Als Shuggie an seinem elften Geburtstag von der Schule kam, stand ein Schuhkarton auf der obersten Stufe und ein schwarzer Hackney parkte vor dem Haus. Nach der Party hatte sich Eugenes Zuwendung merklich abgekühlt, so sehr, dass es sogar Leek auffiel. An den Abenden, an denen sie nicht an der Tankstelle arbeitete, saß Agnes Kette rauchend am Telefon und unterstrich Stellen in ihrem Zwölf-Schritte-Buch. In diesen Nächten konnten Leek und Shuggie nicht schlafen. Sie starrten einander im Dunkeln an, während sie Agnes vor dem Spätprogramm seufzen hörten, und wussten, dass sie nicht wirklich hinsah.
Shuggie ging drei Tage nicht zur Schule. Er schützte Bauchkrämpfe vor, folgte ihr durchs Haus und las ihr Danny der Champion vor. Er war überzeugt, wenn er sie ununterbrochen mit Geräuschen unterhielt, fiel es ihr leichter, nicht zu trinken. Er stand vor dem Bad, wenn sie pinkelte, und erzählte ihr von den Fasanen, die Danny mit Schlaftabletten austrickste. Nachts kletterte er zu ihr ins kalte Bett und las ihr stundenlang vor, wenn sie nicht schlafen konnte. Als sie es nicht mehr aushielt, schenkte Agnes ihm ein ganzes Glas Magnesiummilch ein und war froh, als sich die Verstopfung löste und er wieder zur Schule gehen konnte.
Shuggie setzte sich auf die Stufen und nahm die fremde Schachtel auf den Schoß. In einer Wolke aus weißem Seidenpapier lag ein Paar schwarze Fußballschuhe. Shuggie streifte die polierten Lederschuhe ab und schlüpfte in die Stollenschuhe. Er klackerte den Gartenweg rauf und runter. Die Schuhe waren mindestens zwei Nummern zu groß, aber sie sahen genau wie die aus, die die Jungs in der Schule trugen. Als er klackernd im Kreis lief, fragte er sich, ob die Schuhe ihn normaler machten.
In seinem Bauch brodelte die Magnesiummilch und lockerte seinen Darm. Er zog am Türknauf, aber die Tür war abgeschlossen. Das kannte er schon. Als er draußen im Schatten des Hauses wartete, war er froh, dass Eugene wieder da war; selbst ein McAvennie zum Vater war besser, als wenn seine Mutter wieder zu trinken anfing. Er drückte das Ohr an die Tür und betete, dass Eugene blieb und seine Mutter die Stärke aufbrachte, trocken zu bleiben, und Frieden fand. Dann betete er, dass Gott ihn zum Geburtstag normal machte. Wieder rumorte es in seinem Magen. Er hielt eine Hand unter seine rumpelnde Rückseite und rüttelte mit der anderen heftig an der Tür. Von innen drehte sich der Schlüssel um, und die Klinke wurde ihm aus der Hand gerissen.
Es war nicht Eugene. In der Tür stand sein Vater. Er strich sich das Haar über den pinken Schädel und sah überrascht auf den Jungen herunter. »Ist die Schule schon aus?«, war alles, was er sagte, nach so langer Zeit.
Shuggie nickte idiotisch mit aufgerissenen Augen. Er hatte Shug seit dem Nachmittag bei seinem Onkel Rascal vor drei Jahren nicht mehr gesehen. Shug schob sich das Hemd in den engen Hosenbund und wies mit einer Kopfbewegung auf die Füße des Jungen. »Und, gefällt dir dein Geschenk?« Als Shuggie seine Füße anstarrte, begriff er, dass die schwarzen Fußballschuhe nicht von Eugene kamen. Bevor er etwas sagen konnte, packte sein Vater ihn am Kinn und sagte: »Ach, du Scheiße. Du kriegst auch schon den irischen Riesenzinken.«
Shuggie fasste sich trotzig an die Campbell-Nase. Er fuhr den kleinen Pferdeknochen nach, den Kamelhöcker, der dort wuchs.
Shug schüttelte enttäuscht den Kopf und zog den Münzhalter aus der Tasche, den er im Taxi benutzte. Mit dem Daumen schnippte er zwei Zwanzig-Pence-Stücke heraus. »Hier, vielleicht kannste mit Boxen anfangen, damitse dir einer bricht.«
Shuggie starrte die Münzen an, mehr aus Schock als aus Undankbarkeit. Doch Shug fasste es anders auf und machte widerstrebend noch vier Fünfzig-Pence-Stücke locker. »Aber mehr kriegste nich!« Unwillig ließ er das Geld in die Hand des Jungen fallen. »Und, rennste schon den Weibern hinterher?«
Diese Frage hatte ihm noch keiner gestellt. Shuggie zuckte die Schultern.
Shug dachte an sich selbst mit elf Jahren und verstand Shuggies Schweigen als falsche Bescheidenheit. »Aye, na, dann biste vielleicht dochen echter Bain, wat?« Er leckte sich die Unterlippe. »Tolles Alter, deinen Wiener inne Brotbüchse vonne Mieze zu stecken, wode nochen pah Jährchen hast, bevor wat passieren kann.«
Shuggie fiel nur Granny Lizzies Brotkasten ein und das Brot mit der dicken Kruste, das sie darin aufbewahrte. Für ihn hatte sie immer die Kruste abgeschnitten, und dann hatte sie sie dick mit Butter bestrichen und selbst gegessen.
»Na, ich kann nichen ganzen Tag hier stehen und rumquatschen. Ihr gebt meine Kohle schneller aus, als ichse verdienen kann.« Shug machte einen Bogen um seinen Sohn und stieg ächzend wieder in sein Taxi. Der Junge sah zu, wie der Hackney unter seinem Gewicht sank. »Kümmer dich gut um deine Mammy. Und pass auf, dasse sich nich mit irgendem Katholikenheini einlässt, hörste?« Dann ließ sein Vater den Motor an und fuhr ohne weiteren Gruß davon.
Shuggie wandte sich der stillen Dunkelheit des Hauses zu. Er zog die neuen Turnschuhe aus und kickte sie in hohem Bogen in Richtung Moor. Dann ging er ins Haus und fand sie auf der Kante seines schmalen Betts. Hinter ihr waren die Laken aufgewühlt, und zu ihren Füßen stand eine Tüte voll mit Special Brew. Sie sahen einander mit dem gleichen benommenen Blick an, als wären sie gerade aus einem friedlichen Schläfchen erwacht, als würden sie beide eine Weile brauchen, bis sie den Willen wiederfanden, Worte zu bilden und zu sprechen.
Er hatte gehört, dass es ihr gutging, oder besser gesagt, er hatte nichts gehört, und das war das Problem. Es war über ein Jahr her, dass Agnes zuletzt bei der Taxizentrale angerufen hatte. Vierzehn Monate, seit sie die Telefonistin angeschissen oder gedroht hatte, den Jungen zu erstechen und ihren Kopf in den Ofen zu stecken. Es war über ein Jahr her, dass er etwas von ihr gehört hatte.
Der Junge hatte bald Geburtstag, eine gute Gelegenheit, mal nach dem Rechten zu sehen. Ein Taxikollege hatte einen Riesenhaufen schwarzer Fußballschuhe hinten aus einem Lastwagen abgestaubt. Sie hatten einfach mit einem gemieteten Kastenwagen neben dem Sattelschlepper geparkt und, während der regulär ausgeladen wurde, sechs Dutzend Paar geklaut, am helllichten Tag mitten auf der Sauchiehall Street.
Welcher Junge spielte nicht gern Fußball? Falls Agnes einen neuen Mann hatte, würde Shug einfach die Schuhe vorbeibringen. War nichts dabei. Falls sie keinen Mann hatte, wollte er wissen, warum sie ihn nicht mehr terrorisierte. Sie hatte auf unerwartete Weise sein Ego verletzt, und deswegen hatte er in die Geburtstagstüte noch sechs Dosen Special Brew gepackt.
Shug ließ das Fenster des Hackneys herunter und legte den Arm auf das heiße schwarze Metall. Er sah zu, wie das Gold seiner Ringe das Licht einfing, und fand, dass seine Hände nach der sonnigen Woche in Joanies Wohnwagen viel besser aussahen. Mit ein bisschen Farbe sah alles besser aus. Als er über die Schnellstraße bretterte, fragte er sich, ob Agnes noch so schön war wie in seiner Erinnerung. Er mochte Joanie, aber verglichen mit Agnes Campbell war sie nichts Besonderes. Joanie war friedlich und ruhig. Sie war ausgeglichen und verlässlich und machte keinen Ärger. Sie trank, aber sie betrank sich nie, und sie hatte keine Schwäche für Bingo oder teure Teppiche oder Träume. Joanie war ein Arbeitstier und zufrieden mit dem, was sie hatte. Sie hatte wenig Persönlichkeit, aber dafür war sie schmutzig und dankbar im Bett, wie es reizlose Frauen häufig waren. Doch er musste zugeben, was Schönheit anging, war Agnes Campbell ein Rennpferd, und Joanie war bloß ein Lastenpony.
Als er die Abzweigung nach Pithead nahm, fragte er sich, ob Agnes ihr Aussehen mit der Sauferei schon ruiniert hatte. Das kannte er. Es gab diesen Typ Frau, vor allem in Glasgow, die gleichzeitig versteinerten und verwelkten. Ihre Gesichter schrumpften, vom Fusel ausgesaugt, auf den knochigen Wangen blühten rote Linien auf, und unter den wässrigen Augen quollen Säcke der Traurigkeit. Sie versuchten es zu verbergen, aber sie waren irgendwann zum Stillstand gekommen, ihre Gesichter Museumsstücke mit altmodischen Frisuren und zu viel Schminke. Shug fragte sich, ob Agnes noch die hellen irischen Augen und die hohen Wangenknochen hatte, das weiche Rosa, das immer so sauber und süß roch. Im heißen Taxi grinste er und spürte, wie sich sein Blut sammelte. Unwillkürlich überlegte er, was er zu ihr sagen könnte, um sie ein letztes Mal zu vögeln. Er war froh, dass er gestern Abend gebadet hatte.
Shug war seit Jahren nicht hier draußen gewesen. Ein Blick ins Telefonbuch bestätigte, dass sie noch an derselben Adresse wohnte. Sie trug immer noch seinen Namen. Bain. Er lächelte bei dem Gedanken, dass sie zu stolz war, um wieder als schmutzige, gewöhnliche Katholikin durchzugehen. Das Haus war leicht zu finden, der wunderschöne Rosengarten, viel zu auffällig und protzig für die schäbige Zechensiedlung. Die Tür hatte eine andere Farbe als die der anderen Häuser, frisch gestrichen in glänzendem Rot; es sah selbstbewusst aus, und er freute sich darüber. Er klopfte an die Tür und wartete, dass sie aufmachte. Von innen war das Röhren des Staubsaugers zu hören. Er klopfte noch einmal, und der Staubsauger stoppte. Er hörte Türen aufgehen und setzte sein bestes Lächeln auf, als die rote Tür nach innen schwang.
Agnes ließ im Sommer die Fenster auf, und beim Öffnen der Haustür wirbelte ein Luftzug Shugs langes dünnes Haar hoch. Als sie zu ihm hinuntersah, ertappte sie ihn, wie er die Strähnen aus Eitelkeit über seiner glänzenden Platte festhielt. Das lüsterne Grinsen verschwand aus seinem Gesicht.
Sie trug kein Make-up, und auch wenn sie älter war, sah sie so frisch aus wie bei ihrer ersten Begegnung. Zwar hatte sie ein paar feine, gebrochene Linien auf den Wangen, aber ihre Augen leuchteten noch, und Shug fand, sie sah aus, als käme sie gerade von einem strammen Spaziergang. Das Haar, dunkel wie die Nacht, lag weich und lockig um ihr Gesicht. Es machte ihn wütend, dass sie von oben auf seine Glatze sah.
»Da ist sie ja. Die Liebe meines Lebens.«
Agnes starrte ausdruckslos auf ihn herunter, die Zunge gegen den Gaumen gepresst.
»Jetzt kuck nich so scheißüberrascht.« Kaum hatte er es gesagt, war ihm klar, dass er sie damit nicht rumkriegen würde. Er wollte leicht und locker klingen, sie daran erinnern, was ihr entging. »Isne Weile her. Haste mich vermisst?«
»Du hast zugenommen.«
Er griff sich vom Kopf an den Bauch. »Oh, aye, kann sein. Sie kocht gut, die Joanie.«
Agnes zuckte zusammen. »Scheint eine vielseitige Nutte zu sein.«
»Pass auf, ich bin nich hier, um vorm Haus mit dir zu streiten. Ich hab ihmen kleines Geburtstagsgeschenk mitgebracht.« Er hielt die billige Plastiktüte hoch. »Kann ich reinkommen?«
Agnes verschränkte die Arme vor der Brust, wie um den Eingang zu blockieren. Sie machte ein abweisendes Gesicht. »Mein Junge braucht nichts von dir.«
Shug musterte sie einen Moment und begann zu fürchten, dass er sie für immer verloren hatte. Er fragte sich, wie sich ein Fisch vom Haken befreite. Dann griff er in die Tüte und zog die Schuhschachtel heraus. Er hielt sie ihr hin. Sie hatte die Arme immer noch verschränkt, also legte er die Schachtel wie eine Opfergabe zu ihren Füßen auf die oberste Stufe. »Du weißt, dass du immer die Liebe meines Lebens gewesen bist.« Es stimmte, und es war eine Schande. »Hier, das ist für dich.« Er hielt ihr die Tüte mit dem Bier hin und trat einen Schritt zurück.
»Die Zeiten sind vorbei«, sagte sie kühl.
»Oh!« Bewundernd schürzte er die Lippen. »Wie lange denn diesmal schon?«
»Lange genug.«
Er applaudierte. »Ich hab mich schon gefragt, warum ich nix von dir höre.«
»Du bist also hier, um dir das Wrack anzusehen. Nur um dich zu vergewissern?«
»Dir kann ich wohl nix vormachen.« Er hob geständig die Hände. »Darf ich reinkommen, Missus Bain?« Er hisste ihren Namen wie eine weiße Flagge.
Sie sagte nicht Nein, und sie sagte nicht Ja. Sie drehte sich einfach um und ging durch den Flur in die Küche. Hinter sich hörte sie, wie er die Tür zuzog, dann hörte sie den Schlüssel im Schloss und Shugs schwere Schritte.
»Gefällt mir, wie du das Haus hergerichtet hast.« Shug setzte sich an den kleinen Klapptisch; sein Blick glitt zur Decke, wo sich wegen der Feuchtigkeit immer noch die Tapete löste.
Agnes bemerkte, wie er den Kühlschrank und die große Kühltruhe ansah und sich fragte, wie sie sich solche Dinge leisten konnte. Wortlos setzte sie den Kessel auf und öffnete den Brotkasten. Sie nahm zwei dicke Scheiben Weißbrot aus dem Papier und bestrich sie dick mit Butter. Dann schnitt sie sie in Hälften und legte sie auf einen kleinen Teller. Sie schob ihm den Teller hin, und er bedankte sich.
Er nahm sich ein Butterbrot und schob es sich in den Mund; die Butter war dick und süß. »Wie ich höre, geht’s Caff gut in Südafrika.«
»Catherine? Ja, das höre ich auch.« Agnes klang müde.
»Redet sie mit dir?«, fragte er.
»Nicht oft.«
»Aye, na ja, bald wirst du Großmutter.«
Sie hielt sich an der Arbeitsplatte fest. Die Luft wich aus ihren Lungen. »Hab ich gehört.«
»Peggy Bain fliegt übrigens runter. Willse unterstützen, wenn der Lütte auf der Welt ist. In solchen Zeiten«, setzte er hämisch nach, »braucht man seine Mammy, selbst wenns nurne Schwiegermutter is.«
»Wo sollte ich das Geld für so was hernehmen?« Agnes drehte sich weg, damit er ihr Gesicht nicht sah. Sie machte sich an zwei Tassen dunklem Tee zu schaffen. Sie hoffte, dass er nicht merkte, wie ihre Hände zitterten.
»Donald Junior glaubt fest, dass essen Junge wird. Ich hab ihm gesagt, ich kauf ihm die Kinderkarre, wenn er ihn Hugh nennt, nach seinem Lieblingsonkel.«
Als Agnes die Hitze in ihrem Gesicht wieder unter Kontrolle hatte, drehte sie sich um und stellte den frisch gebrühten Tee auf den Tisch. Sie gab drei Löffel Zucker in seine Tasse und goss einen großen Schluck Milch hinterher. »Eigentlich versuch ich, weniger Zucker zu essen, aber wat solls.«
»Dein schäbiges Herz?«
»Aye, macht immer noch ab und zu Macken. Wenigstens weiß ich, dass es noch da is, wenns zu stottern anfängt.« Er lachte und verdrückte den Rest des Butterbrots, indem er die Kanten zusammenfaltete und es sich in einem Stück unter dem Schnurrbart in den Mund schob. »Wie geht’s meim Jungen? Schlägt er nach seim alten Herrn?«
»Oh Gott. Hoffentlich nicht.«
Agnes stand leise auf und verließ die Küche. Sie musste Catherines Neuigkeiten in Frieden verdauen. Sie sagte nicht, wo sie hinging. Shug blieb am Tisch sitzen, aß die nächste Butterstulle und überschlug im Kopf die Kosten der neuen Küchengeräte. Sie hat einen Mann, dachte er. Er rutschte zur Stuhlkante und streckte den Kopf durch die Tür, um zu sehen, wo sie war. Dann wischte er sich die Butterfinger an der Hose ab und überlegte, ob sie ins Schlafzimmer gegangen war. Grinsend nahm er die Tüte mit dem Bier und begann, die unbekannte Wohnung zu erkunden. Er warf einen Blick hinter halbgeöffnete Türen und bemerkte, wie sauber und ordentlich alles war. Er dachte an Joanie, die Couch voller Katzenhaare, die schmutzigen Unterhosen auf dem Schlafzimmerboden und die Achtlosigkeit, mit der sie die Toastkrümel von der zusammengewürfelten Bettwäsche strich.
Als Shug langsam den Flur hinunterging und in die Zimmer sah, starrten ihm ihre traurigen glasäugigen Porzellanfigürchen entgegen. Agnes war in keinem der Zimmer. Er blieb vor der letzten Tür vor dem Windfang stehen, und dort fand er sie, mit dem Rücken zu ihm. Es war ein Kinderzimmer mit zwei schmalen Einzelbetten. Auf einem Tischchen an der Tür hatte Shuggie ein paar Spielzeugroboter aufgestellt, und dazwischen kleine ordentlich beschriftete Kärtchen gelegt mit den Namen derer, die ihm noch fehlten. Es erinnerte ihn an Agnes. Shug hatte vergessen, wie viel sie immer wollte und wollte und wollte.
»Sieh dich gut um«, sagte sie leise. »Und dann geh.«
»Wo sind die ganzen Fußballposter?«, fragte er mit Blick auf die leeren Wände.
»Hugh mag Fußball nicht. Er mag keine Poster. Er findet sie billig.«
Shug musterte die Hälfte des kleinen, ordentlichen Zimmers, die sein Sohn bewohnte. Der einzige Hinweis, dass ein Kind hier lebte, waren die penibel aufgereihten Roboter. Er betrachtete sie, und plötzlich wurde ihm klar, was sie waren. Sie waren ein Kaminsims voller trauriger glasäugiger Porzellanfiguren.
»Genug gesehen?« Agnes wirkte wie eine müde Museumsführerin.
»Ich glaube schon«, sagte er mit leichtem Spott.
»Gut«, sagte Agnes mit einem angespannten Lächeln. Sie zeigte zur Tür. »Dann verpiss dich.«
Agnes machte sich Sorgen um die Wäsche. Den ganzen Sommer wurde von Tschernobyl und dem explodierten Atomkraftwerk berichtet. Es war eine traurige Sache, aber weit entfernt, bis ein Nachrichtensprecher vor dem radioaktiven Regen warnte, der über dem Westen Schottlands niederging, bevor er nach Irland weiterzog. Als Shuggie ihr half, die Wäsche von der Leine hinterm Haus zu holen, fragte sie ihn, ob Radioaktivität vielleicht half, die hartnäckigen Flecken rauszukriegen. Der Junge schüttelte den Kopf; nein, es funktionierte nicht wie Bleiche. Er erzählte ihr von den schrecklichen Atomkriegs-Zeichentrickfilmen, die sie mit Father Barry sehen mussten, und sagte, der verseuchte Regen ätzte die Wäsche vielleicht einfach ganz weg. Sie hatten gerade den letzten Korb mit noch feuchter Wäsche ins Haus getragen, als es zu nieseln begann. Durchs Fenster sahen die fallenden Tropfen aus wie die übliche schottische Plörre. Als der Regen auf die leere Straße prasselte, machten sie ein Spiel daraus, was er alles wegätzen sollte:
»Fußball-Doppelstunde!«
»Jinty McClinchy!«
»Mistkäfer McAvennie!«
»Die ganze bescheuerte Siedlung!«
»Schnick Schnack Schnuck!«
Shuggie lag vor dem Heizstrahler und sah zu, wie Agnes die letzte Feuchtigkeit aus der Wäsche bügelte. Im aufsteigenden Dampf wischte sie sich das Gesicht mit einem alten Stück Klopapier ab, das sie im Ärmel hatte. Dann nahm sie die obere Gebissleiste heraus und zog im zischenden Dampf für ihn Grimassen. Es kam selten vor, dass sie so uneitel war. In der wohligen Hitze des Elektroofens träumte Shuggie davon, dass der ätzende Regen nie aufhörte. Wie viel besser es wäre, wenn sie hier drinnen allein festsäßen, wo er sie für immer beschützen könnte.
Big Shug hatte versucht, sie in den Dreck zu ziehen. Keiner von ihnen verlor ein Wort über seinen Vater oder seinen plötzlichen Besuch. Aus Trotz hatten Agnes und Shuggie die Tüte mit dem Special Brew zu Jinty gebracht. Sie hatten sich extra in Schale geschmissen und waren durch die Siedlung zur Tür der McClinchys marschiert. Jinty hatte ihnen argwöhnisch aufgemacht. Agnes und Shuggie lächelten sie an wie die frommsten Zeugen Jehovas. Erst als Jintys Blick auf die Plastiktüte fiel, löste sich der dünne Lack des Hochmuts auf, und beim dumpfen Läuten der Lager-Glocken begann sie zu strahlen wie ein Apostel nach der Auferstehung.
Am selben Tag hatte Eugene angerufen.
Seit ihrem ersten AA-Geburtstag hatte Agnes immer weniger von ihm gehört. Weil er ein guter Mann war, rechnete sie damit, dass er sie nach und nach fallen lassen würde, auf die sanfte Tour, bis er sich irgendwann gar nicht mehr meldete.
Eugene holte sie mit dem Taxi ab. Der schwarze Lack glänzte, als hätte er den Wagen extra gewaschen. Er hupte einmal, doch als sie aus dem Haus kam, stieg er nicht aus, um ihr die Tür zu öffnen, wie er es früher getan hatte.
Colleen und die anderen Frauen standen am Holzzaun gegenüber. Bridie hatte einen frisch gespülten Kartoffeltopf und ein graues Küchenhandtuch in der Hand. Sie sahen aus, als hätte sie Eugenes tuckernder Diesel aus dem Tagewerk gerissen. Colleen wurde bleich, als Agnes mit ihrem geliebten Bruder davonrollte.
Als der Hackney anfuhr, sagte Eugene kein Wort. Sie hatten gerade die Kirche passiert, als er von der Straße abbog und ein paar Meter vor dem breiten Eisentor der geschlossenen Zeche stehenblieb. Er stellte den Motor ab, und wie ein lebendiges Geschöpf hörte das Taxi unter ihnen zu beben auf. Draußen war es stockdunkel und totenstill. Er griff nach oben und knipste das kleine gelbe Licht an.
Agnes war vor langer Zeit schon einmal hier gewesen, mit einem anderen Taxifahrer, an dessen Gesicht sie sich nicht erinnerte. Bei der Erinnerung fröstelte sie. Sie sah Eugenes freundliche Augen im Spiegel. Wenn sie zuerst etwas sagte, würde sie sich plump und beleidigt anhören, also suchte sie in der Tasche nach ihren Zigaretten und wartete, dass er seinen Teil sagte und den Ton setzte.
»Ich wollte nich weitermachen«, sagte er leise, ohne sich in seinem Sitz zu ihr umzudrehen. »Ich glaub, ich hab Angst gekriegt.«
»Bin ich so gruselig?«
»Es warn die ganzen Alkoholiker und ihre, eh, Krankheit.«
Agnes schloss trotzig den Mantelkragen. »Tja. Keine Angst. Sie sind nicht ansteckend.«
Sie hörte, wie er die Lippen öffnete und wieder schloss, und nach einer Weile sprach er weiter. »Ich weiß, dass es dumm klingt. Es war bloß, diese Leute. Auf deiner Party. Die waren so. Du weißt schon. Erbärmlich.«
Sie empfing den Schlag, ohne auszuweichen, und dann überraschte sie sich selbst. »Eugene, du musst wissen, dass ›diese Leute‹, na ja, ich bin eine davon.«
Sein Gesicht zuckte, und sie sah ihm an, dass es überhaupt nicht das war, was er hören wollte. »Ich wollt dir nich zu nahe treten. Es is bloß, na ja, du wirkst so normal.«
»Wieder dieses Wort.« Agnes drückte ihre Zigarette aus und rollte die Zunge hinter den Zähnen. »Eugene, pass auf, Schwamm drüber, okay? Bitte bring mich einfach nach Hause.«
Er schwieg lange, und dann schob er die Trennscheibe zwischen ihnen zu. Das Taxi erwachte zitternd zum Leben. Die hellen Scheinwerfer strahlten das kaputte Tor des Bergwerks an. In roter, schon verblasster Farbe stand dort: Keine Kohle, keine Seele, nur Stütze. Das Taxi fuhr wieder auf die Straße, aber statt die kurze Strecke zur Siedlung zurückzunehmen, fuhr es in Richtung Hauptstraße, in Richtung Leben. Agnes beugte sich vor und klopfte mit dem Ring an die Scheibe, mehr aus Neugier als aus Ärger. »Ich habe dich gebeten, mich nach Hause zu fahren.« Er antwortete nicht, und sie ließ sich in den Sitz zurücksinken, ohne weiter nachzufragen. Die Aussicht, auch nur eine Stunde aus dem Haus zu kommen, war wie ein süßer Traum, der ihr vorschwebte, seit er angerufen hatte.
Sie fuhren nicht weit. Das Taxi erreichte die hell erleuchtete Schnellstraße und fuhr nach links auf den Fahrdamm. Kaum hatte es sich in den schnelleren Verkehr eingefädelt, wurde es wieder langsamer und nahm die Ausfahrt zu einer dunklen Kiesstraße.
Agnes kannte das Golfhotel von weitem, aber sie hatte es noch nie betreten. Es lag am Rand der Schnellstraße, und weil man nur mit dem Auto hinkam, schien klar zu sein, dass Leute wie sie nicht erwünscht waren. Aus dem Bus sah sie manchmal, wie die Jaguars vorfuhren, schicke Autos aus schicken Villen, weit weg von hier. Sie sah, wie Männer mit glatten Gesichtern ihre Golftasche aus dem Kofferraum nahmen, während ihre Frauen mit kleinen Handtaschen und niedrigen Pumps danebenstanden, in teure schottische Wollpullover gehüllt.
Es stimmte, dass der grüne Ring um Glasgow die neuen Slums der städtischen Umsiedlung beherbergte, vergessene, abgelegene Sozialsiedlungen wie Pithead. Agnes fand es grausam, dass auf den grünen Feldern gleichzeitig ein paar der schicksten Hotels und Countryclubs des Landes standen. Die beiden extremen Welten sahen einander nicht gern an.
»Wir gehen doch nicht da rein, oder?«
»Warum nich?«, fragte Eugene, als er den schweren schwarzen Hackney neben zwei Luxuslimousinen parkte.
Agnes sah hinaus zu den Gartenlaternen, die den Weg zum weißen Eingang des Golfclubs erleuchteten. »Ist das dein Ernst? So was ist nicht für unsereins.«
Eugene lachte. »Jetzt beleidigst du mich aber.«
Ihr Stolz regte sich. Sie zupfte am Saum ihres Rocks. »Oh, Eugene, ich kann nicht. Ich bin nicht richtig angezogen.«
Ohne noch mehr zu sagen, stieg Eugene aus und öffnete ihr die Tür. Er musste sich tief in das Taxi hineinbeugen, um ihre Hand zu nehmen. In seiner warmen Pranke war ihre Hand plötzlich kalt und klein. Agnes war stolz, und sie hatte Angst, und plötzlich bereute Eugene, was er vorhin gesagt hatte.
Der Speisesaal war schlicht, doch für Agnes war es der Gipfel der Eleganz. Eine ganze Wand bestand aus Glastüren mit Blick auf den grünen Rasen des achtzehnten Lochs. Der Boden war mit dickem, gold und petersiliengrün gemustertem Paisley-Teppich ausgelegt, und über der halbhohen Holzvertäfelung an den Wänden hingen Fotos von berühmten Clubmitgliedern und Besuchern. Agnes erkannte keinen einzigen, und sie wollte in der Öffentlichkeit nicht die Augen zusammenkneifen.
Eine junge Kellnerin in einem langen Schottenrock führte sie zu einem Tisch im hinteren Teil des Raucherbereichs. Agnes starb fast vor Scham, als Eugene um einen besseren Platz bat, näher an den Glastüren und dem beleuchteten Fairway dahinter. Doch das Mädchen lächelte nur und führte sie zu einem Tisch weiter vorne. Als sie sich setzten, wünschte Eugene den Gästen an den Tischen rechts und links laut vernehmbar einen guten Abend. Die Leute nickten höflich zurück.
Das Gericht hatte einen schicken gälischen Namen, aber sie erkannte, dass es Hähnchen war. Eigentlich wollte sie nur Hähnchen mit Bratkartoffeln bestellen, aber Eugene gab dem Kellner die Speisekarte erst zurück, als sie eine Vorspeise, eine Hauptspeise und einen Nachtisch gewählt hatte. Am liebsten hätte sie die Speisekarte ein paar Tage lang für sich gehabt. Sie wusste nicht bei allem, was sich dahinter verbarg, aber alles vor sich zu sehen und zu wissen, dass sie die freie Auswahl hatte, machte sie schwindelig. Es war wie der Freemans-Katalog, nur besser. Sie bestellte, was sie verstand, und dann machte sie sich Sorgen um die Preise.
»Hör mal, Eugene, du kannst gerne was trinken, wenn du willst. Mach dir meinetwegen keine Sorgen«, sagte sie, als der Kellner zwei sprudelnde Colas brachte. Die Gläser waren hoch, und in jedem steckte ein Rührstäbchen, die eigentlich in Cocktails gehörten. »Ganz schön schick, oder?« Agnes betrachtete das Stäbchen und konnte sich nicht entspannen. »Wirklich, es macht mir nichts aus, wenn du dir einen kleinen Drink bestellst.«
Die Krabbencocktails kamen. Das Eisschälchen war mit einem Salatblatt garniert, und gefrorene rosa Krabben schwammen in einem Meer aus dicker Marie-Rose-Soße. Am Glasrand steckten dicke Zitronenkeile. Die Shrimps waren noch etwas kalt, nicht ganz aufgetaut, und Eugene sagte, so was gehöre sich nicht für einen Laden wie diesen. Agnes störte es nicht, sie fand, es schmeckte frisch, ein eisiger knackiger Stich in der süßen, würzigen Cocktailsoße. »Ich habe auch schon Marie Rose gemacht. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, Zitrone hineinzugeben oder …«
Eugene unterbrach sie mitten im Satz. »Ich habe noch eine Frage an dich.«
Agnes legte die kleine Gabel hin.
»Tut mir leid, wenn ich schon wieder damit anfange«, sagte Eugene unbehaglich. »Es ist nur, ich versuch es zu verstehen, schätze ich. Aber, also, ham diese Leute, ich meine, die Anonymen Alkoholiker, ham die dir gesagt, wann du wieder gesund wirst?«
Der Kellner kam und räumte die Schalen weg, bevor Agnes sprach. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Sie sagen uns, dass wir nie gesund werden. Jedenfalls nicht so, wie du meinst«, fügte sie hinzu und sah ihm in die Augen.
»Aber du hast doch zu mir gesagt, dass du jetzten anderer Mensch bist. Du hast mir selbst gesagt, dass ers gewesen ist, der dich zur Flasche getrieben hat. Und dat is doch jetzt vorbei. Wenn wirs ernsthaft miteinander versuchen, du und ich, meinst du nich, dass wir dich davon abhalten können?«
»Ich glaube nicht, dass es so funktioniert.«
»Son Quatsch. Wenn ich bei dir bin, wofür brauchste dann nochen Alkoholproblem? Trinken tun nur solche traurigen, jämmerlichen Gestalten. Aber kuck dich jetzt an. Kuck mich an, verdammt noch mal.« Das Paar in den pastellfarbenen Pullovern am Nebentisch räusperte sich. Eugene senkte die Stimme wieder. »Hör zu, ich sag doch nur, dass ich dich gut leiden kann. Ich finde, du bist ne absolute Granate.«
Eugene nahm die Niederlage nicht hin, und Agnes konnte sich vorstellen, dass er es gewohnt war, alles, was kaputt war, reparieren zu können. Sie kam sich vor wie ein alter Motor, den jemand im Garten liegen und verrosten lassen hatte. »Tja, ich kann dich auch gut leiden.«
Der Kellner brachte die Hauptspeisen. Er wickelte sich ein Küchenhandtuch um die Hand und stellte die heißen Teller elegant vor das Paar. Agnes sah zuerst ihr Brathähnchen an, dann bewunderte sie Eugenes Lamm mit Pellkartoffeln wie ein Kind an Weihnachten. Eugene achtete nicht auf das Essen und zeigte mit dem dicken Finger in Richtung des Kohlereviers. »Du bist die schönste Frau in der ganzen Siedlung. Die meisten lassen nicht mal ne Bürste an ihr Haar, und sieh dich dagegen an. Von morgens bis abends makellos.« Er beugte sich vor. »Ich muss es einfach wissen. Bevor ich dir ganz verfalle. Bevor wir wat Ernstes anfangen.«
Agnes war unbehaglich zumute. Sie versuchte das Thema wieder auf das Essen zu lenken. »Das sieht ja köstlich aus. Große Portionen, oder? Ich dachte, ich kriege vielleicht ein Stück Brust oder einen Schlegel, aber nicht das ganze halbe Huhn.«
Der Kellner hüstelte und fragte, ob sie alles hätten, was sie wünschten. Eugene nickte. Dann überlegte er es sich anders. »Junge, bring uns eine Flasche von euerm Hauswein, in Ordnung?«
»Rot oder weiß, Sir?«, fragte der Kellner leise.
Eugene sah Agnes an, die wie versteinert dasaß. Er sah den Kellner wieder an. »Würden Sie zu dem Hähnchen Weißen empfehlen?« Der Kellner nickte und sagte, das sei eine gute Idee. Also bestellte Eugene eine Flasche Weißwein.
»Du musst nich, wenn du nich willst«, sagte Eugene sanft. »Ich zwing dich zu nix.«
Das Hähnchen, das eben noch so golden und saftig ausgesehen hatte, lag plötzlich tot und trocken vor ihr. Der Kellner brachte die Flasche Wein. Er bot an, Agnes’ Glas einzuschenken, und sie lehnte nicht ab. Sie registrierte, dass der Wein fast die gleiche helle Pfirsichfarbe hatte wie die Rosen in ihrem Garten. »Pfirsichfarbene Rosen sind angeblich die Farbe der Ehrlichkeit, die Farbe der Dankbarkeit, wusstest du das?«
Die beiden saßen da und sahen das Glas lange an. Eugene hob seines und sprach einen alten schottischen Toast auf die beiden aus. »Opp uns. Weas wie wia? Heel min, und die sin all doud!« Agnes lächelte verhalten und hob ihr Cola-Glas. Es war schal und wässrig geworden.
»Du hast mir nicht viel von deiner Tochter erzählt.« Sie schob das Hähnchen auf dem Teller herum. »Bernadette, oder?«
»Ach, die is jetzt wohl erwachsen. Sie wirkt Wunder bei den Kindergartenblagen drüben in Saint Luke. Da isse wie ihre Mutter, mit der warse ganz eng, alse noch gelebt hat. Ham immer ihre Sachen zusammen gemacht, die beiden, gute Sachen für die Kirche, Wohltätigkeitskram für die Bergmannswitwen.« Er pulte sich ein Stück Knorpel aus den Backenzähnen. »Aber manchmal treibtse sich zu viel inne Kirche rum. Die beiden waren ständig an dem Scheißweihwasser. Hin und her, wie inne Tunke.«
»Jedenfalls klingt es, als wäre sie ein guter Mensch«, sagte Agnes, auch wenn der Gedanke an Colleen bei ihr Zweifel säte. »Hast du ihr von mir erzählt?«
»Nein«, sagte Eugene ausdruckslos.
»Oh!« Sie hätte gern weniger enttäuscht geklungen.
»Weil unser Colleen es ihr schon erzählt hat.«
Agnes seufzte. »Ich wette, sie hat ein schönes Bild von mir gezeichnet.«
Eugenes Blick glitt über das unberührte Weinglas. »Ich nehm an, dat kann man so sagen.«
Sie aßen das Hauptgericht und redeten über Taxis und Snackbars, Südafrika und die Palladiumminen dort. Agnes schob die öligen Kartoffeln unter das halbgegessene Hähnchen. Der Kellner räumte die Teller ab und brachte das Tiramisu. Eugene trank die Flasche aus, während ihr Glas mit dem pfirsichfarbenen Wein unberührt dastand und wärmer wurde.
»Ich glaube, ich bekomme keinen Bissen mehr runter.« Sie stocherte in ihrem Tiramisu herum. »Aber es ist köstlich. Die beste Creme, die ich je hatte.«
»Nen lütter Whisky wär jetzt genau dat Richtige«, sagte Eugene und schob sich den letzten Löffel Nachtisch in den Mund.
»Mit Whisky hättest du mich immer jagen können, selbst in meinen schlimmsten Zeiten. Ich finde, Whisky ist wie Gin. Er macht einen traurig. Ich hab nicht getrunken, um traurig zu sein. Ich hab getrunken, um die Traurigkeit loszuwerden.«
»Wat haste denn getrunken?«
»Och, meistens bloß Bier, und wenn ich es mir leisten konnte, eine Halbliterflasche Wodka. An schlechten Tagen hat das Zeug meinen Kampfgeist geweckt.« Sie hielt inne. »Aber man kriegt die schlimmsten Filmrisse davon. Na ja, wenn man trinkt, um sich zu betrinken, zumindest.«
»Ich kann gar nicht glauben, dass sie und du dieselbe Person seid.« Er ließ eine Pause, dann sagte er: »Wat, glaubst du, würde passieren, wenn du jetzt einen Schluck von dem Wein hier trinken würdest.«
»Wahrscheinlich würde ich mehr wollen.«
»Vielleicht auch nicht.«
»Vielleicht«, sagte sie, dann versuchte sie die Stimmung aufzulockern: »Eugene, du musst mich nicht abfüllen, um mich gefügig zu machen.«
»Ein Glück!« Er kehrte mit der Hand die Krümel auf dem Tisch zusammen. »Dann könnt ich mein Geld genauso guten Abfluss runterspülen.« Er lachte, und sein Gesicht färbte sich rosa. »Hömma, ich will dich nich abfüllen. Ich will nur, dass du versuchst, ein Glas zu trinken.«
»Aber warum?« Agnes war plötzlich sehr müde.
»Weil … weil es dat is, was normale Leute machen.« Er schwenkte das warme Glas. »Kuck, nurn Schlückchen. Einfach wegen der Gesellschaft. Dir passiert schon nix. Wennde anfängst Ärger zu machen, lass ich dich rausschmeißen, und dann kannste zu Fuß nach Hause gehen.« Er schob das Glas an dem langen, eleganten Stiel zu ihr hin. »Dir passiert nix. Du bist jetzt ne andere Frau.«
Agnes nahm das Glas in die Hand und hielt sich den Wein unter die Nase. Das Glas war warm, und der Wein roch nach Sonnenschein. »Ich trinke nicht mal besonders gern Wein«, sagte sie und schob das Glas weg.
»Ach wat, du machst dir bloß vor Angst inne Hose.«
Sie hatte Angst; sie hatte schreckliche Angst, aber das würde sie ihm nicht zeigen. Sie setzte das Kristallglas an die Lippen und ließ sich einen kleinen Schluck in die Kehle laufen. Er brannte auf eine Art, an die sie sich nicht erinnerte. Der Wein schmeckte nicht nach Sonnenschein. Er schmeckte sauer, nach grünen Äpfeln und Essig. »Siehst du«, sagte sie und stellte das Glas wieder hin.
»Siehst du?«, sagte Eugene mit leuchtenden Augen. Er wirkte, als würde er gleich auf die Füße springen. »Du hast dich nicht selbst entzündet. Dir ist kein zweiter Kopf gewachsen.« Er hob sein fast leeres Glas an und prostete ihr zu. »Cheers! Ich bin so stolz auf dich. Ich wusste, dasses nich stimmt, wat meine Schwester sagt.«
Er hatte recht: Sie fühlte sich kein bisschen anders. Colleen hatte unrecht. Agnes spürte eine Welle der Erleichterung. Langsam trank sie das Glas Wein aus, in der Hoffnung, dass das, was er über sie sagte, stimmte, mit dem Gefühl, sie hätte den AA ein Schnippchen geschlagen und konnte wieder normal sein.
Als die Rechnung kam, zahlte er mit kleinen, fest zusammengerollten Scheinen aus den Nächten, in denen er Taxi fuhr. Beim Aufstehen war Agnes von innen warm, und Eugene führte sie in die kleine Bar des Golfclubs. Er hatte den Arm um ihre Taille geschlungen, und sie war glücklich, dass die Leute sie bewundernd ansahen. Als sie nebeneinander in der Ecke saßen, küsste Eugene ihr Ohrläppchen, und Agnes bestellte einen Wodka Tonic, und dann noch einen und dann noch einen.
Das Taxi fuhr in Schlangenlinien zurück in die dunkle Siedlung. Zum Glück waren keine anderen Autos unterwegs. Agnes schlitterte auf dem Rücksitz herum und dämmerte immer wieder weg. Eugene hielt mit dem Taxi wieder vor dem Tor der stillgelegten Zeche. Im Dunkeln versuchten sie zu vögeln, aber sie waren ungeschickt, und es tat weh, und irgendeine verschwommene dunkle Erinnerung ließ sie innerlich versteinern. Als Eugene sich auf ihr zu schaffen machte, fielen ihm Münzen aus den Taschen und gaben ihr das Gefühl, sie werde dafür bezahlt.
Bis Agnes den Hausschlüssel endlich ins Schloss manövriert hatte, brannte im Flur längst Licht. Als sie in den Windfang taumelte, spürte sie, wie der Mohairmantel an den Spitzen des Rauputzes Fäden zog, und sie hörte, wie ihre Strumpfhose aufriss.
Sie war sich sicher, dass sie zu Leek hochlächelte, deshalb verstand sie nicht, warum ihr Sohn so wütend auf sie war, warum er sie von oben herab anbrüllte. Sie verstand nur, dass er ungebremst die Fäuste auf Eugenes großen Kopf niederprasseln ließ. Das Einzige, woran sie sich sonst noch erinnerte, war, dass eine zweite Zimmertür aufging, und in der Tür stand der kleine Junge mit dem sorgenvollen Gesicht seiner Großmutter. Sein Gesicht war nass vor Enttäuschung. Seine Schlafanzughose war dunkel von Pisse.