Der Junge schlug die Augen auf, und sie saß schweigend am Fuß seines Betts. Sie war der schreckliche Halbmensch, der morgens jetzt immer kam. Eine Weile sah er ihr beim Zittern zu, sah die feuchte Kälte, die der Alkohol in ihrem Körper zurückgelassen hatte. Sie hielt sich ein Stück Klopapier vor den Mund, als sie nassen Auswurf hustete und versuchte, den Mageninhalt unten zu behalten.
Agnes legte den Kopf schief und sah ihn mit flehenden, schlaflosen Augen an. »Guten Morgen, Sonnenschein.«
»M-morgen.« Shuggie streckte die Zehen zum Ende des Betts.
Ihre Hand zitterte, als sie ihm sanft die Decke wegzog. Feuchte Märzluft strömte herein, und Shuggie rollte sich winselnd zusammen. Agnes legte die kalte Hand auf seinen frierenden Fuß. Er war schon wieder in die Höhe geschossen: die alte Schlafanzughose reichte ihm kaum noch an die Waden, und die Haare an seinen Beinen wurden dichter und dunkler. »Noch ein Jahr, dann bist du ein Mann, und was soll ich dann machen?«
»Glaubst du, ich werde größer als Leek?«, fragte er. Das Bett seines Bruders war schon leer.
»Bestimmt.« Sie strich ihm das schwarze Haar aus den Augen und versuchte fröhlich zu klingen. »Wie wär’s, wenn du heute die Schule schwänzt? Mir Gesellschaft leistest?«
Shuggie riss die Augen auf. »Ich weiß nicht. Father Barry sagt, ich hätte schon zu viel gefehlt.«
»Och, was weiß der schon. Letzte Woche warst du fast jeden Tag da. Ich schreibe dir eine Entschuldigung, dass deine Großmutter gestorben ist.«
Shuggie stöhnte und streckte die Zehen in die Kälte. »Er ist ja nicht blöd. Das hast du schon dreimal geschrieben.«
Er wusste, was sie wollte. Sobald die Uhr Viertel nach neun zeigte, würde sie ihn mit dem Dienstagsbuch auf die kalte Straße schicken. Er würde seine dünne Regenjacke und seine gute Hose tragen, und über dem Arm eine große karierte Einkaufstasche. Aber die Einkaufstasche war nur Tarnung; er würde keine Lebensmittel hineinlegen, sie war nur dazu da, seinen Auftritt seriöser aussehen zu lassen. Wie ein geiziger Buchhalter blätterte Shuggie das Dienstagsbuch mit den Kindergeldcoupons durch und betrachtete die stattliche Summe von acht Pfund und fünfzig, die auf den datierten und abgestempelten Coupons auftauchte. Er fand den Abschnitt, den sie für diese Woche unterschrieben hatte, prüfte, ob sie ihn in ihrem verzweifelten Durst korrekt ausgefüllt hatte, und ließ das Büchlein in die Alibi-Tasche fallen.
Er wusste, dass sie hinter den Gardinen stand und ihn beobachtete, also ging er zügig und zielgerichtet los. Erst als er um die Ecke bog, wurde er langsamer und blieb eine Weile stehen, um Winterbeeren zu zerquetschen.
Shuggie hatte schon alles versucht, er war wie der Wind zur Post und wieder zurückgerannt oder er hatte sich stundenlang im Torfmoor verdrückt. Einmal hatte er sogar den Gutschein eingelöst und das Kindergeld für das ausgegeben, wofür es eigentlich bestimmt war, Lebensmittel, Vorräte und Fleisch vom Metzger. Doch es endete immer gleich; sie brachte die Lebensmittel, die sie umtauschen konnte, zurück, und kaufte, was wirklich am dringendsten war, Alkohol. Seitdem nahm er das Geld einfach entgegen, senkte den Kopf und ging resigniert nach Hause.
Seit Silvester war sie nicht mehr dieselbe. Wer immer sie halbnackt unter dem Haufen fremder Mäntel liegen lassen hatte, hatte ihr die Lust auf gute Partys genommen. Wenn Shuggie sie jetzt trinken sah, wusste er, dass sie es nicht tat, um sich zu amüsieren. Sie trank, um sich zu vergessen, weil sie keinen anderen Weg kannte, um den Schmerz und die Einsamkeit loszuwerden.
Bei der Tankstelle war sie gefeuert worden. Sie hatte zu viele Schichten ohne Vertretung gefehlt, und die Tankstelle hatte zu oft im Dunkeln dagestanden. Am Anfang hatte Agnes die Kündigung persönlich genommen, als wäre ihr die Stelle, wie so vieles, einfach nicht vergönnt. Doch als sich die Katalogrechnungen zu stapeln begannen und ab Donnerstag kein Geld für Alkohol mehr da war, fing sie an, Verschwörungstheorien aufzustellen. Sie sei zu beliebt gewesen, sagte sie, zu schön, und den Besitzern der Tankstelle habe es nicht gefallen, dass der Ort sich in einen Treffpunkt einsamer Taxifahrer verwandelt hatte. Leek hatte einfach nur dagesessen und zugehört, sich schweigend den heißen Porridge in den Mund gelöffelt und am Ende ganz ruhig gefragt: »Wie lange willst du dich noch selbst anlügen?«
Das Anstehen dauerte ewig. Es war still bis auf den rasselnden Husten überall, das Zischeln der Nylonanoraks und das Bäng, bäng, bäng der hektisch stempelnden Frau am Schalter. An den nervösen Bewegungen der Leute sah Shuggie, dass sie ein langes Wochenende darauf gewartet hatten, ihre Sozialhilfebücher einzulösen. Manche hatten Hunger, manchen waren am Sonntag die Zigaretten ausgegangen, und wieder andere, wie seine Mutter, verdursteten. Als Shuggie an den Schalter kam, schob er das Büchlein durch die kleine Schublade auf Augenhöhe. Mit einem schleifenden Geräusch wurde die Schublade eingezogen. Mit einem schleifenden Geräusch kam sie wieder zurück.
»Du hast nicht unterschrieben«, sagte die Postbeamtin.
Shuggie griff nach dem angeketteten Kugelschreiber und schrieb seinen Namen in das Kästchen, wie sie es ihn üben lassen hatte. Dann ließ er das Buch wieder in die Schublade fallen und lächelte die Dame an. Die Frau nahm das Büchlein entgegen und sah es sich von beiden Seiten genau an. Sie trug eine Brille mit rosa Gestell und sah auf ihn herunter wie eine Lehrerin auf einem hohen Stuhl. »Kann Missus Bain ihr Kindergeld nicht persönlich abholen?«, fragte sie einen Halbton zu laut.
Shuggie spürte, wie die Schlange hinter ihm ungeduldig von einem auf den anderen Fuß trat. »Nein.«
Die Frau lehnte sich zurück, als dehnte sie ihren müden Rücken. »Junger Mann. Müsstest du nicht in der Schule sein?« Er hörte, wie die Schlange hinter ihm sich zustimmend räusperte.
»Meiner Mutter geht es nicht gut«, flüsterte er diskret in die Schublade.
Die Frau beugte sich zur Scheibe, und ihr großes Gesicht schwebte über ihm. »Ja, aber mir ist aufgefallen, dass ich dich jeden einzelnen Montag- und Dienstagmorgen hier sehe.« Sie schniefte, hielt das Büchlein hoch und zeigte mit dem Finger unter Agnes’ Unterschrift. »Hier steht«, sie schniefte wieder, »dass man nur vorübergehend einen Bevollmächtigten schicken darf, und wenn der Bezugsberechtigte seine Sozialhilfe auf Dauer nicht selbst abholen kann, muss das Buch an den DSS zurückgegeben werden.«
Shuggie spürte, dass er sich in die Hose zu machen drohte. Er brachte nur ein leises »Bitte, Missus« heraus.
»Soll ich dir das Buch abnehmen, junger Mann?« Sie schob sich mit einem tinteverschmierten Finger die Brille zurecht. »Soll ich es an den DSS zurückschicken?«
Der Junge schüttelte den Kopf und spürte, wie der Drang stärker wurde. »Nein. Bitte, Missus«, flehte er.
Die Frau schien ihn nicht zu hören, oder es war ihr egal. Sie klappte das Buch zu und legte es geschlossen auf die Theke. Mit ernster Miete faltete sie die Hände darüber, als würde sie beten. Shuggie begann hinter den Augen zu schwitzen. Er hörte, wie die hungrige Menge hinter ihm stöhnte. Das Kindergeld war mehr als ein Viertel des Geldes, das Agnes für die ganze Woche zum Einkaufen hatte.
Mit zitternder Lippe versuchte es Shuggie noch einmal. »Bitte, Missus.«
Die ungeduldige Menge hinter ihm schnalzte mit der Zunge und seufzte. »Der Mammy von dem Jungen gehts nicht gut!«, sagte eine hohe Stimme von ganzen hinten. Die Postbeamtin sah von dem aschfahlen Gesicht auf die lange Schlange. »Jetz gemse ihm schon sein Geld, sonst hatter nix zu essen!«, sagte die Stimme wieder.
Eine alte Frau stimmte zu. Sie hatte die Warterei satt und wedelte mit ihrem Pensionsbuch. »Liebe Zeit. Jetzt gemse dem Jungen schon sein Geld, Sie herzlose Paragrafenreiterin.«
Die Frau am Schalter sah die Schlange an und dann wieder den verängstigten Jungen. Widerwillig öffnete sie das Buch. Bäng! Bäng! Sie stempelte es ab und riss den wöchentlichen Coupon heraus. Dann legte sie das Dienstagsbuch, einen Fünfer, drei Pfundnoten und ein neues Fünfzig-Pence-Stück in die Schublade. Sie hielt die Schublade fest und kam mit dem Gesicht ganz nah an die kleinen Löcher in der Scheibe. Leise sagte sie: »Du bist ein schlauer Junge. Sieh zu, dass ich dich nächste Woche nicht wieder hier erwische. Geh zur Schule. Lerne. Halt durch und vergeude dein Leben nicht in der Schlange für die Stütze.« Er sah das Mitleid in ihren Augen, und damit schob sie ihm die Schublade hin. Der Junge nickte gehorsam, leckte sich den Rotz von der Lippe und nahm das Geld heraus. Nächste Woche war ihm egal. Er musste sich erst mal um den Rest dieser Woche kümmern.
Shuggie lief, so schnell er konnte, nach Pithead zurück. Jenseits der Schule kletterte er über die kaputten Zäune und rannte über den Feldweg auf das Marschland hinaus. Als er weit genug draußen war, zog er sich die Hose und die Unterhose aus, hockte sich hin und beendete, was die Postbeamtin angefangen hatte. Dann drehte er die weiße Unterhose auf links und versuchte, sie am trockenen Schilfgras sauber zu kratzen.
Als er nach Hause kam, war es noch nicht halb elf, und auf der Straße gingen gerade die Vorhänge auf. Er öffnete die Haustür und lief ihr direkt in die Arme. Sie stand in ihrem guten Mohairmantel im Flur, hatte sich die Augen mit Kajal umrandet und violetten Lidschatten aufgetragen. Ihr Haar war aufgedreht und geföhnt, und das noch feuchte Haarspray glitzerte an den Spitzen wie Tau. Sie hatte die gute Handtasche unter dem linken Arm und hielt ihm die offene Hand hin wie eine geduldige Heilige. Ihre Haut war rot und gereizt.
»Wo zum Teufel warst du so lange?«, fragte sie, ohne mit einer Antwort zu rechnen.
Der Junge öffnete die Einkaufstasche und nahm die Scheine und die einzelne Münze heraus, die unter seiner schmutzigen Unterhose lagen. Agnes steckte sie in ihren Geldbeutel. »Gut, und jetzt komm mit die Straße hoch. Wenn wir jemand treffen, musst du mit mir reden.«
»Worüber?«
»Irgendwas. Scheißegal. Rede einfach und bleib bloß nicht stehen, verstanden?«
Agnes drehte ihn um und schob ihn wieder aus der Tür. Er spürte ihre Erleichterung, als sie unbehelligt die Ecke erreichten. Doch am Fuß des Hügels lehnte Colleen McAvennie an einem Gartenzaun und unterhielt sich mit einer von ihren und Eugenes Cousinen. Sie rauchten eine Zigarette, und Colleen hatte zwei schwarze Müllsäcke mit Wäsche oder Bettzeug oder den letzten von Big Jamesys Kleidern dabei. Als sie das Klappern der Absätze auf dem Asphalt hörten, sahen sie auf. Agnes machte eine unsichere Bewegung, als wollte sie die Straßenseite wechseln, aber dann hob sie den Kopf und hielt den Kurs. Sie marschierte mit festen rhythmischen Schritten weiter, drehte den Kopf und sagte zu dem Jungen: »Was hättest du heute Abend gern zu essen?«
Shuggie sah zu seiner Mutter auf und wiederholte, was sie ihm eingetrichtert hatte. »Hähnchen bitte. Ich habe es satt, jeden zweiten Tag Steak zu essen.«
Die Frauen hatten ihre Unterhaltung unterbrochen, und Agnes sagte mit einem leichten Lachen: »Du bist mir einer! Iss dein Steak und sei dankbar!« Dann drehte sie ihr königliches Profil und hielt die wunde Hand hinter den Rücken. »Oh, hallo Colleen, hallo Molly. Der hier schießt in die Höhe wie Unkraut.« Die Frauen schwiegen, als sie vorbeigingen, aber sie spürte ihren Blick auf ihrem Mantel, den Schuhen und dem Haar. In sicherem Abstand verzog Agnes das Gesicht und murmelte: »Aye, schönen Tag noch, ihr Arschgeigen.« Dann wechselte sie die Straßenseite.
Dolans Gemischtwarenladen war oben auf dem Hügel, der ganz Pithead überblickte, am Ende von drei mit Brettern zugenagelten Schaufenstern. Als die Zeche noch in Betrieb war, hatte es hier oben alles gegeben, was die Familien der Bergleute brauchten, frisches Gemüse, Fleisch und Unterhaltung. Jetzt brannte bei Mr Dolan nicht mal mehr Licht. Wäre der nächste Laden nicht fast vier Kilometer entfernt gewesen, hätte Mr Dolan vielleicht ganz zugemacht. Wie um die halbe Niederlage zuzugeben, blieben die metallenen Rollläden unten und das Licht blieb aus, und durch die mit Plakaten beklebte Glastür fiel nur Tageslicht herein.
Mr Dolan war ein sanfter, liebenswürdiger Mann, auch wenn sein Anblick Shuggie Angst machte. Als kleiner Junge, als die Mine noch offen war, war er beim Klettern von einer Eibe gefallen und hatte sich den rechten Arm so unglücklich zertrümmert, dass er amputiert werden musste. Wenn in Pithead heute Kinder auf Zäune kletterten, streckten die Mammys den Kopf zum Fenster raus und schrien: »Komm da runter, sonst gehts dir wie Mister Dolan, dem ahmen Kerl.«
Als die Ladenglocke läutete, schien Mr Dolan froh und traurig zugleich, Agnes zu sehen. Das Regal mit den Bierdosen und Whiskyflaschen hinter ihm zeugte davon, dass er die neue Wirtschaft der Siedlung sehr wohl verstand. Doch wenn die schöne Frau zu ihm an die Theke kam, seufzte der Einarmige über die Verschwendung.
Agnes versuchte, das Mitleid im Gesicht des Ladenbesitzers zu ignorieren, und fragte ihn, wie es ihm heute ging. Mr Dolan zuckte nur mit den Schultern und nickte in Richtung des Jungen. »Warum biste nich inner Schule?«
»Er hat Magen-Darm, Mister Dolan«, mischte sich Agnes ein. »Der Virus geht gerade herum.«
Der alte Mann saugte an seinen Zähnen, aber er hakte nicht nach. Agnes nahm eine kurze handgeschriebene Einkaufsliste heraus. Sie bestellte ein paar unschuldige Lebensmittel: eine Dose Vanillesoße, Dosenerbsen, etwas Hackfleisch und eine Handvoll Kartoffeln. Sie bat um ein wenig geschnittenen Schinken und sah nervös zu, wie Mr Dolan das Fleisch geschickt mit dem Armstumpf in die Schneidemaschine legte. Sein rosa Stumpf sah genauso aus wie das runde Ende des Schinkens.
»Wie viel macht das?«, fragte sie, als er die Schinkenscheiben in die Einkaufstasche schob.
»Fünf Pfund und zwei Pence«, sagte Mr Dolan.
Agnes kramte in ihrem Geldbeutel herum. »K-könnte ich noch die Zeitung von heute haben, bitte?«
»Fünf Pfund siebenundzwanzig.«
»Und einen kleinen Cadbury-Riegel für den Jungen.«
»Fünf Pfund fünfzig.«
»Mal sehen«, sagte Agnes in einem künstlich vergesslichen Ton, »ach ja. Fast hätte ich es vergessen.« Shuggie starrte beschämt auf seine Füße. »Bitte noch zwölf Dosen Special Brew.«
Als der Mann sich umdrehte, um das Bier aus dem Regal zu nehmen, leckte sich Agnes den Lippenstift von der Unterlippe.
»Dreizehn Pfund glatt«, sagte der Mann.
Agnes öffnete ihren Geldbeutel und sah auf die Scheine und die einzelne silberne Münze. »Oje, Mr Dolan, ich fürchte, ich bin heute ein bisschen knapp.«
Der einarmige Mann griff unter die Theke und nahm ein dickes rotes Heft heraus. Er blätterte zu B und fand Agnes’ Namen. »Liebes, Sie schulden mir schon vierundzwanzig Pfund«, sagte er ernst. »Ich kann Ihnen nich mehr auf Pump geben, bisse Ihrn Zettel gezahlt ham.«
Mit einem gequälten Lächeln sah Agnes in die Einkaufstasche und legte den Schinken, die Dosenerbsen und zwei Kartoffeln zurück auf die Theke.
Was Mister Dolan dachte, behielt er für sich. Auch wenn der Junge sich vor dem leeren Ärmel fürchtete, er wusste, dass der Ladenbesitzer ein weiches Herz hatte. Wegen seiner hohen Preise nannten die Siedlungsmütter ihn zwar »den einarmigen Banditen«, aber Shuggie hatte ihn immer nur liebenswürdig erlebt. Wenn Agnes am Dienstagvormittag schlotternd vor ihm stand, tat sie so, als stünde sie in einem Delikatessenladen im West End. Doch Mister Nolan hatte sie mit ihrer kleinen Scharade nie auflaufen lassen. Manchmal, wenn sie die Lebensmittel wieder aus der Tasche holte, zwinkerte er dem gestriegelten Jungen mit dem gewaschenen, gescheitelten Haar zu und gab ihm ein Stück reifes Obst. Aber heute nicht. Heute nahm er fast alle Lebensmittel wieder zurück und tippte das Bier in die Kasse ein.
Agnes stöckelte mit der Einkaufstasche zurück durch die Siedlung. Jetzt war sie schneller, und Shuggie musste sich beeilen, um mitzuhalten, als sie den Hügel hinuntersegelte. Zu Hause angekommen, lief sie, ohne den Mantel auszuziehen, in die Küche. Shuggie setzte sich ins Wohnzimmer und wartete, bis sie sich gesammelt hatte. Er lauschte auf das Zischen und Gurgeln der ersten Dose und auf das Geräusch, wenn sie die anderen versteckte. Er lauschte, bis er den Wasserhahn in die große Metallspüle laufen hörte.
»Geht’s dir besser?«, fragte er von der Tür.
Sie drehte sich von der Teetasse weg. Die Nervosität war aus ihrem Gesicht verschwunden, aber die Sorge war noch da. »Viel besser, danke. Du warst ein guter kleiner Helfer heute.«
Er ging zu ihr und schlang ihr die Arme um die Hüften. »Ich würde alles für dich tun.«
Auf dem Weg über das Torfmoor blieb er immer wieder stehen, drehte sich um und winkte, bis das Haus verschwunden war und er sie nicht mehr am Fenster sah. Als er knirschend über die gefrorenen Bäche stapfte, beruhigte er sich mit dem Gedanken, dass er genau wusste, wie ihr Tag aussah. Es tröstete ihn, dass sie, nüchtern oder nicht, immer der gleichen Routine folgte. Shuggie schüttelte die brüchigen Köpfe des Rohrkolbens und fragte sich, ob die Traurigkeit sie heute übermannen würde. Das gefrorene Rohr war staubtrocken, und als er gegen die Köpfe schlug, stiegen die Samen auf wie kleine Fallschirmspringer. Dann schwebten sie wie eine Parade kleiner Geister zur Siedlung zurück. Aus Spiel flüsterte Shuggie den Geistern zu, dass er Agnes liebte, und scheuchte sie mit den Armen davon.
Der ausgetretene Graskreis, wo er geübt hatte, wie ein normaler Junge zu gehen, war noch genau so, wie er ihn zurückgelassen hatte. Wenn sie ihn von der Schule zu Hause behielt, verbrachte er die Tage damit, verlassenes Gerümpel zu sammeln und zu seiner flachgetretenen Insel zu schleppen. Während eines besonders schlimmen Saufgelages hatte er in einer ganzen geschwänzten Woche einen alten Sessel herübergebracht und ein paar Teppichstücke aus den Mülltonnen und einzelne Besteck- und Geschirrteile aufgetrieben. Mit Enden alter Seile barg er Gerümpel aus den rostroten Bächen. Einmal holte er einen kaputten Fernseher heraus und stellte ihn in die Mitte seiner Insel. Obwohl er keine Scheibe mehr hatte, verbreitete er ein heimeliges Gefühl. Als Shuggie alle Möbel zusammenhatte, die er brauchte, verbrachte er jeden trockenen Tag damit, alles hin- und herzuräumen und sich ein schäbiges Wohnzimmer einzurichten. Er fand einen altmodischen Kinderwagen und schob ihn herum, kämpfte sich durch das hohe Schilfgras und pflückte die schönsten Blumen für sein neues Heim. Eines Winternachmittags fand er einen kleinen schwarzen Hasen, tot und gefroren, den er im Bach wusch und feierlich beerdigte. Dann begrub er neben dem Hasen die Plastikponys, die schändlichen duftenden Pferde, die er gestohlen hatte und die nicht für Jungs bestimmt waren. Im folgenden Frühjahr suchte er die Schlackehalden ab und legte lila Sumpfwurzzweige auf die Gräber. Ohne richtige Freunde hielten ihn diese kleinen Rituale beschäftigt, und sie erlaubten ihm, den Tag als stolzer Hausherr zu verbringen und die schmählichen Grabhügel so pflichtbewusst zu pflegen wie eine trauernde Witwe.
Den ganzen Rest des Tages lief er auf seiner Trampelinsel herum und wusch den Dreck von Dingen. Er ging mit der Gabel, dem Löffel und den gesprungenen Tellern zum Bach und spülte sie. Er lüftete die Teppichstücke und versuchte, den Staub auszuschütteln. Dann hängte er die regennasse Decke zum Trocknen über einen Stuhl in die tiefstehende Sonne.
Die Sonne verließ bereits den Himmel nach einem kurzen Tag der Hausarbeit. Als Shuggie über den Zaun kletterte, hoffte er auf ein warmes Bad, um sein rotes Büchlein auswendig zu lernen, doch er fand die Haustür weit offen. Wie versteinert blieb Shuggie lange auf der untersten Stufe stehen und fragte sich, was das Omen bedeutete, während er wie ein Wachhund den Kopf neigte und die Ohren spitzte. Als er durch den langen Flur schlich, hörte er Geräusche aus dem Wohnzimmer. Vorsichtig schob er die Tür einen Spalt auf. Im Zimmer lag Agnes auf dem Boden. Auf ihrer Brust saß Leek wie ein Schulhofrowdy.
Die dunkelroten Kringel auf dem roten Teppich waren falsch. Das Muster sah kaputt und unzusammenhängend aus. Als Shuggie näher kam, sah er das Blut auf seiner Mutter, und da war auch Blut in Leeks Gesicht. Hätte er sich konzentrieren können, hätte er auch das Blut auf dem Fernseher, dem braunen Teppich und den Sofafransen bemerkt.
Leek drückte sie zu Boden. Neben ihm lagen blutige Stoffklumpen, die saubere Küchenhandtücher gewesen waren. Agnes wand sich unter Leek und fluchte. Sie beschimpfte ihn mit Wörtern, die Shuggie noch nie gehört hatte, und sein Bruder weinte seltsame Tränen und hielt sie mit Mühe fest.
Auf dem Teppich lag eine kaputte Rasierklinge; Shuggie fand, dass sie klein und dünn und unschuldig aussah, wie die Mini-Guillotine einer Zeichentrickmaus. Er sah sie überhaupt nur, weil es komisch war, dass sie im Wohnzimmer herumlag, auf dem guten Teppich seiner Mutter. Leek schrie ihn an, aber Shuggie verstand nicht, was er sagte. Er wollte wissen, warum an ihrer Tasse Blut war. Er sah, wie sein Bruder sich ihm zuwandte, während er schwarz werdende Küchenhandtücher auf Agnes’ Handgelenke presste. Dann klemmte er einen ihrer Arme unter sein Knie, streckte die Hand aus und packte Shuggie am Kragen. Als Agnes den anderen Arm losriss, spritzte Blut heraus. Shuggie wollte zu Leek sagen: Schau! Schau! Da kommt das ganze Blut her! Aber Leek hielt ihn am Kragen und schüttelte ihn so fest, dass er dachte, er brach ihm das Genick.
»Shuggie. Hör zu.« Leeks Augen waren riesig, und in seinen Mundwinkeln klebte Schaum. Sein Gesicht war von einer dicken weißen Schicht Gipsstaub bedeckt, und am Weiß seiner Zähne war Blut. »Du musst den Scheißkrankenwagen rufen.«
»Du beschissener Egoist«, jaulte sie. »Lass mich doch gehen.«
Ihr Körper wurde von tiefen Schluchzern gebeutelt. Leeks Tränen fielen in ihr Gesicht und mischten sich mit ihren.
»Ich bin zu müde.« Trotzdem drehte und wand sie sich, und dann rollten ihre Augen weg, als versuchten sie, Ruhe im Schlaf zu finden.
»Du liebst mich nicht.«
»Du liebst mich nicht«, wiederholte sie immer wieder.
Shuggie zog leise die Tür hinter sich zu. Er setzte sich und sammelte sich, bevor er 999 wählte und einen Krankenwagen rief. Leek schrie ihn an, aber er verstand nicht, was er sagte. Er verstand überhaupt nichts mehr.
Als Agnes in der psychiatrischen Klinik aufwachte, hatte sie keine Erinnerung, wie sie dort gelandet war. Der Krankenwagen hatte sie die vielen Kilometer in die Royal Infirmary im Schatten von Sighthill gebracht. Dort hatte ein Notarzt geschickt ihre Wunden genäht und die Blutung gestoppt. Sie hatten sie an den Tropf gehängt und ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, damit sie sich nicht wieder selbst verletzte. Als sie in unruhigen Schlaf sank, hatten sie sie nach Gartnavel verlegt, wo die Heilung ihrer Seele beginnen sollte. Als Agnes aufwachte, lag sie auf einer Station mit dreizehn anderen Frauen: Erwachsene Frauen, die sabberten. Arme Frauen, die Puppen anschrien, sie sollten sich für die Schule anziehen. Ruhiggestellte Frauen, die kein Auge zumachten.
Während Agnes, winzig und zugenäht, ihre Betäubung ausschlief, zogen Leek und Eugene vor den anderen Unglücklichen den Vorhang zu und hielten an beiden Seiten des Betts Wache. Es war die längste Zeit, die sie je miteinander verbracht hatten. Beide Männer waren auf ihre Art froh, dass der schlafende Körper zwischen ihnen lag und ihre Aufmerksamkeit verlangte. Es war wie bei alten Leuten, die froh waren, wenn ein Kind zu Besuch war, weil sie einander nichts zu sagen hatten.
Seit Eugene Agnes vom Pfad der Nüchternheit gelockt hatte, hatte Leek kein Wort mit ihm gesprochen. Jetzt verbrachten sie den großen Teil des ersten Nachmittags miteinander, argwöhnisch, ohne Augenkontakt, und redeten über Agnes, als hätte der andere sie nie kennengelernt. Sie waren sich nur in einer Sache einig. Sie sahen hinunter auf die ausgewrungene Frau und waren sich einig, dass Agnes Glück hatte, noch am Leben zu sein. Der Länge und Tiefe der Schnitte an ihren Handgelenken nach zu urteilen, hatte sie nichts dem Zufall überlassen wollen.
»Es war also dein Chef?«, fragte Eugene, der es nicht schaffte, Leek in die klaren Augen zu sehen.
»M-hm.«
»Dat war Glück.«
»Wahrscheinlich. Ich weiß nicht, wie oft sie an dem Tag angerufen hat. In letzter Zeit hat sie ständig bei der Arbeit angerufen.«
»Aye. Beim Taxifunk auch.«
Leek ließ die Schultern hängen, als lastete die Erinnerung schwer auf ihm. »Es war dreist, aber der Chef ist meistens ganz gut damit umgegangen. Nur diesmal kam er zu mir und hat gesagt, ich soll zusehen, dass ich nach Hause komme, es wäre irgendwas Schlimmes passiert.«
»Dat hatter gesagt?«
Leek nickte. »Er hat mir meine Jacke gebracht, und erst dachte ich, ich wäre gefeuert. Aber er hat gesagt, ich soll mich beeilen. Er hat mir sogar das Geld fürs Taxi gegeben.« Leek strich sich das Haar aus den Augen. »Da wusste ich, dass irgendwas Schlimmes sein musste.«
Als Agnes endlich aufwachte, brauchte sie eine Weile, bis sie begriff, was sie getan hatte. Zuerst lächelte sie die Männer an, als hätten sie ihr Tee ans Bett gebracht. Doch dann zogen die Wolken der Erinnerung auf, und ihr Blick wanderte zu den Verbänden an ihren Handgelenken. Diesmal war sie näher dran gewesen als je zuvor. Leeks Baustelle war an der South Side. Sie hatte nicht gewollt, dass er es rechtzeitig schaffte. Sie hatte nicht gewusst, dass sein Chef ein gutes Herz hatte.
»Wo ist der Kleine?«, fragte sie mit rauer ausgetrockneter Stimme.
Leek sah sie an, und dann sah er zum ersten Mal Eugene an. »Ihm geht’s gut«, sagte Leek.
Agnes verdrehte die Augen, ohne den Kopf zu bewegen. »Ich habe gefragt wo. Nicht wie es ihm geht.«
Die Schwärze ihrer geweiteten Pupillen hefteten ihn an die Wand. Leek sah weg, versuchte sich abzulenken, indem er etwas gegen ihren Durst fand. Er schenkte ihr verdünnten Saft in ein phosphoreszierendes Glas, aber sie hob ablehnend die Hand. Er sah auf seine Schuhe. »Also. Er ist bei Big Shug«, sagte Leek schließlich und wünschte gleichzeitig, er hätte gelogen.
Agnes sagte nichts. Sie dachte, er log. Die Art, wie ihre Oberlippe nach oben wanderte und an den Zähnen hängen blieb, warnte Leek, sie nicht zu verarschen.
»Offenbar hast du, bevor du dir die Pulsadern aufgeschnitten hast, bei Shug angerufen und ihm gesagt, er soll Shuggie holen. Es ging alles so schnell. Ich konnte nicht dir helfen und Shuggie helfen.« Leek seufzte tief und blies sich den Pony aus dem Gesicht, der wie ein Vorhang vor einem offenen Fenster flatterte. »Es ist zu viel, Mammy. Ich kann nicht immer der sein, der alle rettet.«