Als er mit blauen Beinen auf dem Spielfeld stand, wurde er wie gewöhnlich als letzter gewählt. Er hatte damit gerechnet, aber deswegen tat es nicht weniger weh. Der dicke Junge, der Asthma-Junge, der Junge mit dem Hinkebein und Lachlan McKay, der Kröten liebte, wurden alle vor ihm gewählt. Trotz der Novemberkälte musste sein Team das Hemd ausziehen. Er wanderte auf dem Spielfeld auf und ab, rieb sich die Brust und wusste nicht genau, ob der Wind seine nackte Haut gefror oder versengte.
Der Lehrer brüllte, wenn ihm kalt sei, solle er sich mehr bewegen. Die Sohlen seiner dünnen Stoffturnschuhe quietschten im nassen Gras, während die drahtigen blaubeinigen Jungs mit den Stollenschuhen dicke Erdklumpen aus dem Boden rissen, wenn sie an ihm vorbeistürmten. Er machte einen trägen Versuch, der groben Richtung des Balls zu folgen, doch er machte nie den Fehler, ihm zu nahe zu kommen. Der Lehrer hatte es aufgegeben, ihn anzufeuern, und versuchte es stattdessen mit Beschimpfungen. Er war ein alter Knochen, zäh und kerngesund, ein ehemaliger Champion der schottischen Shinty-Liga. Als vor ein paar Jahren der Rohrstock verboten worden war, hätte er den Lehrberuf beinahe an den Nagel gehängt. Doch am Ende machte es kaum einen Unterschied; jahrzehntelang hatte er die dunklen Winkel der Seele kleiner Jungen ausgespäht, und er wusste, wo der wahre Schmerz und die wahre Motivation lagen.
Er legte die Hände um den Mund und brüllte quer über das Spielfeld: »BEWEG DICH, BAIN! Du kleine Schwuchtel.« Von den anderen Jungs erntete er keckerndes Gelächter. Obwohl sie erschöpft und außer Puste waren, hatten sie immer genug Luft, um Shuggie auszulachen.
Shuggie hatte nicht damit gerechnet, dass Lachlan McKay mitlachen würde. Der Tag wäre schleppend wie jeder andere vorbeigegangen, doch heute hatte sogar der Krötenjunge gelacht. Der Rotz und der Dreck um seinen Mund bekamen Risse, und er lachte breit und schadenfroh. Shuggie bewegte seine kalten Beine und lief das Spielfeld hinauf. Lachlan stand hinten, in der Nähe seines Tors, und wartete auf den Ball. »Warum hast du gerade gelacht?«
»Wat?«
»Ich habe gefragt. Warum hast du gelacht?«
»Weil ich Lust dazu hatte.« Er kratzte sich den Matsch vom Bein. Seine Kleider waren alt und passten schlecht. Er trug das Hemd seines großen Bruders auf links gedreht und ein paar geborgte Turnhosen, die man kriegte, wenn man seinen Sportbeutel vergaß, weil man sich lieber gedrückt und ein Buch gelesen hätte. An seinen Beinen klebten mehrere Schichten Dreck, und statt Sportsocken mit Logo trug er dünne schwarze Strümpfe.
»Aber … aber«, stammelte Shuggie und starrte ihn von oben bis unten an.
»Aber wat?« Der Junge stellte sich breitbeinig hin und zuckte mit dem Kopf wie ein angriffslustiges Frettchen.
»Wie kommst du dazu, über mich zu lachen?«
Der Ball segelte über sie hinweg, und die anderen galoppierten in einem Tross über das Feld wie Shetlandponys, die Angst hatten, getrennt zu werden. Der Lehrer blieb stehen. »Oy, ihr zwei Ladys, wenner mim Teetrinken fertig seid, wir wärs mim bisschen verdammtem Fußball?«, bellte er.
Vielleicht hätte sich Shuggie gewehrt, vielleicht hätte er etwas Mutiges gesagt, wenn ihn nicht plötzlich eine Faust im Gesicht getroffen hätte. Er fiel rückwärts ins aufgewühlte Gras und landete mit dem nackten Rücken im Matsch.
»McKay!«, stöhnte der Lehrer halbherzig. »Wat hab ich dir gesagt?« Der blonde Junge stand über Shuggie. Shuggie wartete, dass er seine Strafe bekam, die süße Rache des Schwächlings. »Du sollst keine Mädchen schlagen. Und jetzt spiel weiter.« Das ganze Feld brach in Gelächter aus.
Lachlan bebte vor Zorn. »Du häls dich wohl für wat Besseres, du Tunte?«, fauchte er. »Nacher Schule, du und ich, dann zeig ichs dir.« Eine Welle der Aufregung schwappte über den Platz.
Für den Rest des Spiels liefen die Jungs, wenn sie an Shuggie vorbeikamen, langsamer und raunten ihm zu: »Oooh. Aaah. Du bist tot.« Ein oder zwei sagten, sie könnten es kaum abwarten und wünschten, es wäre schon drei Uhr. Die McAvennies behaupteten, sie hielten zu ihm, und dann rannten sie zu Lachlan, um ihn noch mehr aufzustacheln.
Die Stunden nach dem Mittagessen vergingen in einem Meer schadenfroher Blicke. Keiner sah den Lehrer an, alle Augen waren auf den Todgeweihten in der letzten Reihe gerichtet. Ein paar Mädchen lächelten mitfühlend, aber die meisten glucksten voller Vorfreude auf das Spektakel. Die große Uhr über der Tafel war ihm bisher kaum aufgefallen; jetzt klebte er an den Zeigern, die viel zu schnell ihre Runden zogen. Selbst die Uhrzeiger schienen es kaum abwarten zu können.
Der schmutzig blonde Junge kam stolpernd aus der Traube seiner Kameraden. Er war vom Beifall seiner Mitschüler berauscht. Letzte Woche hatten sie ihm gesagt, er stank, als hätte er eingeschissen. In der Woche davor hatten sie ihn gefragt, ob die Stütze, die seine Mutter bekam, für eine Gesichtsoperation reichte. Jetzt genoss er ihre falsche Bewunderung, als sie sich um ihn drängelten, und grinste wie ein glückliches Haustier. Fast vergaß er dabei, warum er eigentlich kämpfte.
Shuggie beobachtete ihn, und der Schmerz wuchs. Er hätte mit einem Lehrer reden und drinnen bleiben können. Er hätte warten können, bis den anderen Kindern langweilig wurde, bevor er sich aus dem Schulgebäude wagte und nach Hause lief. Doch als er den blonden Jungen lächeln sah, hatte er das Gefühl, er wäre am tiefsten Punkt der Erde angelangt. Die Schulglocke läutete. Der müde Lehrer drückte ein Auge zu, als die Kinder die Jungs praktisch hinaustrugen. Der Pulk setzte die beiden im dunklen Schatten der Schule ab, einer vergessenen Ecke hinter den Fertigpavillons, wo die Müllcontainer der Cafeteria standen.
Lachlan lächelte, und die Menge bejubelte ihn wie einen Gladiator. Sie bildeten einen Halbkreis, und die beiden Kämpfer sahen sich in die Augen. Hände bohrten sich in Shuggies Rücken und schubsten ihn zur Mitte. Lachlan stieß Shuggie gegen die Brust und schubste ihn zurück, und er roch seltsam nach Heu und Kaninchenstall. »Finger weg, du Scheißschwuchtel«, lispelte er und sah sich um. Die Zuschauer liebten ihn.
Shuggie wurde von der Menge aufgefangen und zurückgeschubst. Mistkäfer und Francis standen am Rand. »Warum führste nich deinen Tanz für uns auf?«, krähte Mistkäfer. Es ergab keinen Sinn, aber die Menge lachte, als hätten sie noch nie etwas so Witziges gehört.
Etwas platzte in Shuggies Brust. Er biss sich auf die Wangen. Bevor er wusste, was er tat, stürzte er sich über den Kampfplatz und segelte auf den blonden Jungen zu. Im Bruchteil einer Sekunde veränderte sich Lachlans Gesicht von Triumph zu Panik, aber es war zu spät. Shuggies Faust landete in seinem Gesicht. Es war ein wütender Schlag, aber er war zu schwach; Shuggies Handgelenk knickte ein, und seine Faust machte ein klatschendes Geräusch. Der schmutzige Junge trat zurück, sah verwirrt aus, dann machte er eine zornige Grimasse.
»Dat lässte dir nich gefallen, oder?«, rief Francis, der Blut witterte.
Der Junge antwortete: »Nein.« Es war eine rhetorische Frage. Shuggie schnalzte mit der Zunge.
Zuerst verkeilten sie sich in einem Handgemenge, und jeder versuchte, den anderen in den Kies zu werfen. Lachlan schlang den Arm um Shuggies Taille und versuchte ihn hochzuheben und aufs Kreuz zu legen. Aber jedes Mal, wenn Shuggies Beine abhoben, landeten sie wieder auf dem Boden, wie bei einem unbeholfenen Tanz. Shuggie hob über Lachlans Griff die Fäuste und schlug ihm mit aller Macht ins Gesicht. Aber er war nicht stark genug. Er konnte nicht ausholen, und er traf nicht richtig. Sie waren gleich schwach. Der Kampf war langweilig, sogar für gelangweilte Kinder. Es war ein Kampf um die Demütigung. Der Gewinner würde den anderen durch Erniedrigung zur Aufgabe zwingen.
Francis McAvennie stellte Shuggie ein Bein, und die Kämpfer fielen um wie ein Liebespaar. Dann trat Francis mit der Schuhspitze auf Shuggies Ärmel, damit er sich nicht bewegen konnte. Eins. Zwei. Drei. Lachlan schmetterte die freie Faust in Shuggies Gesicht. Das Blut lief ihm die Nase hoch und blubberte in seiner Kehle; er drehte den Kopf zur Seite, und als es auf den grauen Boden lief, sah es aus wie Himbeersoße.
Shuggie konnte sich nicht bewegen, weil der Junge auf seiner Brust saß und Francis auf seinem Ärmel stand. Er gab gurgelnde Geräusche von sich, als sich das Blut in seinem Hals sammelte. Endlich war die Menge glücklich. Dann erst kamen die Tränen.
Über seine linke Gesichtshälfte liefen schwarze spinnenwebartige Blutspuren. Shuggie stapfte durch das hohe Torfgras, während die anderen Kinder die Pithead Road hinuntergingen und aufgeregt durcheinanderredeten, als hätten sie gerade einen Himmel voller Nordlichter gesehen.
Die Sonne stand tief am Himmel, und das Gras war spitz und hart vom ersten Herbstfrost. Hinter dem Miners Club blieb er stehen und spielte an ein paar leeren Bierfässern herum. Wenn man im richtigen Winkel auf den Knopf drückte, gaben sie ein hefiges Rülpsen von sich. Manchmal kamen ein paar der größeren Jungs hierher, ließen die Fässer rülpsen, leckten sich das Bier von den Fingern und torkelten im Kreis wie Betrunkene im Stummfilm. Sie hatten keine Ahnung, wie der Suff wirklich aussah. Shuggie hasste sich selbst dafür, dass er keinen Spaß verstand.
Er vertrieb sich die Zeit im Schatten des Pubs, ließ lustlos die Fässer rülpsen und wartete, bis die Bergmannskinder zu Hause waren. Durchs hohe Schilfrohr streifend, sprang er von Bach zu Bach, trat auf alte Fernseher und Kinderwagen, um trocken über das erstickte Wasser zu kommen. Eine Weile hing er auf seinem ausgetretenen Graskreis herum. Er überlegte, ob er üben sollte. Aber dann scharrte er nur mit dem Fuß im groben Dreck und fing wieder zu weinen an, wunde, röchelnde Schluchzer voller Selbstmitleid und Selbstverachtung.
Als er endlich über den Maschendrahtzaun in den Garten kletterte, hatte er sich vorgenommen, nicht zu Abend zu essen. Shuggie blieb vor dem umgekippten Kühlschrank stehen und schob den Schleim der toten Fliegen weg. Dann tauchte er den ganzen blutigen Kopf in das eiskalte Wasser. Er kniete eine Minute ganz ruhig da, hielt die Luft an, aber die brennende Scham verschwand nicht. Als er sich das blutige Gesicht sauber rieb, tanzten rosa Luftschlangen im Wasser. Wie hübsch, dachte er, und sofort bereute er den Gedanken.
Plötzlich stand Leek über ihm und packte ihn am Kragen. »Komm rein! Ich habe den ganzen Scheißnachmittag auf dich gewartet.«
Im Haus herrschte reger Betrieb; jede Lampe brannte gierig. Leek und Shona Donnelly, Bridies Jüngste von oben, waren damit beschäftigt, überall goldene Wimpel aufzuhängen. An der Wand hing ein rosa Banner mit der Aufschrift Babys 1. Geburtstag, nur dass Leek über das Wort Baby ein Stück Millimeterpapier geklebt hatte, auf dem in bunten Buchstaben Agnes stand. Die Esstischstühle standen in einer Reihe an der Wand, und das Sofa hatten sie in die Ecke geschoben. An kleinen Spießen steckten Würstchen, und saftige Ananasstücke schmiegten sich an schwitzenden orangen Cheddar. Überall standen Schalen mit Erdnüssen und Plastikliterflaschen Limonade herum, die süß und erfrischend aussah.
»Wofür ist das alles?«, fragte Shuggie und wischte sich über das nasse Gesicht.
»Heut ist ihr Geburtstag«, sagte Shona. Sie entwirrte gerade eine Lichterkette; dann sah sie ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Ist dat Blut in deim Gesicht?«
»Nur Nasenbluten. Das passiert, wenn das Gehirn schneller wächst als der Schädel.« Er zuckte die Schultern. Er fand, es klang überzeugend. »Außerdem ist Mammy erst einundzwanzig! Das hat sie mir selbst gesagt.« Unauffällig schlich sich Shuggie an die Ananasspieße an. »Ich glaube, dass sie eigentlich schon über dreißig ist, aber bitte sagt ihr nicht, dass ich das gesagt habe.«
Shona schnaubte. »Man merkt, dass du zu viel Schule verpasst, Shuggie. So piekfein, wie du redest, müssteste mindestens der Beste inne Klasse sein.«
»Kopf voll Mist«, sagte Leek. »Davon hat er wahrscheinlich das Nasenbluten.«
»Eure olle Mutter is jedenfalls mindestens fünfundvierzig.«
»Aye. Ich bin ja schon fast einundzwanzig, du Blödmann.«
Shuggie schluckte. »Aber zum Geburtstag soll ich ihr immer eine Karte mit einer Einundzwanzig kaufen.«
»Wat? Jedes Jahr?«, fragte Shona.
»Ja.«
Leek nickte Shona zu. »Ich weiß. Ich weiß.«
»Ich mache nur, was sie glücklich macht, okay? Außerdem, warum hat mir keiner was von ihrem AA-Geburtstag erzählt? Ich hätte ihr ein Geschenk gebastelt.« Beleidigt griff er in die Erdnussschale und wühlte sich bis zum Boden.
»Hey, lass dat!« Shona gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.
»Dir was erzählen? Dass ich nicht lache. Du bist die größte Petze, die rumläuft. Du kannst kein Geheimnis für dich behalten«, sagte Leek.
»Kann ich wohl.« Shuggie sank aufs Sofa, ließ sich die gestohlenen Erdnüsse schmecken und genoss den salzigen Geschmack und den Überfluss der Partysnacks. »Im Moment behalte ich zum Beispiel ungefähr fünfhundert Geheimnisse für mich.«
»Stimmt doch gar nicht, du bist eine Oberpetze«, spottete Leek.
»Halt die Klappe.« Erdnuss. »Ich weiß eine Million Sachen«, Erdnuss, »die du nicht weißt.«
»Was denn?«
»Genau, wat denn?«, fragte Shona. Sie hielten beim Dekorieren inne und starrten ihn an.
Die Versuchung war groß; die Möglichkeiten lagen vor ihm wie tausend Türen. Er konnte nicht anders. Er aß noch ein paar Erdnüsse und lächelte.
»Also«, Erdnuss. »Ich weiß, dass Shona«, Erdnuss, »von Gino, dem Eisverkäufer«, Erdnuss, »Geld kriegt«, Erdnuss, »wenn sie«, Erdnuss, »seinen haarigen Pimmel anglotzt«, Erdnuss.
Shona flog von ihrem Stuhl, so schnell es der enge Bleistiftrock zuließ. Das Banner riss los, aber sie achtete nicht darauf. Shuggie sprang vom Sofa und raste aus der Tür. Als Petze musste man schnell laufen können.
»Siehste!«, rief ihm Leek hinterher. »Oberpetze.«
Das Haus war voll, und unbeholfene Fremde versuchten sich im engen Wohnzimmer ein Plätzchen zu erobern. An den Wänden stand ein Sammelsurium von Stühlen, die Shona netterweise von Verwandten die Straße hoch und runter geborgt hatte. Auf den Stühlen saßen die versammelten Mitglieder des Dundas-Street-Meetings. Sie bildeten enge Grüppchen, rauchten Kette und schwiegen bis auf den rhythmischen Chor des Bronchialhustens. Gelegentlich sagte einer etwas über das Wetter oder das tragische Ende der lütten Jeannie vom Mittwochabend, aber die Gruppenmitglieder zogen sich schnell wieder hinter ihre Zigaretten zurück und betrachteten unbehaglich ihre Füße, als säßen sie im Wartezimmer beim Arzt.
Shona Donnelly stand hinter dem Vorhang und hielt nach Agnes Ausschau, so dass man nur ihre dünnen Beine sah. Ihre bleichen Wadenmuskeln zuckten aufgeregt, und ein paar der Männer im Raum saugten fest an ihren Kippen, während sie das Auf und Ab ihrer Waden verfolgten.
An der Wand gegenüber saßen ein paar Nachbarn: Bridie, ein paar von Shonas älteren Brüdern und Jinty McClinchy, die sich zu ärgern schien, dass nichts Hochprozentiges angeboten wurde. Sie hatten nur gehört, es gebe eine Party, und jetzt saßen sie in ihren sauberen Blusen unruhig da und schimpften innerlich auf das trockene Haus. Dabei starrten sie unverhohlen die kleinlauten AA-Mitglieder an, die ihrerseits verlegen auf den Boden starrten.
Shuggie wusch sich das restliche Blut vom Gesicht. Er zog sich ein schwarzes Hemd mit einer breiten bunten Krawatte an, so dass er aussah wie ein Gangster aus den vierziger Jahren. Das Hemd hatte er eigenhändig gebügelt, und die messerscharfen Falten an den Ärmeln ließen ihn merkwürdig zweidimensional aussehen. Mit Papptellern voll mit Cheddar und Ananas umkreiste er die unfreiwilligen Gäste. Die Frauen hielten ihre halbgerauchten Kensitas hoch, als würden sie sie essen, und antworteten höflich: »Grade nich, Junge.« Er machte eine Runde durch den Raum, dann nahm er die Erdnüsse oder die fettigen Chipolatas und machte die Runde noch einmal. Aus Mitleid mit dem eifrigen Kellner begannen die Leute, mit Essen, das sie nicht wollten, auf ihrem Schoß Pyramiden zu bauen. Das Fett hinterließ Flecken auf ihren guten Hosen und Röcken. Sie wünschten, er würde endlich aufhören, damit sie in Frieden wieder ihre Füße anstarren konnten, aber Shuggie amüsierte sich prächtig, und von der Höflichkeit der Gäste bestärkt, drehte er seine Runden durch den heißen Raum noch schneller.
An einer Ecke des Tischs standen zwei eingepackte Geschenke, die, weil der Tisch so groß war, irgendwie kümmerlich wirkten. Nicht jeder hatte daran gedacht; nicht jeder verstand, warum sie hier waren. Die Päckchen, die Agnes später öffnete, enthielten die komplette Staffel von Jane Fondas Workout und einen Karton mit zweihundert spanischen Zigaretten, beide in Erster-Geburtstag-Papier gewickelt.
»Ist dat nicht hübsch?«, sagte eine der Dundas-Street-Frauen und zeigte mit der Zigarette auf die Partydekoration, die das Sims über der Elektroheizung schmückte.
»Gefällt es Ihnen?«, fragte Shuggie mit echter Überraschung. Er war immer noch nicht überzeugt von den Baby-Bannern und den kitschigen rosa Luftballons, die Leek und Shona überall aufgehängt hatten.
»Oh, sie wird mächtig stolz auf euch sein.« Die Frau hatte ein fröhliches Gesicht; die geplatzten Äderchen auf ihren Wangen wirkten winderprobt und mädchenhaft, und Shuggie hatte den Eindruck, sie lachte viel. Er fragte sich, ob sie wirklich Alkoholikerin war.
»Leek hat den ganzen Tag daran gearbeitet«, sagte er. »Ich habe ihn noch nie so aufgeregt gesehen.«
»Aye? Dat habt ihr toll gemacht. Sie ist bestimmt hellauf begeistert«, strahlte die Frau.
»Meinen Sie?« Er war sich immer noch nicht ganz sicher. »Na ja. Ich kenne meine Mammy. Ich glaube, sie dreht durch, wenn sie sieht, dass Leek Luftballons an ihre guten Schränke geklebt hat. Von dem Klebeband geht der Lack kaputt.« Dann setzte er seine Runde mit den Ananasspießen fort.
Shonas Waden zuckten schneller. »Achtung! Achtung! Sie kommt! Sie kommt!« Sie kam hinter dem Vorhang hervor und zog ihn hinter sich zu. Sie trug einen kurzen Rock und alles Make-up im Gesicht, das ihre Mutter besaß. »Also, Leute, psssst.«
Die Gäste setzten sich auf ihren knarrenden Stühlen zurecht, und selbst die, die die ganze Zeit den Mund nicht aufgekriegt hatten, legten den Finger an die Lippen. Ein paar probierten schon mal ein Lächeln; doch es wirkte unsicher und war schnell wieder verschwunden. Leek machte das Licht aus, und plötzlich war es stockdunkel.
Von draußen hörten sie, wie ein Hackney auf den Bürgersteig fuhr, und das Gurgeln eines Dieselmotors, der abgewürgt wurde. Schwere Autotüren schlugen zu, und das Gartentor ging auf. Dazu erklang das fröhliche Klack-klack-klack dünner, stolzer Stöckelschuhe. Die Glastür zum Wohnzimmer ging auf, und die Silhouette einer Frau zeichnete sich vor dem Flurlicht ab. Aus dem Zimmer schallte ihr ein herzliches: »ÜBERRASCHUNG!« entgegen und schnitt ihr das Wort ab. Ein paar der älteren Männer hatten, als die Tür aufging, gerade an ihrer Zigarette gezogen und ihr Stichwort verpasst, deshalb murmelten sie leise hinterher: »Aye, schöne Überraschung, Süße.«
Shuggie lief auf sie zu. »Mammy, darf ich dir einen Ananasspieß anbieten? Sie sind köstlich.«
Agnes sank gegen den Türrahmen und hielt sich die Hände vor den geschminkten Mund. Sie war angezogen wie für die Oper, dabei hatte sie am Nachmittag nur in der Bingohalle Ritz »Buy One, Get One« gespielt. Eugenes blaue Augen spähten argwöhnisch über ihre Schulter. Ein strenger Ausdruck glitt über sein ernstes Gesicht, und er rümpfte unwillkürlich die Nase beim Anblick der heruntergekommenen Gesellschaft, die in Agnes’ Wohnzimmer saß. Als er hereinkam, nickte er feierlich, als wären sie bei einer Trauerfeier.
»Was ist denn hier los?«, fragte Agnes. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie sich um. Die meisten Gesichter hatte sie noch nie außerhalb des ehemaligen Handelskontors auf der Dundas Street gesehen. Der Anblick war zutiefst verwirrend.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«, sagte Leek.
»Wovon redest du?« Sie drehte sich immer noch im Zimmer herum.
»Heute ist es ein Jahr. Mary-Doll hat angerufen und uns Bescheid gesagt. Sie hat uns gesagt, es ist wichtig, deinen Weg zur Genesung zu feiern.« Leek strahlte von einem Ohr zum anderen. Er zeigte auf eine kleine brünette Frau, die an einer Kippe saugte. »Es ist schon ein ganzes Jahr, seit du trocken bist.«
»Stimmt. Leek hat mitgezählt«, sagte Shuggie.
»Ihr habt mitgezählt?«, fragte Agnes.
»Ja«, sagten beide Jungen im Chor. Shuggie nahm einen abgegriffenen Papierkalender von der Anrichte. Unter einem Aquarell der Maria-Empfängnis-Basilika in Lourdes hingen kleine Kalenderblätter. Er ging ein halbes Dutzend durch, die Leek mit Kreuzchen markiert hatte.
Die Leute drängten sich in dem kleinen Wohnzimmer, froh über die Gelegenheit, von ihren harten Stühlen aufzustehen. Agnes wandte sich gerührt von einem zum anderen, nahm Umarmungen entgegen und ließ sich auf die Wange küssen und Glück wünschen. Shuggie übernahm das Öffnen der großen Limonadenflaschen und schenkte den klebrigen Sprudel in Pappbecher ein. Shona reichte Eugene einen leuchtend grünen Becher Limettenlimonade, und er musterte die Flüssigkeit, als handelte es sich um etwas sehr Exotisches.
»Von diesem Pithead-Nest hattich noch nie gehört«, sagte eine der Mittwochabend-Frauen. Mary-Doll war klein und dürr wie Schilfrohr, als hätte der Alkohol alle Substanz von ihr abgehobelt. Die Wangen unter den großen kastanienbraunen Augen waren eingefallen, und das dunkle Haar saß wie eine geborgte Perücke auf dem ausgezehrten Körper. Agnes war sprachlos gewesen, als sie erfahren hatte, dass die Frau erst vierundzwanzig war. Sie hatte sich betroffen ans Herz gegriffen und Lizzies Flüstern in den Ohren gehabt, die sagte, es gibt immer Leute, denen es noch schlechter geht.
Agnes griff nach Mary-Dolls Hand. »Ich habe für dich gebetet. Gibt es was Neues von deinen Kleinen?«
Mary-Dolls Gesicht hellte sich auf, und ihre Augen leuchteten wieder jugendlich und frisch. »Hab ich erzählt, dass mein Lütter grade die Schule anfängt?«
»Da warst du sicher stolz. Mit Blazer und Krawatte sehen die Lütten immer zum Anbeißen aus.«
Ein Schatten glitt über Mary-Dolls Gesicht. »Aye, dat hat er. Ich hab nurn Foto gesehen, aber ich hab ihn ahmds gleich angerufen. Er war so aufgeregt.«
»Wohnen sie immer noch bei deiner Granny?«
»Aye. Sie lässt mich nich in ihre Nähe.«
Allein der Gedanke, von ihren Söhnen getrennt zu sein, löste bei Agnes das Bedürfnis aus, sie an sich zu drücken; schlimm genug, dass sie wegen des Trinkens Catherine verloren hatte. »Es gab eine Zeit, da dachte ich, dein Zittern hört nie auf. Hab Vertrauen, Süße. Du stimmst deine Granny schon noch um.«
»Aye, schön wärs«, flüsterte die dünne Frau zweifelnd. »Abers issen wunderschönes Foto. Ich haben hübschen Rahmen gekauft und es mir an die Wand gehängt.«
Ein Mann stand von einem der geborgten Stühle auf. Montag-Donnerstag-Peter war in Agnes’ Alter, aber er sah aus, als könnte er ihr Vater sein. Er trug hell gebleichte Jeans und eine dicke Jacke aus Shetlandwolle, die schon aus der Mode gewesen war, als Agnes den Katholiken geheiratet hatte. Mit dem seltsam wackeligen Gang erinnerte er an einen Stapel Teller, der jeden Moment umzukippen drohte. Er hatte ein geselliges, mitteilsames Auftreten, aber es war nur seine Art, um die Einsamkeit zu verbergen. »Na, Agnes«, krähte er, »wie fühlzichs an, neugeboren zu sein? Als Einjährige?«
»Ehrlich gesagt war es mir gar nicht bewusst«, antwortete Agnes.
»Aye, jedenfalls isset schön, datt deine Bälger so stolz auf dich sind.« Montag-Donnerstag-Peter zeigte auf Leek. »Die wollten unbedingt wat aufziehen. Damitte in Schwung bleibs, weißte. Nen lütten Anschwung über die Einjahresmarke.«
Eugene war in der Nähe der Wohnzimmertür stehengeblieben, ohne sich unters Volk zu mischen, aber er konnte sich vom Anblick der nervösen Gestalten nicht losreißen. Shuggie war am Buffet und wischte das Fett und die Soße von den Tellerrändern. Er stellte die Teller um, ordnete die Chipolata-Würstchen zu hübschen Mustern an und drehte den Käse um, damit er nicht trocken und rissig wurde. Eugene beobachtete ihn bei der Arbeit. Der Junge errichtete gerade eine hübsche Pyramide aus Pappbechern, als er endlich den Kopf hob und Eugenes schweigenden Blick auffing.
»Alles klar, kleiner Mann?«, fragte Eugene und schob sich mit den Händen in den Hosentaschen langsam voran.
»Ja, ich habe nur gerade …« Shuggie sah seine elegante Becherpyramide an, dann warf er sie mit der Hand um wie ein Bulldozer. Die Pappbecher rollten auf den Boden.
Seite an Seite drehten sie sich um, beobachteten das Partygeschehen wie eine Sportveranstaltung und versuchten einander nicht anzusehen. »Schicke Feier, oder?«, sagte Eugene und überspielte großzügig Shuggies Ordnungsdrang und die anschließende Zerstörung.
»Nicht schlecht. Aber ich glaube, Leek ist verrückt geworden.«
Eugene lachte. »Nein! Es ist ne großartige Sache, deine Mutter zu lieben. Schließlich kriegste nur die eine.« Er lächelte, dann fragte er unvermittelt: »Du weißt, wer ich bin, oder?«
Shuggie nickte und antwortete wie ein Roboter: »Sie sind Eugene McNamara. Colleens großer Bruder. Vielleicht werden Sie mein neuer Daddy.« Er sah auf seine Schuhe. »Aber mich hat keiner gefragt.«
»Ach?« Eugene war überrascht.
»Also, ich finde es ungezogen, wenn jemand solche Ansprüche stellt und den Jungen nicht mal fragt, ob er einen Daddy will.«
»Da hast du recht. Ein Gentleman sollte sich erst mal ordentlich vorstellen.« Eugene hielt Shuggie die Hand hin. »Ich bin Eugene. Ich freu mich, dich endlich kennenzulernen.«
Der Junge schüttelte ihm nervös die Hand. Es war eine Bärenpranke, eins der gröbsten Dinge, die er je angefasst hatte. »Haben Sie vor, länger zu bleiben?«
»Ich dachte, eine Stunde oder so.«
»Nein, ich meine, hier zu bleiben, mit meiner Mammy zusammenzubleiben.«
»Oh! Dat weiß ich nicht. Ich hoffe es.«
»Mister McNamara. Es würde mir nicht gefallen, wenn Sie sie enttäuschen.«
Eine Weile sagte Eugene nichts. Der seltsame kleine Junge hatte ihm die Sprache verschlagen. »Weißt du, Junge, vielleicht ist es an der Zeit, dass du mehr an dich denkst. Lass deine Mammy mal für eine Weile in Ruhe. Ich übernehme ab hier. Du solltest mehr rausgehen, mit Kindern in deinem Alter spielen, versuchen, ein bisschen mehr zu sein wie die anderen Jungs.«
Eugene zog ein kleines rotes Buch aus der Tasche seiner Anzughose, nicht größer als ein Päckchen Zigaretten. Es war dünn und billig gedruckt. Er gab es dem Jungen, und Shuggie sah sich den eselsohrigen Umschlag an. Oben stand: Gratis beim Kauf der Glasgow Evening Times. Darunter war das Schwarzweißfoto eines alten Fußballhelden abgebildet; er trug dicke Socken, die wie Schurwolle aussahen. Es war das Wee Red Book der gesamten schottischen Fußballgeschichte.
Shuggie sah sich das Büchlein an und blätterte die vergilbten Zeitungspapierseiten mit den alten Fußballergebnissen durch. Scottish Football League. Rangers: 22 gewonnen, 14 unentschieden, 8 verloren, 58 Punkte. Aberdeen: 17 gewonnen, 21 unentschieden, 6 verloren, 55 Punkte. Motherwell: 14 gewonnen, 12 unentschieden, 10 verloren. Er wurde schamrot; jegliches Gefühl von Überlegenheit verpuffte. »Danke«, sagte er und ließ das Büchlein in die Tasche gleiten, als wäre es ein schmutziges Geheimnis.
Shuggie ging hinüber zu seiner Mutter, die sich mit den Männern der Dundas-Street-Gruppe unterhielt. Sie umringten sie und himmelten sie an. Der erste, Montag-Donnerstag-Peter, stützte den Mann, der neben ihm stand. Er sah aus, als hätte er einen Schlaganfall gehabt oder als hätte das Trinken seine Motorik schwer beeinträchtigt. Der dritte Mann war jung und breiter, er sah noch nicht aus wie ein Wrack oder ein Penner, aber seine Finger waren dunkelgelb vom Nikotin. Er war eher in Leeks Alter. Die Spitzen seiner Haare waren wasserstoffblond gebleicht, und er trug einen modischen Nylonanorak, der ihn allerdings wie einen Kleinkriminellen aussehen ließ. Er wirkte halbseiden und gerissen, wie die Pithead-Jungs, die vor Mr Dolans Laden herumlungerten und sich die Taschen ihrer Cargohosen vollstopften. Shuggie war froh, dass er die Porzellanfiguren seiner Mutter versteckt hatte. Plötzlich lächelte der junge Mann. Seine Zähne waren klein, aber weiß und ebenmäßig. Sein Gesicht war schön und gesund und liebenswürdig. Shuggie hatte ein komisches Gefühl im Bauch. Das Fußballbüchlein brannte an seinem Bein.
»Oh, das ist mein Jüngster, Hugh.« Agnes strich stolz über seinen Kopf.
»Na, Kumpel«, sagte der erste Mann. Er hielt dem Jungen die Hand hin. »Ich bin Onkel Peter.«
Shuggie starrte seine Hand an, ohne sie zu nehmen, dann sah er kühl zu dem Mann hoch. »Nein«, seufzte er. »Sie sind nur Peter. Ich kenne den Stammbaum meiner Familie, vielen Dank.«
»Aha, schlaues Kerlchen, da gips nix«, sagte der Mann gutmütig und richtete sich auf. Aus der Nähe sah Shuggie die Stellen, die seine zittrigen Hände zu rasieren vergessen hatten; unter dem Kinn waren außerdem ein paar Schnittwunden.
Agnes schüttelte Shuggie so fest, dass sein Haar aus dem ordentlichen Scheitel fiel. »Was ist in dich gefahren? Entschuldige dich sofort bei Mister … Mister …« Agnes wusste nicht, was sie sagen sollte, und Montag-Donnerstag-Peter trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Sie schüttelte den Jungen noch einmal. »Entschuldige dich bei Peter!«
»Entschuldigen Sie, Mister Peter«, sagte er, doch seine Augen beobachteten Eugene.
Mary-Doll hatte das Wohnzimmer durchquert und sich zu Eugene gesellt. »Dich kenn ich gar nicht. Biste auch bei der Dundas-Street-Gruppe?«
»Nein.«
»Aye, sonst hätt ich dich nämlich erkannt.« Sie zupfte sich den glänzenden Pony über die Augen, und als sie sich besser fühlte, grinste sie. »Ich bin seit fast drei Monaten trocken. Vom Amt habbich grade meine eigene Bude gekriegt. Hab fast vier Jahre auffe Liste gestanden. Jetzt hoff ich, dass ich bald nen Stockbett fürs Wohnzimmer kriege. Damit meine Lütten kommen können.« Flirtend wickelte sie sich eine Haarsträhne um den Finger.
Eugene zwang sich zu einem dünnen Lächeln. Doch Mary-Doll fasste es falsch auf.
Sie begann ihn ohne Punkt und Komma vollzuquasseln. »Ich hab eisern gespart, und ich hab mir schonnen kleenen Tragbaren gekauft unnen schicken Teppich und lauter Kleinkram, weißte, son Schnickschnack. Aber ich wünschte, ich hätte Agnes’ Geschmack. Die hat ihr Haus so schön, oder? Und sich selber hältse auch immer so schön. Selbs wenns ihr beschissen ging, hatse immer tadellos ausgesehen.«
»Ach ja?«
»Aye. Selbs wenns ihr beschissen ging, warse immer wie außen Ei gepellt.« Sie wechselte das Thema, weil sie keine Lust hatte, über andere Frauen zu reden, und legte Eugene die Hand auf den Arm. »Hömma, du hast gar nicht erzählt, zu welchem Meeting du gehst.«
»Ach so, ich geh zu keinem. Ich geh nicht zu Meetings. Ich hab kein Problem.«
»Echt? Hast dun Glück. Willste meine haben?« Sie lachte, und ihr Zahnfleisch war weiß und blutleer.
»Nein, danke.« Eugene hob den Kopf und rief über die Musik nach Agnes. Sie sah auch unbehaglich aus, und Eugene fragte sich, was ihr Sohn gesagt hatte, dass sie so ein Gesicht machte. Er nickte mit dem großen roten Kopf, und sie kam herüber zur Tür.
Eugene entschuldigte sich bei der abgehalfterten jungen Frau und ging mit Agnes in den Flur. Hier war es ruhiger und weniger verraucht, und er atmete tief durch. Agnes sah, wie Eugene die Hand auf den Gürtel mit dem Geldbeutel legte, und zuckte zusammen. »Hömma, ich mach mich besser wieder auffen Weg. Ich brauch nochen paar Fahrgäste, bevor die Clubs zumachen, dat kennste ja.«
»Ah. Ja, natürlich. Ist alles in Ordnung?«
»Aye, aye«, antwortete er zu schnell. Er kratzte sich den Nacken.
Agnes sah, wenn jemand log. Sie beugte sich vor, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu geben, aber Eugene wandte sich ab, und sie traf seine Wange. Es war ein leichter, trockener Kuss, wie die lockere Begrüßung zwischen französischen Freunden. Als er sich aufrichtete, merkte sie, dass sie die Lippen immer noch geöffnet hatte, bereit für den richtigen Kuss, der nicht kam. Es war ihr Sexkuss, und Eugene hatte sie zurückgewiesen. Plötzlich fühlte sie sich alt und schmutzig. Jetzt sah sie Colleen in ihm, und sie schaffte es nicht rechtzeitig, ihren Ausdruck zurückzunehmen, von Liebe zu Demütigung zu Abwehr.
»Also gut, ich ruf dich an, in Ordnung?«
»Ja. Bitte, tu das.« Sie schniefte unbekümmert und verschränkte die Arme.
»Na gut, du gehst wohl besser zurück zu deinen. Eh. Deinen …« Er wusste nicht, wie er sie nennen sollte. »Deinen Partygästen.«
Sie sah, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, dann rüttelte er am Knauf, um sicherzugehen, dass sie zu war, als würde er eine Büchse versiegeln. Sie hörte das Gartentor und seine Stimme, als er seinen Nichten und Neffen etwas zurief, die draußen spielten. Diese Stimme klang anders als die, mit der er zu ihr geredet hatte. Ein Leben lang hatte sie Taxis gelauscht und sie wusste, dass er die Tür des Hackneys mit Wucht zuschlug. Sie hörte das Knurren des anspringenden Motors und wusste, dass er zu schnell anfuhr. Doch die Taxis zu lesen, war der einfache Teil.
Aus dem Wohnzimmer hörte sie das zuckrige Zischen weiterer Limonadeflaschen, die geöffnet wurden. Sie starrte ihre Freunde in den zu locker sitzenden Kleidern an. Die Jahre, die sie an der Flasche geklebt hatten, schienen sie eingefroren zu haben, als hätte der Suff ihnen Jahrzehnte geraubt, sie aus der Welt katapultiert und ihnen buchstäblich das Leben ausgesaugt. Plötzlich war Agnes schlecht, sie wollte nur noch, dass alle gingen, wollte ihr Leben mit viel Bleiche in die Waschmaschine stecken.
Agnes sah an sich herunter und schämte sich, dass sie so tief gesunken war und mit solchen Leuten herumhing. Dann schämte sie sich noch mehr, weil sie solche Gedanken hatte. Unter der Decke im Flur hing Zigarettenrauch. Jemand hatte eine neue Top-Forty-Platte aufgelegt. Agnes kannte sie. Die Sängerin mit der Quietschstimme begann »Happy birthday, happy birthday« zu singen. Agnes ging ins Schlafzimmer, um sich frisch zu machen.
War sie auch so kaputt und überholt wie diese Leute? Im Spiegel sah ihr Elizabeth Taylor entgegen, nur dass es jetzt Liz war, die eitle und arrogante Schabracke der Paparazzi-Fotos auf der Yacht in Puerto Vallarta. Ihr Haar war immer noch dicht, ihr Make-up immer noch katzenhaft. Aber inzwischen war ihr Haar zu schwarz und das Make-up zu dick, die Farben eines vergangenen Jahrzehnts. Selbst ihre Lider waren metallisch grün wie oxidiertes Kupfer. Sie nahm einen alten Schildpattkamm und kämmte sich die Locken aus dem Haar, glättete sie zu stufigen Wellen, die weniger aufgebauscht, weniger altmodisch waren. Sie nahm ein Haargummi und band sich einen schlichten Pferdeschwanz, den ersten, den sie je getragen hatte. Er zog ihr Gesicht straff, als sie sich den grellen Lippenstift, den metallischen Lidschatten und das rosa Rouge über den geplatzten Äderchen abwischte. Leer wie eine Leinwand malte sie sich leuchtend blauen Kajal unter die Augen, wie sie es bei den jungen Mädchen in Top of the Pops gesehen hatte.
Als sie den Kopf wieder hob, hatte sich an der Frau, die ihr entgegensah, nichts verändert. Sie war genauso überholt wie die anderen. Es hatte nichts mit dem Styling zu tun.
Agnes sehnte sich nach einem Drink, egal was, damit die Frau im Spiegel verschwand. Sie zog den alten Briefumschlag von der Gasanstalt aus der Make-up-Tasche und nahm zwei von Bridie Donnellys Glücklichmachern heraus. Ohne Wasser zerkaute sie sie, legte den Kopf in den Nacken und schluckte wie ein junger Vogel.
Sie ließ sich Zeit, rauchte die Zigarette fertig und ließ sie zischend ins Klo fallen. Als sie zusah, wie die Kippe kreiselnd im Abfluss verschwand, vergaß Agnes langsam, was sie belastet hatte. Sie sah wieder in den Spiegel und lächelte. Jetzt fühlte sie sich wieder frisch.