lehnte sich an ihn und vertraute seiner Standfestigkeit. Er rieb die Kälte aus ihren Schienbeinen, und sie betrachtete die Sommersprossen auf seinen Fingern, die langsam den spitzen Knochen ihres Knies nachfuhren.
Als er sie sanft in den Nacken küsste, schloss sie wieder die Augen und vergaß glücklich ihr Versprechen, ihm ihre Unterwäsche nicht zu zeigen.
»Aufwachen!« Sie schüttelte ihn fest. Der Junge öffnete blinzelnd die Augen. Sie stand mit einem Arm voller dunkler Kleider an seinem Bett. Sie beugte sich zu ihm und flüsterte aufgeregt: »Zieh dich an! Wir haben ein großes Abenteuer vor!«
Er war noch im Halbschlaf, als Agnes ihn auf der Pit Road zur Siedlung hinauszerrte. Mitten in der Nacht war es pechschwarz auf dem Torfmoor, und es war totenstill bis auf das leise Gurgeln der Gräben und den Gesang der Moorkröten. Seit es Eugene gab, kam ihr alles weniger unheilvoll vor, weniger wie ein schlürfendes schwarzes Loch, in dem sie gefangen gehalten wurde. Jetzt lachte sie, als Shuggie jammerte, und sie marschierte voraus, lockte und zog ihn voran in die Dunkelheit, ohne ihr fröhliches Lied zu unterbrechen. Ah beg yar parhdun, ah never promis’t yo-hoo a rose garh-dun. In der freien Hand schwang sie ein halbes Dutzend schwarze Mülltüten. In einer schepperte etwas schweres Metallisches, wie Bierdosen.
Als sie die Schnellstraße nach Glasgow erreichten, schlichen sie um die Tankstelle herum, bis sie unter den Eichen standen, die die Straße säumten. Agnes wartete auf eine Lücke im Verkehr, dann rannten sie zu der Verkehrsinsel in der Mitte der Schnellstraße. Wie Flüchtlinge kauerten sie in der Deckung eines dichten Dornengebüschs. Kichernd schüttelte Agnes die schwarzen Mülltüten aus, und ein Spaten und ein paar Setzschaufeln fielen heraus.
»Also gut, wir müssen schnell machen«, flüsterte sie und drückte die kleine Schaufel in den weichen Mulch. »Wir gehen erst, wenn wir. Jede. Einzelne. Haben.«
Shuggie lag auf dem Bett, immer noch in seiner Einbrechermontur. Er kaute auf der Lippe und dachte über den rothaarigen Mann nach, der seine Mutter küsste und sie wieder zum Singen gebracht hatte. Er wollte Leek nach seiner Meinung fragen, aber sein Bruder lag irgendwo unter einem Haufen Decken, und der Junge wusste, dass es besser war, wenn er seinen großen Bruder nicht aus den Träumen riss. Er tappte über den Teppich und zog den Vorhang zurück.
Was er draußen sah, ergab zuerst keinen Sinn. Der schmuddelige Sozialsiedlungsgarten vor dem Fenster war völlig verändert. Der kleine Fleck, früher nur braune Erde und hüfthohes Gras, hatte sich in ein wogendes Farbenmeer verwandelt. Dutzende gesunde üppige Blüten wiegten sich im Wind: pfirsichrosa, cremeweiße und scharlachrote Rosen, die tanzten und wippten wie fröhliche Luftballons.
Er lief hinaus in den klaren Morgen und sammelte die herabgefallenen Blütenblätter ein. Als er aufstand, klebten die fünf McAvennie-Kinder an den Latten des Holzzauns wie Plastiktüten, die der Wind dorthin gefegt hatte. Mit heruntergeklappten Kinnladen starrten sie das Meer der schönen Blumen an und atmeten hörbar durch den offenen Mund. »Wo habter die her?«, krähte Mistkäfer, das mittlere Mädchen.
»Keine Ahnung«, log Shuggie.
»Gestern Abend wahnse noch nich da.« Sie hatte einen braunen Schokomilchschnurrbart. Ihr stumpfes Haar war an den Seiten verfilzt und zeigte nach Westen die Straße hinunter, als gäbe es die Windrichtung an.
»Vielleicht sind sie einfach gewachsen«, gab er zurück. »Wie ein Wunder.«
Sie lachten ein tiefes, träges Lachen. Francis, der älteste, griff durch den Zaun und riss einer weißen Rose den Kopf ab.
»Hey!«, quiekte Shuggie, und es klang weibischer, als ihm recht war. »Bitte, lass das.«
Der Junge kletterte höher auf den Zaun, bis ihm die Spitzen der Bretter in den dünnen Bauch drückten. »Und wer will mich dran hindern?«, höhnte er.
»Ich meine nur, das sind nicht deine.«
»Deine sins auch nicht, Arschgesicht«, fauchte Mistkäfer voller Vorfreude auf den bevorstehenden Streit. Sie war halb so alt wie Shuggie und steckte ihn längst in die Tasche.
»Glaubste echt, die sin einfach so über Nacht gewachsen?«, fragte Francis.
»Vielleicht.«
»Oh Gott, du bist son schwuler Doofmann«, rief Mistkäfer und bleckte die spitzen Milchzähne zu einem Grinsen. Die McAvennies lachten, wippten auf dem Zaun und riefen im Chor: »Schwuler Doofmann, schwuler Doofmann.« Ihre Stimmen hallten weiter über die stille Straße als die Glocke des Eisverkäufers.
»Du stehst auf Pimmel und Ärsche«, sagte Francis. »Meine Mammy sagt, ich soll von dir wegbleim, sonst versuchste, mirn Finger innen Arsch zu stecken!« Die Kinder schaukelten wild auf dem Zaun und streckten die Klauen nach ihm aus. Abwechselnd spuckten sie in hohem Bogen in den Garten, um den Jungen und die strotzenden Blumen zu treffen. Dann kletterten sie nacheinander wieder vom Zaun und kehrten lachend auf die andere Straßenseite zurück. Als sie das Tor hinter sich schlossen, drehte sich Mistkäfer um und winkte zufrieden mit sich.
Shuggie sah ihnen nach, als sie der Reihe nach durch die Haustür marschierten. Er zog sich den Ärmel des schwarzen Pullovers über die Hand und wischte sich die Spucke aus dem Gesicht. Im nächsten Moment bereute er es. Colleen McAvennie stand rauchend am Fenster, die Arme vor dem dünnen Körper verschränkt, ein spitzes Lächeln auf das eingefallene, teefarbene Gesicht geklebt.
Alle Fenster standen offen, und auf dem Fensterbrett spielte der Kassettenrekorder. Agnes stand in abgeschnittenen Jeans und einem alten Baumwolltop zwischen den Rosen, die Träger heruntergeschoben, um die Konturen ihres Sonnenbrands nicht zu verderben. Der Sommer war ungewöhnlich heiß, mit vielen langen, trockenen Tagen am Stück und einer gleißenden Sonne, die jeden Eifer mit einem drohenden Hitzschlag und Brandblasen belohnte.
Agnes drehte sich um sich selbst, als würde sie mit einem imaginären Tanzpartner tanzen. »Schwing deinen kleinen Hintern raus und tanz mit deiner Mutter«, rief sie zu laut, und ihre Stimme hallte von den Häusern der Bergleute wider.
Shuggie saß im kühlen Schatten des Schlafzimmers auf der Bettkante und schmollte. Schon den ganzen Morgen saß er dort mit finsterer Miene. »Ach, komm, du kannst nicht den ganzen Tag drinsitzen«, lockte Agnes. »Bald ist die Sonne wieder für ein Jahr weg, und dann tut es dir leid.« Sie drehte sich mit der Pflanzschaufel im Kreis, als wäre sie verrückt geworden. Sie wirkte glücklicher, als er sich je erinnern konnte, und er war überrascht, wie weh es tat. Alles wegen des rothaarigen Kerls. Ihm war gelungen, wozu Shuggie nicht fähig war.
Agnes sah aus wie die Göttin der Rosen. Ihre Schultern und ihr Gesicht leuchteten pink von der Sommersonne. Die roten Äderchen von den Jahren der Winter und des Trinkens strahlten fröhlich auf ihren Wangen. Es war, als hätte sie Walt Disney persönlich angemalt und zum Leben erweckt, eine handfeste, rauchende Version von Schneewittchen.
Agnes schob den Oberkörper durchs Fenster des Jungszimmers und legte die weichen Brüste auf das Fensterbrett. Immerhin besser, dachte er, als wenn sie wie eine Verrückte vor den Nachbarn herumsprang. Er hatte sich noch nie für sie geschämt, wenn sie nüchtern war. Es war ein neues Gefühl, und es war nicht angenehm.
Shuggie setzte sich auf die Hände, um nicht die Fäuste zu ballen. Am liebsten hätte er um sich geschlagen. Ein paar Hiebe für die blöden Rosen, ein paar Kinnhaken für die blöden McAvennies, aber die meisten, weil er so lange auf dieses Glück gewartet hatte, und aus irgendeinem Grund konnte er es jetzt nicht genießen. Er blickte auf, und sie lächelte immer noch ihr dämliches Lächeln, und trotz allem war es ansteckend. Ihre Arme waren von den Rosen zerkratzt, doch es schien ihr nichts auszumachen. »Du kannst nicht wie ein altes Weib in der Stube hocken. Komm zu mir nach hinten in den Garten.«
Agnes verschwand aus dem Sichtfeld, und Shuggie schmollte noch ein bisschen vor sich hin. Aus Leeks Lakenberg tauchte eine weiße Hand auf. Sein Daumen zeigte drohend auf Shuggie und dann mit einem Ruck drohend in Richtung Garten. Shuggie wusste, dass sein Bruder, seit ihre Mutter nicht mehr trank, abends länger aufblieb. Er hatte auf großen Rollen Millimeterpapier Pläne von Holzschränken gezeichnet, die er an einer Wand des Zimmers einbauen wollte. Der erste war ein kompliziertes Regalsystem, das seinen Plattenspieler und seine Platten beherbergen sollte. Daneben plante er einen flachen Kiefernschreibtisch mit verschließbaren Fächern, damit er einen bequemen Platz zum Zeichnen hatte und einen Ort, wo er seine Bilder vor seinem Bruder wegsperren konnte. Wenn Leek bei seiner Lehrstelle war, sah sich Shuggie stundenlang seine Zeichnungen an. Die Schrankelemente wurden direkt an die Wand geschraubt. Shuggie berührte die Zeichnungen, und ihm gefiel der Eindruck der Beständigkeit, den sie vermittelten.
Shuggie hörte seine Mutter immer noch singen. Dann erklang ein lautes Scheppern, das Leek dazu brachte, unter den Laken zu strampeln und sich wütend umzudrehen. Shuggie gehorchte der Warnung und schlich sich aus dem dunklen Haus ins helle Sonnenlicht. Als er um die Ecke kam, stand seine Mutter mit dem Gartenschlauch über einer weißen Metallkiste, die sie mit Wasser füllte.
Sie hatte den alten Kühlschrank der Donnellys auf die Seite gekippt, der seit einem Jahr schmutzig und schimmelnd im Schatten des Hauses stand und darauf wartete, von der Stadt abgeholt zu werden. Aber die Stadt holte nur den Sperrmüll ab, der vorne an der Straße stand, und obwohl Bridie vier stramme Jungs im Teenageralter hatte, vergammelte der Kühlschrank hinterm Haus. Im Sommer roch er sauer und milchig, im Winter feucht und faul. Agnes hatte die Drahtschubladen herausgezogen, und jetzt füllte sie ihn mit Wasser. Die schwere Metalltür war aufgeklappt wie ein Sargdeckel.
Gemischte Gefühle stiegen in ihm auf. Das Verlangen, in den kalten Kühlschrank zu springen und die Tür zuzuschlagen, kämpfte gegen das Bedürfnis, ihr zu sagen, dass er sie liebte und glücklich war, dass es ihr besser ging. Er wollte sie mit seinen Geheimnissen erdrücken, so wie sie ihn mit ihren erdrückt hatte.
»Was stimmt mit mir nicht, Mammy?«, fragte er leise
Agnes kam durch den Garten und wischte ihm mit einer kühlen Hand über das heiße Gesicht. »Merkst du das? Du verglühst. Zehn Jahre, das ist einfach ein komisches Alter. Ich fürchte, du hast einen schlimmen Wachstumsschub.« Ohne zu verhandeln, zog sie ihm den schwarzen Pullover über den Kopf und die Hose herunter. »Mit Unterhose oder ohne?«, fragte sie.
»Mit natürlich«, knurrte er und verschränkte die Arme. »Wir sind doch nicht alle in Afrika.«
Der Kühlschrank war bis oben hin mit kühlem Wasser gefüllt. Auf dem Rücken liegend zeigte er eine verdrehte Landschaft der Höcker und Gemüsefächer. Ohne die Drahtschubladen war er so groß wie eine Badewanne, aber doppelt so tief, mit einem flachen Boden und steilen Wänden. Als Shuggie sich langsam ins kalte Wasser sinken ließ, lief es in einem Schwall über den Rand. Er sprang auf die Füße und sah Agnes erschrocken an.
»Hast du etwa mein Gras überschwemmt?«, fragte sie lachend.
Shuggie zog die Beine an und ließ sich wie ein Stein ins kühle Wasser plumpsen. Mit lautem Platschen flutete es über den Rand auf die Wiese. Unter Wasser blieb die Welt stehen. Über der Oberfläche erschien ein knittriges Gesicht und lächelte zu ihm herab. Das Gestrüpp der Wut in seinem Bauch verschwand, und er furzte große Blubberblasen.
Er verbrachte den Großteil des Nachmittags im Kühlschrank, auch als seine Haut längst wie kalter Porridge aussah. Agnes saß auf dem Rand, rauchte Zigaretten und trank echten kalten Tee aus der Tasse, aus der sie früher heimlich Alkohol getrunken hatte. Das überlaufende Wasser färbte ihre Jeansshorts in ein tiefes nasses Blau. Shuggie freute sich, dass es ihr nichts ausmachte.
Sie streichelte sein rabenschwarzes Haar, und er machte Gesichter wie ein kleiner Fisch für sie. »Was wirst du wohl für ein Mann, wenn du groß bist?«
»Was für einen hättest du gern?«
Agnes dachte einen Moment nach. »Einen friedlichen Mann.« Sie strich sein nasses Haar zurück. »Der weniger sorgenvoll schaut.«
Er verzog nachdenklich das Gesicht. »Ich weiß nicht. Ich will einfach nur bei dir sein. Ich will mit dir irgendwohin, wo wir nagelneu sein können.« Shuggie tauchte unter und schickte die nächste Flutwelle über Bord. Als er wieder hochkam, hielt er den Mund auf Höhe des Wasserspiegels. »Liebst du den großen Wikinger?«, fragte er plötzlich und sank tiefer. »Wird er mein neuer Vater?«
Sie antwortete nicht.
»Er ist ein McAvennie, und die sind ein Haufen fieser Schweine.«
Agnes saugte Luft durch die Zähne. »Na ja, so schlimm sind sie auch nicht.«
»Doch, sind sie, die Ärsche.« Er entspannte sich und furzte noch einmal blubbernd. Es war nicht besonders lustig, aber sie versuchten beide zu lachen.
Sie hatte gelächelt, aber dann zogen wieder Wolken über ihr Gesicht. »Wir waren zu lange nur zu zweit.«
Shuggie sah, wie sie die Lippen zusammenpresste. Sie seufzte tief, als sie aufstand und ihre Zigaretten und das Feuerzeug einsammelte. Sie blickte nicht zu ihm in den Kühlschrank, sondern hinaus auf das braune Torfmoor. »Wir waren zu lange nur du und ich«, sie seufzte wieder. »Das ist nicht gut.«
Agnes riss den Umschlag auf, der für den Katalog gedacht war. Sie zog einen großen blauen Schein aus dem dicken Bündel ihres Tankstellenlohns und schickte den Jungen mit dem nagelneuen Fünfer zum Eisverkäufer. Überall in der Siedlung wurden Gaszähler geknackt, bronzefarbene Pennys gezählt, und ganz Pithead strömte auf die Straße. Jeder wollte der erste sein in der Schlange für eine Portion Zucker. Schmutzige, glückliche Kinder galoppierten voraus, und Hausfrauen watschelten hastig hinterher.
Der Eiswagen schaffte eine klimpernde Runde »Flower o’ Scotland«, bevor die schubsende Menge ihn umzustoßen drohte. Die große weiße Blechbüchse sah aus, als wäre sie nach der Zeichnung eines Kleinkinds gebaut worden. Sie hatte die besten Zeiten hinter sich: Die Wände hatten Beulen und Löcher, die notdürftig mit angeschraubten Blechen und Brettern geflickt worden waren. Der Wagen saß hoch auf den Rädern, und die Kinder mussten sich auf Zehenspitzen stellen, um einen Blick durch das Schiebefenster zu werfen. Wenn die Süßigkeiten nicht direkt an der Scheibe lagen, konnten sie nicht erkennen, was es gab. Gino, dem Italiener, der den Wagen fuhr, war es so recht. Von oben konnte er den jungen Mädchen besser in den Ausschnitt sehen.
Shuggie stand ganz am Ende der quirligen Schlange. Er stand hinter Shona Donnelly, die über ihnen wohnte, Bridies jüngstem Kind und einzigem Mädchen. Shona drehte sich um, blinzelte ihm zu und zog ihr Top tiefer, um ihm die rosige Wölbung in der Mitte ihres Sport-BHs zu zeigen. Mit vier Brüdern kannte man sich mit Männern aus, und wenn man das einzige Mädchen war, wurde man immer zu Ginos Eiswagen geschickt. Sie zog eine Grimasse wie eine gurgelnde Kröte und verdrehte die Augen.
Jinty McClinchy brauchte ewig, um ihren Drehtabak und ihre Pfefferminzschokolade zu bestellen. Die Kinder nach ihr hatten zwar kein Geld, aber einen großen Vorrat leerer Limonadenflaschen, die jeweils zehn Pence wert waren. Sie hievten ihren Schatz klirrend zum Fenster hoch, und dann ließen sie sich Zeit, den Gewinn in Süßigkeiten umzusetzen. Penny-Kaugummis und Brauselollis, billige Schokomäuse und rosa Marshmallow-Pilze, alles einzeln abgezählt. Am Ende der Schlange stemmte Shuggie die Hände in die Hüften; im Kopf korrigierte er Ginos Rechnung jedes Mal, wenn der Eisverkäufer jemanden übers Ohr haute.
Den Abend verbrachten sie auf der Couch, sahen Seifenopern und aßen sich durch die Schokolade. Kaum waren sie mit einer Tafel fertig, griffen sie zur nächsten und rissen mit glücklichen Seufzern das glänzende Papier ab. Es fühlte sich gut an, als wären sie Millionäre. Shuggie lag auf dem Rücken, stopfte sich voll und blickte hoch ins Gesicht seiner Mutter, um in den sechseckigen Gläsern ihrer Brille die Spiegelung des Fernsehbilds zu verfolgen. Agnes lutschte die Schokolade von der Pfefferminzfüllung und schüttelte missbilligend den Kopf über die Dramen, die im Fernsehen abliefen. Sie sah in Sue Ellen Ewing ihr Spiegelbild, wenn auch im Zerrspiegel. Immer, wenn Sue Ellen betrunken auftauchte, schnalzte Agnes mit der Zunge und sagte zu Leek: »Oh, da bin ich wieder, oder?« Dann kicherte sie mit schokoladeverschmierten künstlichen Zähnen. Der falsche Glamour von Sue Ellens Tragödie war fast beneidenswert. Agnes sagte zum Fernseher Dinge wie: »Es ist eine Krankheit, wisst ihr?«, und: »Die Arme kann nicht anders.« Shuggie sah, wie die Schauspielerin ihre Lippen mit unechter Emotion zittern ließ. Das Ganze war ein Haufen Lügen. Wo war der Kopf im Ofen und das Haus voller Gas? Wo waren die Tränen und die halb ausgezogenen Onkel und die Schwester, die nie zurückkam?
Die Vorhänge standen offen, und in der Siedlung flackerten die orangen Laternen auf. Dallas war zu Ende, und die Straßen leerten sich, weil die Kinder nach Hause gingen. Von der Schokolade war nichts mehr übrig, und sie saßen schweigend da, mit schmerzendem Magen und schlechtem Gewissen, und sahen nur halb hin, als die Reklame mit den sprechenden Schimpansen lief.
»Tanz für mich, Hugh«, sagte Agnes aus heiterem Himmel.
»Was?« Shuggie rollte sich über den Teppich.
Leek stöhnte, er mochte es nicht, wenn sie seinen Bruder wie einen Zirkushund behandelte. Was sollte ein weicher Junge in einer harten Welt? Leek ließ sie mit den Spielchen allein. Sie hörten, wie er die Schlafzimmertür zuschlug, und wussten, dass er sich die schweren Kopfhörer aufsetzen und sich über sein schwarzes Skizzenbuch beugen würde.
»Komm, tanz für mich. Zeig mir, wie die jungen Leute heute tanzen.« Agnes schob eine Kassette in das Fach der gemieteten Anlage. Als sie sich den perlenbestickten Pullover über die Schenkel zog, wusste er, dass sie in Gedanken anderswo war.
»Also, man steht ungefähr so.« Er stellte die Füße hüftbreit auseinander. »Und dann …« Er begann mit dem Po zu wackeln.
Agnes machte es nach. »So?« Bei ihr sah die Bewegung natürlicher aus, weil sie eine Frau war.
»Dann musst du die Schultern schütteln, aber die Hände dabei nur ein bisschen bewegen.« Er wackelte mit den Schultern, wie er es im Fernsehen gesehen hatte, bei einer schwarzen Sängerin mit Schulterpolstern und einem Irokesenschnitt in Form einer Ananas. »Dann machst du so«, er bewegte sich schneller, die offenen Hände in entgegengesetzter Richtung zu den Hüften rotierend, ein bisschen wie ein Skifahrer, ein bisschen wie ein Epileptiker.
»So?«, fragte sie. Es sah aus, als hätte sie einen Schlaganfall.
»Na ja. So ungefähr.« Er war nicht ganz überzeugt. »Mach mal das«, er ruckte wie ein Roboter und sprang vor und zurück, als versuchte er ein Feuer auszutreten.
Als Agnes es versuchte, klirrten die Glasfigürchen im Schrank. »Bist du dir sicher, dass die jungen Leute heute so tanzen?«, fragte sie, jetzt schon leicht außer Atem.
»Oh, aye«, sagte Shuggie, wackelte mit den Schultern nach vorne und griff sich mit beiden Händen an den Kopf, als hätte er Kopfschmerzen. Er hatte ihr die Schrittfolge von Janet Jacksons »Control« gezeigt.
»Ich muss mich kurz ausruhen.« Agnes ließ sich aufs Sofa fallen und griff nach den Zigaretten. »Aber du tanzt weiter, und ich sehe dir zu. Ich will eine gute Tänzerin sein, wenn ich mit Eugene in die Stadt fahre.«
Shuggie fühlte sich ausgetrickst. Hätte er das gewusst, hätte er ihr lieber den Zombie-Tanz aus »Thriller« beigebracht. Das wär ihr recht geschehen. Der nächste Song begann, und Shuggie tanzte weiter. Jetzt war es ein affektierter Shimmy, er öffnete die Hände effektvoll wie Feuerwerk und warf den Kopf herum, als hätte er langes sexy Haar. Shuggie wackelte mit dem ganzen Körper, schwang die Hüften zu übertrieben für einen Jungen. Er bewegte sich zur Musik wie zu einer großen Oper, nicht zu einem Popfabrik-Hit mit drei Akkorden für dreizehnjährige Mädchen.
»Toll! Du bewegst dich wie eine Katze!«, sagte sie. »Genauso mache ich es, wenn ich nächste Woche tanzen gehe. Eugene fällt tot um. Warte es nur ab.«
Er genoss ihre Aufmerksamkeit. Es war, als würde etwas in ihm aufblühen, und er begann den Körper zu winden, wie er es bei den schwarzen Tänzern im Fernsehen gesehen hatte. Er warf alle Hemmungen ab und drehte und schüttelte sich und vibrierte mit jeder Faser seines Körpers wie im Fernsehen. Mitten in einem Sprung aus Cats schrie er laut auf. Es war ein schriller, femininer Schrei, der gleiche Schrei, den er losließ, wenn Leek sich im Dunkeln auf ihn stürzte. Shuggie stand wie versteinert mit ausgestreckten Fingern da. Er hatte es die ganze Zeit nicht bemerkt, und er würde nie erfahren, wie lange sie schon dastanden. Im Fenster des Wohnzimmers gegenüber standen die McAvennies. Sie drückten sich die Gesichter an der großen Scheibe platt und kamen fast um vor Lachen. Das Fenster klirrte, als sie vor Aufregung dagegenschlugen. Mistkäfer machte eine kleine sexy Pirouette, und Shuggie war klar, dass sie ihn nachahmte.
Er sah seine Mutter an; wann hatte sie es bemerkt? Sie erwiderte seinen Blick und zog nur an der Zigarette. Ohne zum Fenster zu sehen, zischte sie durch zusammengebissene Zähne. »Wenn ich du wäre, würde ich weitermachen.«
»Ich kann nicht.« Die Tränen kamen.
»Du weißt, dass sie nur gewinnen, wenn du sie gewinnen lässt.«
»Ich kann nicht.« Seine Arme und Finger waren immer noch ausgestreckt und er stand erstarrt da wie ein toter Baum.
»Gib ihnen die Genugtuung nicht.«
»Mammy, hilf mir. Ich kann nicht.«
»Doch. Du. Kannst.« Sie lächelte immer noch durch die Zähne. »Kopf hoch, und gib Gas.«
Bei den Mathehausaufgaben war sie nicht zu gebrauchen, und an manchen Tagen verhungerte er regelrecht, bevor er von ihr eine warme Mahlzeit bekam, aber als Shuggie sie jetzt ansah, wusste er, dass genau das hier ihre Stärke war. Jeden Tag schminkte und frisierte sie sich und stieg mit hoch erhobenem Kopf aus ihrem Grab. Wenn sie sich im Suff blamiert hatte, war sie am nächsten Tag aufgestanden, hatte ihren besten Mantel angezogen und war der Welt entgegengetreten. Wenn ihr Magen leer war und ihre Kinder hungrig, machte sie sich zurecht und ließ sich vor der Welt nichts anmerken.
Im ersten Moment war es schwer, wieder in Bewegung zu kommen, die Musik zu spüren, zu dem anderen Ort im Kopf zurückzufinden, wo er Selbstbewusstsein hatte. Nichts passte zusammen, die rutschenden Füße, die schlackernden Glieder, aber wie ein träger Zug nahm er langsam Fahrt auf, und bald schaffte er es wieder abzuheben. Er versuchte sich bei den wilden, großen Bewegungen zurückzuhalten, bei den wiegenden Hüften und schlenkernden Armen. Aber es steckte einfach in ihm, und als es aus ihm herausbrach, stellte er fest, dass er es nicht aufhalten konnte.