Weihnachten kam und ging, und Agnes begann früh mit der Silvesterfeier. Bis es an Hogmanay dunkel war, hatte sie sich immer wieder heimlich an dem Wodka bedient, der halb verdeckt hinter dem Sessel stand. Als im Fernsehen die Silvestervorbereitungen anfingen, öffnete sie mit triumphierendem Knacken Special-Brew-Dosen und ließ das Bier zischend in die alte Teetasse fließen. Es waren noch Stunden, bis die Hogmanay-Glocken läuten würden, und Agnes betete schon die Liste all der Männer runter, die sie in den Ruin getrieben hatten.
Falls Agnes mitbekam, dass Leek sich langsam in Luft auflöste, sprach sie nicht darüber. Leek hatte sich die ganze Weihnachtswoche im Schlaf versteckt. Nachts war er in die Stadt getrampt und hatte sein Lehrlingsgehalt an den Automaten unter dem Hauptbahnhof verspielt. An Hogmanay verschwand er früher als sonst, wie jemand, der Regen aufziehen sieht und versucht, ihm davonzulaufen.
Shuggie blieb zu Hause, hielt die betrunkene Agnes von der Haustür und dem Telefon fern. An Hogmanay saß er am Fenster und sah, wie in anderen Wohnzimmern die Weihnachtsbäume aufblinkten, während er an den weißen Gardinen lutschte. Er stopfte sich den Mund damit voll, bis der Hunger nachließ. Er verhunzte die Vorhänge vor ihren Augen, wünschte, sie würde es ihm verbieten, aber sie tat es nicht.
Während die McAvennies draußen ihre neuen Fahrräder ausprobierten und sich über den Besuch von Big Jamesy freuten, saß Shuggie wie ein stummer Schatten zu Agnes’ Füßen. Er sah wortlos zu, wie sie aus ihrer bodenlosen Tasse trank. Sie erzählte ihm wieder schlimme Dinge von seinem Vater, nahm die Geschichte wieder auf wie ein Buch, das sie für ein Jahr aus der Hand gelegt hatte.
Nach den Sechs-Uhr-Nachrichten saß sie auf dem Bett und nuschelte am Telefon mit Jinty McClinchy. Shuggie schlich in den Flur und setzte sich mit dem Rücken an die Schlafzimmertür. Durch die Spanplatte konnte er dem glockenkurvenartigen Absturz ihrer Laune lauschen. Er fragte sich, wie lange es noch dauerte, bis sie wegdämmerte und er sich ausruhen konnte.
Der Kassettenrekorder lief, was ein schlechtes Zeichen war. Er schlüpfte ins Schlafzimmer wie ein wachsamer Geist. Agnes rauchte und war nackt bis auf die durchsichtige schwarze Strumpfhose und den schwarzen Spitzen-BH. Shuggie kaufte ihr ständig neue Strumpfhosen. Agnes war zu stolz, um mit einer Laufmasche das Haus zu verlassen, und der Junge wusste inzwischen, welche Größe und welches Modell sie gerne trug. Pretty Polly tiefschwarz semitransparent tauchten in all seinen Erinnerungen an sie auf, den guten wie den schlechten.
An dunklen Tagen wie heute kam ihm die Stumpfhose schmutzig und böse vor. Sie stand in scharfem Kontrast zu ihrer rosigen Haut und betonte die Tatsache, dass sie nicht anständig angezogen war wie andere Mütter. Die Strumpfhose hinterließ rosa Streifen im weichen Speck ihres Bauchs, wo sie in ihr Fleisch schnitt. Der Anblick war ihm zu intim. Er wünschte, sie hätte die Streifen vor ihm verborgen.
Sie hatte vergessen, dass er zu Hause war. Als sie ihn schließlich im Spiegel bemerkte, lächelte sie das glasige Lächeln, das herauskam, wenn sie die Zähne nicht öffnete. Dann griff sie tief in ihre schwarze Ledertasche und fischte ein einzelnes Fünfzig-Pence-Stück heraus. »Sieh dich an«, murmelte sie, »wie sollen wir Hogmanay feiern, wenn du noch im Schlafanzug bist?« Sie gab ihm die Münze und schickte ihn in die Badewanne.
Er wollte sie so nicht allein lassen. Er sah, wie fremd sie in ihrem eigenen Körper war. Sie legte die Arme um seine Taille, zog ihn an sich und gab ihm einen Kuss auf die Lippen. Er spürte ihren heißen Atem, die leicht geöffneten, leblosen Lippen. »Jetzt wasch dich gründlich«, warnte sie. »Ich will, dass das Jahr richtig anfängt.«
Als die Badewanne halb voll mit lauwarmem Wasser war, stieg Shuggie vorsichtig ein. Er massierte sich den Schaum in die Kopfhaut, legte sich zurück und lauschte ihrem Schlurfen von Versteck zu Versteck auf der Suche nach Alkohol, den sie vor ihm versteckt und vergessen hatte. Er nahm das kleine rote Fußballbuch heraus, das Eugene ihm geschenkt hatte, und begann alle Teams und Ergebnisse von jedem Spiel der ersten Liga im vergangenen Jahr auswendig zu lernen. Das war der Rosenkranz, mit dem er Buße tat, und er wiederholte die bedeutungslosen Zahlen, bis er sie sich eingeprägt hatte. Neues Jahr, neues Glück.
Seine Kleider für Hogmanay lagen auf ihrem Bett. Es war das monochrome Gangster-Outfit, das schwarze Hemd mit der weißen Krawatte. Schweigend zogen sie sich nebeneinander an wie ein unglückliches Ehepaar, das auf eine besondere Party eingeladen war. Er stützte seine Mutter, damit sie nicht umkippte, und half ihr in den Rock. »Lass dich anschauen.« Sie fuhr mit dem lackierten Finger über seine Nase. »T’chut, wie gut du aussiehst!« Sie schüttelte verträumt den Kopf. »Kein bisschen wie dein fetter Drecksack von Vater.«
Agnes löste eine Dose warmes Special Brew aus dem Plastikhalter. Sie sah sie liebevoll an und legte sie feierlich in seine Hände. »Hier. Bring das rüber zu Colleen. Wünsch ihr ein frohes neues Jahr von mir und zeig ihr, wie fesch du bist.« Ein bitteres Lächeln zuckte über ihre Lippen. »Und vergiss nicht, Tante Colleen von mir und Eugene Neujahrswünsche auszurichten, eh?«
In jedem Haus auf der Straße brannten die Lichter am Weihnachtsbaum und strahlten stolz durch das Wohnzimmerfenster. Vergnügte Jungen flitzten jetzt schon mit Kohlestückchen über die Straße, obwohl es noch viel zu früh für First Footing war. Shuggie ließ sich auf dem kurzen Weg zu Colleen Zeit. Er bummelte an den Holzzäunen entlang, hinter denen dichte Hecken mit weißen Beeren wucherten. Er hatte nicht die Absicht, das Bier oder die Grüße seiner Mutter zuzustellen.
Als er die Straße überquerte, fragte er sich, was die Leute wohl aßen. Er stellte sich vor, wie sie mit vollen Bäuchen in der warmen Stube zusammensaßen. Als er vor Colleens Haus stand, zerdrückte er die Winterbeeren zwischen den Fingern und dachte an die Steak-und-Butter-Sandwiches, die die nüchterne Agnes letztes Jahr zu Silvester gemacht hatte. Er dachte daran, wie sie aneinandergekuschelt auf dem Sofa saßen, Pfefferminzschokolade aßen und im Fernsehen zusahen, wie die Menge auf dem George Square das neue Jahr mit Liedern begrüßte.
Shuggie überlegte, was er mit der Dose Bier machen sollte. Er hockte sich in die dunkle Ecke neben Colleens Kohlekasten und zog an dem Ring. Mit einem hefigen Zischen löste er sich von der Dose, und der vertraute Geruch hing schwer in der kalten Luft. Vorsichtig leckte Shuggie das Bier von der Dose. Der Schaum schmeckte harmlos, blasig, wie bittere Luft, ein bisschen sauer und metallisch, als würde man die Lippen um den kalten Wasserhahn in der Küche schließen. In seinem Magen bohrte der Hunger, die Erwartung, gefüllt zu werden, egal mit was. Zusammengekauert wie ein Tier drehte er den Rücken zur Straße und trank einen Schluck Starkbier. Es brannte nicht. Es schmeckte wie schales Gingerale mit einem Stück Vollkornbrot. Er trank noch einen Schluck und noch einen, und das Knurren seines Magens wurde leiser.
Die Wärme und das schwindelige Gefühl im Herzen taten ihm gut. Der Hunger legte sich, und er fühlte sich etwas leichter, als er das Tuckern eines Diesels hörte, der die Straße heraufkam. Er sah, wie Agnes über den holprig gepflasterten Gartenweg stolperte und den lila Mantel über dem kurzen Rock zuhielt. Sie sagte etwas Flirtendes zu dem Taxifahrer und stieg unelegant hinten in den Hackney ein. Der Fahrer trug eine dicke Brille mit Kassengestell; es war eindeutig nicht Eugene. Panik erfasste Shuggie, als das Taxi aus Pithead hinausfuhr.
In den vier Monaten und dreizehn Tagen, seit Eugene seiner Mutter dazu verholfen hatte, wieder mit dem Trinken anzufangen, kam der rothaarige Taxifahrer jede Woche zwei, drei Mal vorbei. Wenn Shuggie an diesen Tagen hörte, wie Leek morgens zur Arbeit ging, schlich sich ein paar Minuten später Eugene in das stille Haus. Shuggie konnte den Fernsehzähler danach stellen.
Seit dem Abend im Golfclub besaß Eugene genug Vernunft, um Leek aus dem Weg zu gehen. Als Agnes singend im Flur auf den Teppich gesunken war, hatte Leek aufgeheult und Eugene in Boxershorts auf die Straße gejagt. Eugene hätte sich leicht wehren können, aber sein Anstand gebot ihm, dass er sich aus dem Haus werfen ließ und bis hinaus zum Bordstein entschuldigte.
Eugene hatte in jener Nacht vor Reue nicht schlafen können. Früh am nächsten Morgen hatte er sich vor den vorwurfsvollen Blicken seiner Tochter mit dem Telefon im Bad verschanzt und hinter sich abgeschlossen. Er hatte Agnes geweckt, und sie hatten sich am Tor der alten Zeche verabredet. Er hatte sich dafür entschuldigt, dass er sie zum Trinken überredet hatte, und versprochen, ihr zu helfen, wieder davon loszukommen. Sie hatten hinten im kalten Taxi gesessen, und Agnes hatte ihn geküsst, um sich seiner zu vergewissern. Ihre schlaffe Zunge fühlte sich dick und leblos an, und Eugene hoffte, die Bierfahne war noch der Rest von gestern Nacht. Aber als ihr Kopf im Taxi zur Seite kippte, war ihm eingefallen, dass sie im Golfclub kein Bier getrunken hatte.
Eigentlich hatte Shuggie erwartet, dass Eugene sich nach jener Nacht verdrücken würde. Stattdessen saß der Junge in der Schuluniform am Telefontisch, wenn Eugene morgens vorbeikam, und lauschte, wie sich die beiden unterhielten. Shuggie schlug auf dem Schoß die Hausaufgaben auf und setzte mit einem alten Kuli sorgfältig ihre Unterschrift darunter. Er erinnerte sich an die Zeit, als er bei Lizzie einmal mit einer der nachgemachten Capodimonte-Figuren seiner Mutter gespielt hatte. Es war ein kleiner, romantischer Bauernjunge aus Porzellan gewesen. Er hielt eine stumpfe Sichel in der Hand und starrte mit einem seltsam sehnsüchtigen Blick ins Leere, als würde er dem herrlichsten Sonnenuntergang zusehen. Agnes hatte Shuggie mehrmals verboten, mit dem Jungen zu spielen, aber Shuggie konnte einfach nicht die Finger von ihm lassen, und als seine Mutter eines Sonntags in der Badewanne lag, war ihm die Porzellanfigur hingefallen, so dass ein Arm abgebrochen und die Sichel zersplittert war. Shuggie hatte die zerbrochene Figur in Lizzies dunklem Trockenschrank versteckt. Er hatte sich neben den Heizkessel gesetzt und versuchte den Arm mit allen möglichen Klebstoffen wieder anzukleben, von Tesafilm bis Fischmehl. Eine Woche lang hatte er den kaputten Bauernjungen jeden Tag besucht und um ein Wunder gebetet. Wenn er nicht bei ihm im Trockenschrank war, konnte Shuggie an nichts anderes denken, und wenn er im Schrank saß, weinte er über seine Tat. Die Woche war wie Folter gewesen, bis er am Ende nicht mehr konnte und die Figur einfach vergammeln ließ, versteckt zwischen ein paar alten Handtüchern, auf dass sie eines Tages ein anderer fand und reparierte.
Shuggie saß am Telefontisch und dachte an die zerbrochene Porzellanfigur. Er lauschte den leisen Stimmen, die Erwachsene morgens benutzten, und er hörte Eugene an, dass er müde von der Nachtschicht war. Eugene hatte ein Tapetenbuch dabei, und er fragte Agnes, welche Muster ihr gefielen, fröhliche Wiesenblumen oder breite Streifen mit kleinen Lilien. Vom Telefontisch aus hörte Shuggie der Schweigsamkeit seiner Mutter an, dass sie Kopfschmerzen hatte und all ihre Energie brauchte, um Eugene zum Frühstück Leber zu braten.
»Es wär überhaupt keine Arbeit«, sagte Eugene heiter. »Ich mach dir die ganze Küche an einem Tag. Mein Vatter hat mir maln Rezept gegen Schimmel gegeben. Damit schrubb ich morgens die Wände ab, und am Nachmittag tapezier ich. Dann is die Küche in null Komma nix wie neu.«
»Ja, mach nur«, sagte Agnes mit dünner Stimme.
»Alles klar bei dir?«
»Ja«, sagte sie. »Nur ein bisschen Kopfschmerzen.«
Shuggie hörte, wie Eugene das schwere Tapetenbuch zuklappte; er stellte sich vor, wie er die Hände darauflegte, die Handflächen geöffnet. »Weißt du, vielleicht wärs besser, wenn du heute am Tag mal nix trinkst. Wie wärs, wenn du, sobald du Durst bekommst, liebern lütten Spaziergang machst oder so wat?«
Shuggie hörte, wie seine Mutter versuchte, ausgeglichen und gelassen zu klingen. Sie schliff ihre Stimme ab wie ein raues Stück Holz, hobelte die Splitter des Sarkasmus ab. »Lütter Spaziergang. Ja. Vielleicht würde das helfen.«
Ein paar Wochen später, als die Küche frisch tapeziert war, fiel Shuggie auf, dass Eugene aufgehört hatte, solche Dinge zu sagen. Stattdessen sagte er, wenn Agnes unbedingt trinken musste, sollte sie wenigstens aufhören, den Taxifunk nach ihm abzuklappern. Shuggie setzte sich an das Telefontischchen und schlug ihr zerfleddertes Telefonbuch auf. Er nahm den abgekauten Kuli, fand Eugenes Name und machte aus der 6 in seiner Telefonnummer eine 8. Dann fand er die Nummer der Taxizentrale und machte, so gut er konnte, aus jeder 1 eine 7.
Als Shuggie aufsah, stand Eugene mit einem Kreuzschraubenzieher in der Küchentür. Shuggie beobachtete, wie er durch den Flur ging und alle Türangeln festzog, bis das Holz knirschte. »Ich dachte grade«, sagte er zu ihr, »dat Taxi muss nächste Woche in die Werkstatt, und ich hab ein paar Abende frei. Vielleicht können wir mal ausgehen, ich mein, so richtig, am Abend. Vielleicht fahren wir noch mal zum Golfclub und bestellen den Krabbencocktail, der dir so gut geschmeckt hat. Ich dachte, dass ich diesmal mal nix trinke. Vielleicht braucht diesmal keiner von uns wat zu trinken.«
Shuggie nahm seine schmutzige Teetasse und schlich sich an Eugene vorbei in die Küche. Seine Mutter saß am Tisch, den Kopf in den Händen, ein Eimer zwischen den Knien, und massierte sich den Schädel. Die neue Tapete war wirklich schön, die gelbe und blaue Blumenwiese heiterte den engen Raum spürbar auf. Eugene war sehr geschickt und ordentlich beim Aneinanderkleben der Bahnen mit den Glockenblumen gewesen. Der Schimmel war weg, aber wenn Shuggie jetzt zum Fenster sah, wirkte das braune Marschland wie ein großer rechteckiger Schandfleck in der hübschen Blumenwiese.
Shuggie kauerte vor dem Kohleschuppen der McAvennies und kippte den Rest des Neujahrs-Biers ins tote Gras. Aus Scham versteckte er die leere Dose unter seinem Hemd. Er überquerte benommen die Straße und fand die Haustür offen und alle Lichter an. Fassungslos wanderte er von Zimmer zu Zimmer, immer noch überzeugt, dass sie irgendwo war. Dann durchsuchte er die leeren Küchenschränke und fand eine letzte Dose Vanillesoße. Er öffnete sie und steckte den Löffel tief hinein. Die süße Creme beruhigte das wogende Bier in seinem Bauch. Shuggie setzte sich auf den Couchtisch und schlang gierig die Vanillesoße herunter, während im Fernsehen die glücklich Feiernden am George Square übertragen wurden.
Die Ceilidh-Band war in vollem Schwung, als Shuggie klar wurde, dass sie nicht mehr nach Hause kam. Die Feiernden fielen sich singend in die Arme. Er fühlte sich wie ein Baby, das Heimweh nach seiner Mammy hatte. Es war einfach nicht fair, dass alle einfach aufstehen und gehen konnten, wie es ihnen passte.
Shuggie suchte nach irgendeinem Hinweis oder Zettel, wo sie hingegangen sein könnte, einer Schatzkarte, aber es war nichts da. Er durchwühlte ihre schwarze Bingotasche und fand all ihre Filzstifte darin. Er ging zum Telefontischchen im Flur und überlegte, wen er anrufen konnte. In dem roten, ledernen Adressbuch neben dem Telefon standen alle Leute, die Agnes kannte. Seine Mutter hielt es gewissenhaft auf dem neuesten Stand, und manche Namen waren durchgestrichen, offenbar im Zorn. Neben ihrer ordentlichen Druckschrift standen in einer anderen Schrift, die aussah, als gehörte sie einer anderen Frau, kurze Kommentare. Nan Flannigan schuldet meiner Mammy immer noch 5 Pfund von 1978, Ann Marie Easton falsche Nutte, Davy Doyle hatte an Daddys Begräbnis einen dunkelblauen Anzug an, Brendan McGowan wollte bloß eine Sklavin und Haushälterin.
Viele der Einträge waren nur Vornamen. Shuggie nahm an, dass die meisten davon Anonyme Alkoholiker waren. Bei einigen davon stand noch eine Beschreibung, eine Information, zum Beispiel um die eine Elaine von der anderen zu unterscheiden. Shuggie fand es seltsam, dass AA-Mitglieder immer nur ihre Vornamen benutzten. Vielleicht ging es ihnen dabei um ihre Anonymität, weil Nachnamen zur familiären Privatsphäre gehörten, aber wahrscheinlicher schien ihm, dass bei dem ständigen Kommen und Gehen Beschreibungen sinnvoller als Namen waren. Ein paar der Namen erkannte Shuggie wieder: Montag-Donnerstag-Peter, der große kahle Peter, Mary-Doll, Jeannette Mary-Dolls Freundin, Cathy aus Cumbernauld und die Kleine Rote Jeanie, die verwirrenderweise unter R stand, nicht unter J. Das störte ihn.
Seine Mutter konnte überall sein, und plötzlich bekam er Angst, dass er sie bis Februar nicht wiedersah. Er schrie das dicke Buch an. »Wo zum Teufel bist du? Sag schon!«
In Schottland wurde Hogmanay auch mal zwei Tage lang gefeiert. Hogmanay in Agnes’ Glasgow dauerte noch viel länger. Die erste Silvesterparty in Pithead, die Agnes gegeben hatte, war erst nach einer knappen Woche zu Ende gewesen. Am sechsten Tag war Agnes immer noch betrunken. Erst als sich Shuggie die Schuluniform anzog und fürs zweite Halbjahr fertig machte, entschied Leek, dass es reichte. Leek hielt einiges aus, aber am sechsten Januar zog er mit einem schwarzen Müllsack durchs Haus und beförderte zwei verwilderte Bergmänner auf die eisige Straße.
Shuggie dachte an Leek, an seine kreischenden, blinkenden Spielautomaten, und sein Magen zog sich zusammen. Er hatte es satt, von seinem Bruder den Schwarzen Peter zu erben. Er knetete seine Unterlippe, nahm planlos den Hörer in die Hand und atmete den schalen Rauchgeruch und den Duft ihres Lippenstifts ein, die noch an der beigen Sprechmuschel hingen. Trostsuchend lauschte er dem Summen des Freizeichens. Als er den Tastenblock anstarrte, fiel sein Blick auf die rote Wahlwiederholungstaste, und er drückte sie.
Es tutete lange, bis jemand antwortete. Shuggie verstand die Frau am anderen Ende kaum, so laut spielten die Oldies im Hintergrund. »Hallo? HALLO! Wer da?«, rief sie mit rauchiger, vom Trinken schwerer Stimme.
»Hm. Ist meine Mutter da?«, fragte er. Er hatte sich kerzengerade aufgerichtet.
»Wer spricht da?« Die Stimme klang genervt. »Wer issen deine Mammy, Lütter?«
»Meine Mutter ist Agnes Campbell Bain«, sagte er. »K-können Sie ihr sagen, hier spricht Shug — Hugh?«, verbesserte er sich. »Bitte sagen Sie ihr, die Vanillesoße ist alle.«
Die Frau lehnte sich zurück in das Partygetöse. »Hey, kennt hier jemand eine Agnes?«, brüllte sie in den Raum hinter sich.
Andere Stimmen waren zu hören, dann sagte sie: »Watmahn kleinen Moment, Lütter. Ach, unden frohes neues Jahr.« Bevor er antworten konnte, hatte sie den Hörer hingelegt. Im Hintergrund hörte er lachende Menschen, und er wusste, dass sie alt waren, weil sie jetzt schon die traurigen schottischen Lieder spielten. Shuggie wartete und lauschte lange. Er glaubte schon, dass sie ihn vergessen hatten, als sich jemand meldete.
»Sh—hallo?«, nuschelte eine vertraute Stimme.
»Mammy? … Ich bin es.«
Die Stimme schwieg eine Weile, und dann klang sie verwirrt. »Was willst du? Wie viel Uhr ist es?«
»Wann kommst du nach Hause?«
»Wie viel Uhr ist es?«
Shuggie spähte um die Ecke und machte im Licht des Fernsehers die Zeiger der kleinen Uhr aus. »Halb elf, nein, fast elf.«
Die Stimme schwieg. Er hörte das Aufflackern eines Feuerzeugs und das Knistern, als sie an der Zigarette zog. »Na ja, dann müsstest du im Bett liegen.«
»Wann kommst du nach Hause?«
»Hey, ganz ruhig. Kann deine Mammy nicht mal auf eine Party gehen? Es ist lange her, Hugh.« Ihre Stimme verlor sich. »Als ich jung war, hat man mir viele Partys versprochen. Warum verdirbst du mir die Party?« Sie wiederholte sich.
»Mammy, ich habe Angst. Wo bist du?«
»Ich bin oben bei Anna O’Hanna. Husch, husch, ins Bett, wir sehen uns, wenn ich heimkomme.« Wann, ließ sie unheilvoll vage.
Dann war die Leitung tot, und er brauchte eine Weile, bevor er auflegte. Shuggie überlegte, ob er noch einmal anrufen sollte, aber sie würde nicht mehr ans Telefon gehen. Er saß noch einen Moment da, dann legte er sich angezogen ins Bett, ohne das Licht oder den Fernseher mit den lauten Hogmanay-Feiern auszuschalten. Draußen riefen fröhliche Stimmen; er hörte, wie die McAvennie-Kinder die Straße hoch- und runterliefen und aus voller Kehle »Prost Neujahr« brüllten. Sie hatten eine hölzerne Fußballratsche, mit der sie großes Getöse machten.
Shuggie stand wieder auf und ging zurück an den Telefontisch. Er sah unter A nach, und dann unter O, und dort fand er sie, Anna O’Hanna. Er hatte den Namen schon gehört. Anna war nicht bei den AA, sie war eine Kindheitsfreundin von Agnes, mit der sie vielleicht, vielleicht auch nicht, entfernt verwandt war. Agnes und Anna hatten in ihrer Jugend in der Kantine des Glasgower Lokalsenders STV gearbeitet und waren im Tollcross-Park tanzen gegangen. Laut der Handschrift seiner Mutter war Anna ein hinterlistiges schlitzäugiges altes Klatschmaul, und außerdem die beste Freundin, die ich je hatte.
Unter dem Namen stand eine Adresse, und daneben stand Germiston. Shuggie hatte keine Ahnung, wo Germiston war, aber alle Leute, die Agnes kannte, wohnten in Glasgow, also hoffte er, dass Germiston in Glasgow war. Er riss eine leere Seite aus dem Telefonbuch und schrieb die Adresse so ordentlich wie möglich ab. Dann rief er die Nummer an, die er im Telefonbuch unter Taxi fand.
»Hullo, Mack’s Hacks«, sagte eine raue Stimme.
»Hallo. Können Sie mir bitte sagen, wo Germiston ist?«
»Das is im Nordwesten, Kumpel. Brauchsten Taxi?«, antwortete der Mann ungeduldig.
»Tut mir leid, wenn ich sie noch einmal behellige«, sagte der Junge höflich, »aber wie viel würde ein Taxi denn kosten?«
»Wo kommsten her?«, seufzte der Mann.
Beflissen nannte Shuggie dem Mann die Hausnummer, die Straße, den Ort und sogar die Postleitzahl.
»Also, das macht ungefähr acht Pfund, plus zwo fuffzig wegen Neujahr.«
»Okay. Ein Taxi bitte«, sagte Shuggie und legte auf.
Mit einem Buttermesser knackte er den Gaszähler, wie sie es von Jinty gelernt hatten. Konzentriert zählte er die Fünfzig-Pence-Stücke ab und reihte sie ordentlich auf dem Tisch vor dem Fernseher auf. Es waren nur zwanzig, und er wusste, ohne an den Fingern abzuzählen, dass es zehn Pfund glatt waren. Dann nahm der Junge ein langes flaches Messer aus der Küche und begann, die Rückseite des Fernsehzählers zu bearbeiten, wie er es Hunderte Male bei Agnes gesehen hatte.
Er wusste, wie er das Messer bewegen musste, damit die Münzen herausfielen, ohne den Zähler zu beschädigen. Wenn der Fernsehmann merkte, dass der Zähler kaputt war, kriegte man Riesenärger, aber offenbar hatten alle hier auf der Straße so viele Jahre Übung, dass noch nie jemand Riesenärger gekriegt hatte. Shuggie hatte Agnes zugesehen, und dann hatte er Leek zugesehen, wie sie den Fernsehzähler regelmäßig plünderten. Drei Stunden Fernsehen kosteten fünfzig Pence. War das Geld alle, stellte sich der Fernseher automatisch ab, und man saß im Dunkeln da. Da gab es nichts zu verhandeln, nicht bis zum Ende des Films, nicht mal bis zur Werbepause. Wenn das Geld alle war, wurde die Flimmerkiste schwarz.
Shuggie schob das Messer in den Schlitz, und zwei einsame Fünfzig-Pence-Münzen rollten heraus. Falls der Mann am Telefon recht hatte, würde es für die Fahrt nach Germiston reichen. Aber nicht für die Fahrt zurück.
Als er das Knattern des Hackneys hörte, trat Shuggie aus dem Haus. Auf der ganzen Straße brannte Licht in den Häusern, und glückliche Familien feierten zusammen das Neujahrsgeläut. Colleen stand allein am Fenster und sah ihren Kindern zu, die mit ihrer Ratsche auf der Straße herumrannten. Shuggie tat, was Agnes ihm beigebracht hatte, er winkte und lächelte, bevor er ins Taxi stieg.
Der Taxifahrer war ein dünner Mann mit hellem Haar. Er stutzte, als er das Kind sah, das wie ein Chicagoer Mobster angezogen war. »Bist du alles, Lütter?«, fragte er verblüfft.
»Ja.« Shuggie reichte dem Fahrer den Zettel mit der Adresse.
Der Fahrer senkte den Kopf und spähte zum Haus auf der Suche nach einem Erwachsenen, Mutter oder Vater im Wohnzimmerfenster, die ihm vielleicht ein Zeichen gaben. Shuggie nahm die Tüte mit den Münzen aus der Tasche und legte sie sich auf den Schoß. Das Kleingeld klimperte glänzend, und nachdem der Fahrer den kleinen Jungen und das Geld beäugt hatte, löste er mit einem Schnauben die Handbremse.
Das Taxi verließ die kleine staubige Siedlung, und bald waren sie im zweispurigen Verkehr der Schnellstraße und nahmen Tempo auf. Shuggie wusste, dass sie auf dem Weg in die Stadt waren. Er achtete auf die Route, prägte sich Orientierungshilfen ein für den langen Fußmarsch zurück. Erst passierten sie eine Oberschule, dann ein paar Rugbyfelder und schließlich das schwarze Loch eines stillen Teichs. Von da an flog unbekannte Landschaft vorbei.
Statt den direkten Weg zu nehmen, bog der Fahrer auf eine höhergelegene Straße ab, die von der Stadt wegzuführen schien. Sie sah aus wie eine Schotterpiste, als wäre der Stadt hier draußen die Puste ausgegangen. Die Straße war noch nicht erschlossen; auf der linken Seite standen halberrichtete Fertighäuser mit der Rückseite zum Verkehr und hohen dunkelbraunen Holzzäunen, die den noch nicht gesäten Rasen schützten. Rechts erstreckten sich Kilometer über Kilometer brachliegender Felder, dunkel und leer. Der Fahrer schien den Weg gut zu kennen, denn er drehte sich ständig um und lächelte den Jungen mit der weißen Krawatte an.
»Du siehst ziemlich schick aus. Gehste aufne Party?«, fragte er und lächelte in den Spiegel.
»Mehr oder weniger. Ich finde, es ist wichtig, dass man auf sein Äußeres achtet.«
Der Mann lachte. »Und wo is deine Ma, is die auch auf der Party?«
»Das hoffe ich«, murmelte Shuggie.
»Sehr erwachsen von dir, in deinem Alter allein zu reisen«, sagte er. »Ich hab auchen lütten Sohn, der is ungefähr in deim Alter. Wat biste, zwölf? Der sitzt gern hier vorne bei mir und spielt mit meim Funkgerät.«
Shuggie war erst elf, doch es schmeichelte ihm, dass er für älter gehalten wurde, und er widersprach nicht. Es fühlte sich komisch an, dass er im Rückspiegel entweder nur die Augen des Fahrers sah oder nur den Mund, aber nie beides zusammen.
»Willste auch ma bei mir vorne fahren?«, sagte der Mund des Mannes in den Spiegel. Er verzog sich zu einem breiten Lächeln.
Das Taxi blieb stehen, nicht an einer Kreuzung oder Ampel, sondern mitten auf der breiten leeren Straße. Shuggie sah zu den Baustellen auf der linken Seite und zu den flachen Feldern rechts. Wenn er seine Mutter sicher nach Hause holen wollte, hatte er keine Wahl, als zu tun, was der Mann sagte.
Der Mann forderte ihn auf auszusteigen. Dann ging die Tür vorne links auf; Hackneys hatten vorne links keinen Beifahrersitz, nur einen mit Teppich ausgelegten Gepäckraum. Shuggie stieg ein und stellte sich zwischen Abendzeitungen, eine alte Jacke und eine geöffnete Tüte mit Sandwiches. Er versuchte das Brot nicht anzustarren. Es hatte zwar eine dicke Kruste, aber er war so hungrig, dass es ihm egal war, er hätte die ganze Kruste mitgegessen.
»Na also, schon besser, wat?« Der Fahrer räumte seinen Kram zur Seite, um dem Jungen Platz zu machen. Er hielt das Sandwich in der Hand. »Willst du ein Stück?«, fragte er. »Et is bloß Butter und Dosenschinken.«
»Nein danke«, antwortete Shuggie höflich, doch seine Augen brannten sich in das Stück Brot.
»Hier, nimm schon.« Der Mann hielt es ihm hin. »Ich hör deinen Magen von hier drüben knurren.« Shuggie nahm das Sandwich. Das Brot war feucht von der Butter, und er versuchte es langsam zu essen, aber das Lager in seinem Magen brodelte immer noch sauer, und er schob sich gierig große Stücke in den Mund. Es war so dick und saftig belegt, dass es ihm am Gaumen klebte.
Selbst auf Knien reichte Shuggie dem sitzenden Taxifahrer nicht einmal bis zur Schulter. Als er ihn über das dicke Sandwich hinweg ansah, fand er, dass er ganz anders aussah als sein Vater. Sein Gesicht war freundlicher, und um seine Augenwinkel fächerten sich Lachfältchen auf. Er hatte eine silberne Kette mit einem Kruzifix um den Hals, und auf unerwartete Weise beruhigte es Shuggie.
»Dat da ist der CB-Funk«, sagte der Fahrer und zeigte auf ein Gerät, das aussah wie ein elektrischer Rasierapparat. Der Fahrer drückte auf eine Taste an einem Rädchen. »Wennde magst, kannste da reinplappern, so vielde willst. Der Kanal is nur für die Langstreckenfahrer und die einsamen Herzen, die ihnen folgen.« Der Mann lächelte ihn mit geraden Zähnen an, und Shuggie überlegte, dass es nett wäre, wenn Agnes ihn kennenlernen würde, den Mann, der ihm Sandwiches gab.
Mit einem Schnappen der Handbremse fuhr das Taxi los und Shuggie wurde gegen die Trennscheibe geworfen. »Hoppla, pass auf, Lütter, halt dich irgendwo fest!« Er legte dem Jungen den Arm um die Hüften und hielt ihn fest und aufrecht im Gepäckraum.
Sie fuhren weiter über die unbeleuchtete Straße. Shuggie versuchte das Sandwich nicht zu schnell zu essen. Der Schinken war dick und so salzig, dass sein Mund brannte. Unvermittelt sagte der Mann: »Passiert mehr, alse denkst. Dass Kinner allein gelassen wern.« Er sah Shuggie an und lächelte. »Seh ich ständig, Mammys und Daddys, die unbedingst innen Pub wollen, und die Lütten, wiese sich allein durchschlagen. Arme Würmer.« Shuggie aß das Sandwich zu Ende. Er versuchte sich nicht die Butter von den Fingern zu lecken.
»Wars gut?«
Shuggie nickte und antwortete höflich. »Ja. Vielen Dank.« Der Mann hatte den Arm immer noch um seine Hüften und hielt ihn fest.
Der Mann lachte freundlich. »Ooh, vielen Dank«, äffte er ihn nach. »Bisten höfliches Kerlchen, wat?«
Shuggie versuchte sich die Scham nicht anmerken zu lassen. Er starrte in den Rückspiegel und wünschte, Leek wäre da. Die leere Landstraße schien unendlich zu sein; er versuchte sich zu erinnern, woran sie vorbeigefahren waren. Im Kopf machte er eine Liste von Dingen, die er gesehen hatte, wie bei »Ich packe meinen Koffer«, aber nach zehn oder fünfzehn Bäumen und nur einer Ampel sah alles gleich aus, und er gab auf.
Allmählich rutschte der Arm des Fahrers tiefer. Mit langsamer Hand zog er Shuggie das Hemd aus der Tweedhose und schob ihm seine dicken warmen Finger hinten in die Unterhose. Ohne hinzusehen, wusste Shuggie, dass der Mann ihn immer noch anlächelte.
»Aye, du bisten komisches Kerlchen, wat?«, wiederholte der Fahrer niederträchtig. Mit Kraft drückte er die Finger tiefer in die Unterhose und begann, den Jungen abzutasten. Der Bund der Tweedhose schnitt Shuggie vorne in den Bauch. Er hatte das Gefühl, er würde in der Mitte durchgeteilt, und es tat so weh, dass er schon deswegen hätte schreien können. Doch Shuggie biss sich auf die Lippen.
Das Taxi wurde langsamer. Der Fahrer machte ein komisches Geräusch, als würde er heiße Suppe durch die Vorderzähne schlürfen. Scheinwerfer flogen ihnen entgegen. Inzwischen sah Shuggie den Mann schmerzverzerrt an; die dicken Finger drückten sich seltsam in ihn hinein. Die Vanillesoße bildete eine Haut auf dem sauren Lager, das Brot quoll auf und dehnte sich in seinem Magen aus, bis er das Gefühl hatte, er müsste sich übergeben. Die Finger drückten immer tiefer. Der Fahrer machte eine komische Grimasse. Shuggie wünschte, sie würden erleuchtete Häuser sehen.
»Mein Vater ist auch Taxifahrer, wissen Sie.«
Die Grimasse des Fahrers erstarrte.
Shuggie versuchte, seine Stimme beiläufig klingen zu lassen und die Finger zu ignorieren, die seine schmutzige Stelle besudelten. »Und der Freund meiner Mutter auch, er heißt Eugene.« Er holte flach Luft. »Vielleicht kennt er Sie?« Seine Stimme rutschte am Ende nach oben.
Langsam zog der Fahrer die Hand aus der Tweedhose. Shuggie rutschte an der Trennscheibe herunter und setzte sich schützend auf seine schmutzige Stelle. Er betastete im Dunkeln seinen Bauch und spürte die rosa Striemen, wo der Hosenbund eingeschnitten hatte. Es fühlte sich an, wie wenn man zu stramme Schulsocken auszog, nur schlimmer.
Stimmen knisterten im CB-Funk. Ein Mann mit Highlands-Akzent sagte, dass die Perth Road überflutet war. Der Fahrer wischte sich unauffällig die Hand an der Arbeitshose ab. »Hattet ihr schöne Weihnachten?«, fragte er beiläufig, als eine Weile vergangen war.
»Ja. Danke«, log Shuggie.
»War der Weihnachtsmann lieb?«
Weihnachten kam aus dem Freemans-Katalog und wurde langsam abgezahlt. »Ja.«
Endlich erreichte der schwarze Hackney die Lichter einer grauen, heruntergekommenen Siedlung, und der Fahrer fragte: »Junge. Wie heißt noch mal dein Daddy?«
Shuggie überlegte, ob er lügen sollte. »Hugh Bain.«
Offenbar war der Fahrer erleichtert, denn er sank entspannt in den Sitz zurück. Als er Shuggie in Germiston absetzte, hatten die Mitternachtsglocken längst geläutet. Der Junge hielt dem Fahrer die Tüte mit den gestohlenen Münzen hin. Der Mann sah sie sich aus der Nähe an, und dann, vielleicht aus Mitleid oder schlechtem Gewissen, sagte er, die Fahrt sei umsonst, weil Shuggie so ein lieber Junge war. Shuggie wünschte, der Mann hätte die Münzen genommen; er wollte nicht, dass er dachte, es hätte ihm gefallen, wie er ihm mit den Fingern wehgetan hatte.
Shuggie spürte seinen Blick im Rücken, als er auf der Stronsay Street die Steintreppe zur Haustür hinaufstieg. Erst als er sich umdrehte und ein tapferes Lächeln lächelte, fuhr der Fahrer weiter. Als das Taxi um die Ecke bog, steckte sich Shuggie das schwarze Hemd wieder in die Tweedhose. Er rieb sich den flauen Bauch. Alle Häuser sahen gleich aus; die Mietskasernen standen gedrängt an der schmalen Straße und bildeten eine Schlucht aus Backstein und Glas. Als er an der Fassade hinaufsah, bemerkte er Musik und helle Lichter im dritten Stock, also drückte er die metallene Klingel für 3R. Ohne zu fragen, wer da war, wurde der automatische Türöffner betätigt.
Der Eingang war schlecht erleuchtet. Von irgendwo oben hallten Musik und fröhliche Stimmen durchs Treppenhaus. Shuggie trat in den Flur. Jedes Glasgower Kind hätte sofort gesehen, dass es sich um eins der ärmeren Mietshäuser handelte. Die etwa einen Meter fünfzig hoch gekachelten Schmuckfliesen waren teilweise kaputt oder fehlten ganz. Darüber waren die Wände mit dicker amtsbrauner Farbe gestrichen, und auf halber Höhe wies ein beiger Streifen tiefer in das Treppenhaus. Jede Oberfläche war mit Graffiti bedeckt, Liebeserklärungen und Gang-Tags. An den Treueschwüren zur IRA sah Shuggie, dass Germiston auf jeden Fall katholisch war.
Als er die Treppen hinaufging, hörte er die Party im dritten Stock immer deutlicher. Der Lärm klang fröhlich, als wäre die Stimmung noch nicht gekippt. Der Junge stieg langsam die steilen Stufen hoch, eine nach der anderen. Sie waren aus kaltem Granit, in der Mitte leicht ausgetreten, und es gab kein rundlaufendes Geländer, sondern nur eine massive Gussbetonmauer, um die die Treppe herumgebaut war. Beim Hochgehen konnte Shuggie nicht sehen, was sich hinter dem nächsten Absatz befand.
Leise schlich er voran. Als er um die nächste Ecke bog, sah er eine Frau und einen Mann auf den kalten Stufen. Sie lagen zerwühlt da, wie zwei Haufen schmutzige Wäsche. Sie taten Sachen miteinander, die der Junge schon gesehen hatte. Die alte Frau schien kaum bei Sinnen zu sein, und der Mann hatte die Hand unter ihrem Rock und fummelte an ihrer schmutzigen Stelle.
Shuggie verschränkte die Arme und trat höflich zurück, weg von dem, was sich vor seiner Nase abspielte. Leise kehrte er um und war fast um die Ecke, als die Frau ein schielendes Auge öffnete und ihn bemerkte. Der Mann rubbelte weiter an ihr herum, als würde er einen Schuh polieren.
»Wat glotzte so?«, fragte die Frau mit gummiartigen Lippen.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte er leise. »Tut er Ihnen weh?«
Irgendwo über ihnen ging eine Tür auf, und Partylärm schwappte ins Treppenhaus. Leute brachen auf.
»Hömma kurz auf, John.« Die Frau schob seine Hände weg. Dann zog sie sich das Oberteil zurecht und versuchte, etwas Würde in die Situation zu bringen. Sie senkte den Blick auf die steinernen Stufen. Der betrunkene Mann lutschte weiter an ihrem Hals.
Shuggie nahm ein Fünfzig-Pence-Stück heraus und legte es der Frau auf das nackte Knie. Dann lief er hastig an ihnen vorbei und rannte die Treppe hinauf zu den Geräuschen. Auf der Treppe kamen ihm Männer und Frauen in Wintermänteln entgegen. Er musste schnell und geschickt sein, um sich an den schwerfälligen Beinen und langen Mänteln vorbeizuwinden. Als er den dritten Stock erreichte, stand die Tür noch weit offen, und er ging hinein. Niemand hielt ihn auf, als er sich durch die Beine in den engen Flur drängelte. Niemand achtete auf ihn, als er das Wohnzimmer betrat.
Es war wie eine kleinere Version ihres Wohnzimmers zu Hause. Die Wände waren mit weinroter Brokattapete bedeckt, und auf einer Seite brannte ein kleiner Elektrokamin mit künstlicher Plastikkohle, die einen orangen Schein in das verschwitzte Zimmer warf. In der Mitte war eine Sofagarnitur, die noch mit Plastik überzogen war. Dazwischen standen ein paar geborgte Küchenstühle, auf denen Männer und Frauen um die vierzig oder fünfzig saßen, Gesichter, die Shuggie noch nie gesehen hatte. Die Männer trugen schwere graue Anzüge und breite Krawatten, die Frauen hatten hübsche Blusen an. Sie saßen steif da, als kämen sie gerade aus der Kirche, aber ihre Augen waren glasig, als hätten sie beim Abendmahl zu viel Rotwein getrunken.
Aus dem Plattenspieler in der Ecke kam eine besonders traurige Version von »Danny Boy«. Ein paar alte Glasweger saßen mit ihren warmen Bierdosen davor und grölten mit, während eine ältere Frau daneben mit den Tränen kämpfte. Der ganze Raum hatte den Zenit des Abends überschritten. Shuggie ging herum und suchte in jedem Gesicht nach seiner Mutter. Doch Agnes war nicht da.
In der Ecke am Fenster saß ein Junge an einem kleinen Klapptisch, ungefähr in Shuggies Alter. Er hatte Shuggie die ganze Zeit bei seiner Suche beobachtet. Der Junge hatte seine guten Sachen an, und sein Scheitel war immer noch so ordentlich, wie seine Mutter ihn gezogen haben musste. Als die beiden Jungen sich ansahen, fragte sich Shuggie, ober der andere sich verirrt hatte oder ebenfalls auf der Suche war. Der Junge hob die Hand und winkte ihm schüchtern zu, und Shuggie wollte zu ihm gehen und ihn ansprechen. Auf halbem Weg sah er, dass auf dem kleinen Tisch des Jungen ein Teller mit einem Berg von Shortbread stand und Limonade, die immer noch bitzelte. Offenbar war jemand hier, der den Jungen liebhatte. Shuggie drehte sich um und setzte seine Suche nach Agnes fort.
Draußen im Flur schob er sich wieder durch das Gedränge der Beine. In der schmalen Küche stand eine Frau mit pechschwarzem Haar. Shuggies Herz schlug höher, bis er enttäuscht feststellte, dass sie nicht seine Mutter war. Er wollte nach Agnes fragen, aber nach der Begegnung mit dem Shortbread-Jungen schämte er sich. Er war zu stolz, um den Mund aufzumachen, und die schwarzhaarige Frau rauschte an ihm vorbei, als wäre er unsichtbar. In der Wohnung gab es drei Schlafzimmer. Sie waren alle leer, bis auf vereinzelte verirrte Partygäste, die sich zum Rauchen oder zum Weinen zurückgezogen hatten. Shuggie sah nach, aber keine der Betrunkenen war seine Mutter. Das letzte Zimmer war das größte, das Elternschlafzimmer. Die Tür war geschlossen und klemmte, und er musste kräftig drücken, um sie aufzubekommen. Es brannte kein Licht, aber im Schein, der vom Flur hineinfiel, sah er, dass sich auf dem breiten Ehebett die Mäntel türmten.
Shuggie stand da und legte die Hand auf die Tüte mit den Münzen in seiner Hosentasche. Es reichte gerade, um ihn nach Hause zu bringen. Vielleicht fand er sie dort, panisch, nüchtern vor Angst um ihn, und sie erwartete ihn mit heißem Tee und Toast.
Als er im Rauch und der Dunkelheit dastand, kamen ihm die Tränen, und er sank einen Moment auf das Bett mit den Mänteln. Er wusste, dass er sich wie ein Baby benahm. Den ganzen Abend hatte er sich wie ein großes Baby benommen, das Heimweh nach seiner Mammy hatte, und er wünschte, er wäre mehr wie Leek, der nie jemanden zu brauchen schien. Shuggie bohrte die Fingernägel der linken Hand tief in die weiche Haut seines rechten Arms und versuchte, das Selbstmitleid zu vertreiben.
Plötzlich bewegte sich etwas unter den Mänteln. Erschrocken sprang Shuggie auf. Eine kleine weiße Hand tauchte unter den alten Jacken auf. Die Hand hielt einen Moment inne, bevor sie einen Mantel zur Seite schob, und darunter lag mit nassem Gesicht und verschmierter Wimperntusche seine Mutter.
Agnes’ Frisur war plattgedrückt und auf einer Seite verfilzt. Im Dämmerlicht sah der Junge an ihren kleinen Augen, dass sie nicht mehr betrunken war. Als sie ihn sah, begann ihre Lippe zu zittern, als würde sie jeden Moment weinen. Erschrocken schluckte Shuggie seine eigenen Tränen herunter und richtete sich auf wie ein großer Junge. Er warf Mantel für Mantel zu Boden und grub sie aus. Allmählich kam sie unter dem Kleiderberg zum Vorschein, halbnackt und zerknittert. Im Halbdunkel sah sie ihm in die Augen und sagte kein Wort. Nach und nach trug er die Schichten ab. Unter den schweren Mänteln tauchten ihre Beine und ihre kleinen Füße auf. Shuggie hielt inne und betrachtete seine Mutter auf dem zerwühlten Bett, und im Licht des Flurs sah er, dass ihre schwarzen Pretty Pollys von der Spitze bis zur Taille zerrissen waren.