Als Agnes im Gartnavel Hospital aufwachte, war ihr Junge schon seit fast einer Woche bei seinem Vater. Bevor sie sich die Arme aufgeschnitten hatte, hatte sie bei Shugs Taxizentrale angerufen und gesagt, er habe es endlich geschafft, sie gebe endgültig auf und er solle kommen und seinen Gewinn holen, den Jungen. Sie hatte gesagt, sie habe dem Jungen im Katalog einen neuen Anzug bestellt, und Shuggie möge bei ihrer Beerdigung schwarze Socken tragen, dafür müsse Shug sorgen.
Leek erfuhr nicht, wie die Nachricht Shug erreichte. Hatte die Telefonistin sie über den CB-Funk gesendet? Waren alle Hackney-Fahrer an den Straßenrand gefahren und hatten bei laufendem Motor zugehört, wie Joanie Micklewhite die letzten Wünsche der Frau weitergab, an deren Grab sie mitgeschaufelt hatte?
Shug hatte sich nicht beeilt. Als er endlich in Pithead ankam, war er beeindruckt gewesen, dass Agnes es wirklich durchgezogen hatte. Er fand den Jungen mit einer Dose Pfirsiche auf dem blutigen Sofa, wo er die weinende Shona Donnelly von oben tröstete.
Shuggie war noch nie im neuen Zuhause seines Vaters gewesen. Als das Taxi schwer durch die hallenden Straßen knatterte, zählte der Junge an den Fingern ab, wie viele Stunden er mit seinem Vater verbracht hatte, seit Joanie Micklewhite ihn ausgespannt hatte, und stellte fest, dass es weniger als drei gewesen waren. Er saß hinten im schwarzen Hackney wie ein fremder Passagier. Er erinnerte sich kaum, Joanie Micklewhite kennengelernt zu haben, obwohl er sich gut an die gelben Rollerboots erinnerte, doch beim Gedanken daran bekam er sofort ein schlechtes Gewissen. Joanie gehörte in seinem Kopf zu den Bösen; die reale Person und die Legende hatten sich vermischt. Agnes’ Hass auf Joanie war so tief in Shuggie angelegt wie die Maserung im Holz.
Also saß Shuggie trotzig schweigend da, als das Taxi um die Ecken einer brutal wirkenden Sozialsiedlung bog. Jede Straße war ein narbiges Feld ausgebrannter Schnapsläden, schmutziger Kanäle und auf Backsteinen aufgebockter Autos. Irgendwie erinnerte ihn die Gegend an Sighthill; fünf oder sechs Hochhäuser hielten den schweren Winterhimmel fest. Doch anders als in Sighthill waren die Hochhäuser hier nicht von weiten leeren Plätzen, sondern von flachen kleinen Betonhäusern umringt. Die Häuser sahen aus wie Ameisen, die sich um Bäume drängten, oder wie Schnipsel der Formsteine, die beim Bau der Hochhäuser übriggeblieben waren. Was einst gebaut worden war, um neu und gesund zu sein, wirkte jetzt krank und hoffnungslos. Es gab kein Gras, kein Grün; jede Fläche war zubetoniert oder mit großen glatten runden Steinen versiegelt.
Big Shug blieb an einer ramponierten Telefonzelle stehen. Shuggie sah vom Auto aus, dass er ein schwieriges Telefongespräch führte. Es sah schwierig aus, weil Shug, nachdem er aufgelegt hatte, noch lange dastand und seinen Schnurrbart zwirbelte.
Der Junge öffnete den Koffer, den Shug ihn packen lassen hatte. Er hatte alle Dinge hineingetan, die ihm am meisten bedeuteten, aber kaum saubere Kleider. Jetzt nahm er ein blasses Polaroidfoto heraus. Es zeigte Shug mit nacktem Oberkörper, der den neugeborenen Shuggie stolz in der ausgestreckten Hand hielt, und in der anderen eine Zigarette mit langem Aschestängel. Shuggie verglich das Foto mit dem Mann in der Telefonzelle.
An Regentagen nahm sich Shuggie das Hochzeitsalbum seiner Mutter und versteckte sich damit am Fuß ihres Bettes, um sich die Fotos seines Vaters anzusehen. Shug sah anders aus als der Mann auf den drei Polaroidfotos vom Hochzeitsempfang, an die Shuggie sich erinnerte. Er wirkte kleiner als der lächelnde Mann am Bankett, der die ausgebreiteten Arme um ein paar betrunkene Brautjungfern legte. Die Jahre, die er sitzend im Taxi verbracht hatte, hatten, was vorher schon durchschnittlich war, rund gemacht. Der kurze Cäsar-Haarschnitt von den Fotos war einem schütteren Überkämmer gewichen. Die ehemals funkelnden Augen saßen jetzt tief im rosa Fleisch. Shuggie konnte sich nicht vorstellen, dass heute noch irgendeine Frau mit diesem Mann freiwillig eng tanzen würde.
Shug hatte den Jungen kaum angesehen, bis er hinten im Taxi saß und sie auf der North Side waren. Als er nach dem Anruf wieder ins Taxi stieg, drehte er sich um und musterte den Matsch und den Dreck und das Blut an der Schuluniform des Jungen. Er fragte Shuggie, ob er saubere Sachen dabeihatte, die er anziehen konnte. Dem Jungen war es unangenehm, sich vor dem fremden Mann in dem fremden Taxi umzuziehen.
In seinem sauberen Schlafanzug trat Shuggie bei Joanie Micklewhite über die Schwelle. Ihr Haus war in der Mitte einer Reihe von Doppelhäusern, die im Halbkreis um das breiteste der grauen Hochhäuser standen. Sie hatte einen betonierten Vorgarten und einen asphaltierten Garten hinter dem Haus und zahlte deshalb mehr Miete an die Stadt. Als Shuggie durch die Tür kam, stellte er beeindruckt fest, dass es im Haus eine Treppe gab, die in ein zweites Stockwerk führte; das allein würde Agnes den Todesstoß versetzen.
Joanie Micklewhite stand am Ende des kurzen Flurs, die Finger geduldig vor dem dicken Bauch verschränkt. Sie sagte weder zu Shug noch zu dem Jungen hallo; sie nickte nur und ging zurück in die Küche. Es war späte Abendessenszeit, als sie ankamen, und Shug brachte den Jungen in den Raum, den er »Esszimmer« nannte; Shuggie nahm sich fest vor, seiner Mutter nie zu erzählen, dass es eine Treppe und ein Esszimmer gab.
Der Junge setzte sich in der Mitte des Klapptischs, während Joanie finstere Blicke von einem Ende verteilte und sein Vater wütende Blicke vom anderen. Sechs von Joanies Kindern saßen schon da. Sie wirkten schlechtgelaunt und hungrig, als hätten sie lange auf etwas warten müssen, das sie gar nicht wollten. Das jüngste von Shugs Stiefkindern war ein Junge, der vielleicht siebzehn war. Joanie hatte nur eine Tochter, Stephanie, der einzige Name, den Shuggie sich nach der Vorstellungsrunde seines Vaters merken konnte. Er merkte ihn sich einerseits, weil Stephanie der protestantischste Name war, den er je gehört hatte, aber auch, weil Catherine damals, als Shug abgehauen war, angekündigt hatte, Stephanie Mickle-Shite windelweich zu prügeln, um Agnes zu trösten. Jetzt, als Shuggie vor ihr saß, wusste er, dass Catherine verloren hätte. Stephanie hatte dicke, behaarte Unterarme. Von allen Geschwistern hielt sie mit ihrer Abneigung gegen den Neuankömmling am wenigsten hinter dem Berg.
Shuggie saß schweigend da, während die Micklewhite-Kinder seinem Vater von ihrem Alltag erzählten. Sie hatten eine Menge zu berichten. Sie arbeiteten in Firmen, hatten Autos, gingen noch zur Schule oder warteten auf Antwort von einer Universität. Einer studierte auf Lehramt, und Stephanie arbeitete in einem Büro, wo alle ein Ding hatten, das sich Computer nannte. Sie nannten Shug Dad, was den Jungen verwirrte, und alle buhlten um seine Aufmerksamkeit, als wäre Big Shug ein Ehrengast. Sprachlos starrte Shuggie in die Runde; Stephanie senkte den Kopf fast bis auf die Tischplatte, funkelte ihn böse an und fragte, ob er ein Foto machen wollte.
Danach bemühte sich Shuggie, nie länger auf einen Punkt zu blicken. Er versuchte so unauffällig wie möglich alles aufzuschnappen, was ihm etwas über seinen Vater verriet. Er wusste fast nichts von ihm, und während die anderen aßen, warf er verstohlen Seitenblicke auf ihn und fragte sich, warum Big Shug die anderen Kinder ertrug, aber ihn verlassen hatte.
Der fremde Mann hob das Glas und trank seine Milch, und die ganze Zeit streifte sein Blick über die anderen wie ein Suchscheinwerfer. Hin und wieder setzte er das Milchglas ab und strich sich mit der anderen Hand befriedigt über den Schnurrbart. Shuggie rieb sich nervös über die Oberlippe, als sein Vater endlich ihn ansah, und sie betrachteten einander schweigend.
Nach dem Abendessen zeigte Joanie dem Jungen seinen Schlafplatz. Trotz des Esszimmers wirkte das Micklewhite-Haus sehr klein. Der älteste Junge schlief in einem schmalen Bett in einer engen Kammer unter der beneidenswerten Treppe. Er war Chemielehrer oder so ähnlich, und die Kammer war mit Raumschiff-Enterprise-Fanartikeln dekoriert, die an Angelschnur von der Decke hingen. Wenn sogar das schlauste, älteste Kind unter der Treppe schlafen musste, wollte Shuggie gar nicht wissen, wo er untergebracht wurde.
Joanie ging mit Shuggie nach oben, und sie passierten drei oder vier winzige Zimmer. Es gab noch einen Micklewhite, Joanies siebtes Kind, einen Jungen, der auch Hugh hieß und bei der Armee war. Joanie knipste die nackte Glühbirne an und sagte, dass er, der neue Hugh, hier schlafen konnte, »natürlich nur vorübergehend«. Das Zimmer war unordentlich und schien im Übergang vom Kinderzimmer zum Männerzimmer steckengeblieben zu sein. Der andere Hugh hatte kleine grüne Soldaten auf die Fensterbank geklebt, und an der Wand hingen Poster der nackten Samantha Fox. Hugh Micklewhite bewahrte seine Kleider, saubere wie schmutzige, in einem Haufen neben dem Bett auf. Shuggie räumte einen Platz auf dem Bett frei und setzte sich auf die eingesunkene Matratze. In seinem Kopf drehte sich alles.
Er zählte an den Fingern ab. Wenn man Leek und Catherine mitzählte, hatte Shug vierzehn Kinder. Vier eigene aus der ersten Ehe, dann Shuggie, dazu Catherine und Leek, und am Ende die sieben halbwüchsigen Micklewhites. Sein Vater hatte drei Söhne, die seinen Namen trugen: einen Hugh pro Frau. Als Shuggie fertig gerechnet hatte, war er froh, dass sein Vater immerhin drei Stunden seiner Zeit mit ihm verbracht hatte.
Big Shug versteckte sich in seinem Taxi: Doppelschichten, Spätschichten, Nachtschichten, Frühschichten. Shuggie drückte sich tagsüber im Schatten der Hochhäuser herum und versteckte sich vor allen. Morgens setzte Joanie den Jungen vor die Tür. Sie sagte, sein Vater brauche Frieden zum Schlafen, »das hatten die Taximänner von der Nachtschicht«. An der Tür drückte sie ihm ein Marmeladenbrot und eine geschälte Karotte in die Hand und sagte, er solle draußen spielen und erst wiederkommen, wenn es dunkel war. Mit einer Handbewegung zeigte sie auf die ganze Siedlung, um ihm klarzumachen, dass er machen konnte, was er wollte, es war ihr egal.
Während jedes andere Kind in der Schule war, vertrieb sich Shuggie die Zeit damit, die Hochhäuser zu erkunden. Auf jedem Stockwerk gab es eine Gemeinschafswaschküche für alle Wohnungen. Es war ein weitläufiger Betonraum, dessen Außenwand aus ausgestanzten Formsteinen bestand, so dass er nach einer Seite den Elementen ausgesetzt war. Hier hängten die Hausfrauen die saubere Wäsche auf und warteten, bis der Glasgower Wind sie trockengepeitscht und steifgefroren hatte. Shuggie fuhr mit dem Lift von Stockwerk zu Stockwerk, bis er eine Waschküche fand, die nicht abgeschlossen war. Je höher das Stockwerk, desto besser, dann steckte er die Arme und Beine durch die Lücken der Formsteine und sah hinaus über die Sandsteinstadt bis nach Sighthill. Der Nordwind versengte ihm das Gesicht, wenn er die kleinen grünen Soldaten in den Abgrund warf. Er blinzelte zur schwarzen Linie des Horizonts und versuchte, sie sich dort vorzustellen. Vermisste sie ihn? Lebte sie überhaupt noch?
Fast drei Wochen hatte der Junge grüne Männchen in den Tod gestürzt, als Agnes kam. Am Ende hatte sie sich selbst entlassen. Sie rief an, und Shuggie sah mit dunkler Neugier zu, wie Joanie Micklewhite am Telefon Gift verspritzte, so gut sie konnte. Er fühlte sich wie ein Verräter, weil er im Haus des Hurenbocks war und mitanhören musste, wie Joanie am Telefon einfach den Hörer auflegte, wie sie Agnes auslachten und beleidigten, sie rupften sie wie ein altes Huhn. Es brach Shuggie das Herz, zuzusehen, wie sie sich an Agnes’ Elend weideten. Er starb vor Sorge, dass Agnes ihn für einen von ihnen halten könnte. Er dachte an Agnes’ Handgelenke, an die blutverschmierten Handtücher, und er begann vor Wut und Verzweiflung wie ein großes Baby vor ihnen zu weinen.
Ab da veränderte sich Joanies Ton. Der Junge verstand nicht, warum sie auf einmal zuckersüß zu ihm war. Offenbar hatte er sich von einem Klotz am Bein in eine nützliche Schachfigur verwandelt. Jetzt war er ein wunderbares, schmerzhaftes Werkzeug, um Agnes Bain ein für alle Mal zu zeigen, wer die Siegerin war.
Agnes dagegen hatte ihre eigenen leeren Drohungen und das tränenreiche Betteln irgendwann satt. Sie setzte sich an die Kommode und frisierte sich das Haar mit Schicht um Schicht des teuren Haarsprays zu einer harten Krone schwarzer Rosen. Sie zog ihren engen schwarzen Rock, eine frische weiße Bluse und ihren guten lila Mohairmantel an, nicht ohne sich zu vergewissern, dass die Ärmel lang genug waren, um ihre bandagierten Handgelenke zu verbergen. Dann trank sie zügig drei Dosen aus, knackte den Gaszähler und rief ein Taxi.
Agnes hatte damit gedroht, aber keiner hatte ihre Drohung ernst genommen. Wie Schulhofrowdys fühlten sich die Micklewhites im Rudel stark und lachten sie mit lautem HA-HA-HA am Telefon aus. Als Agnes aus dem schwarzen Hackney stieg, bat sie den Fahrer, freundlicherweise zu warten.
»Ich brauche nicht lang«, sagte sie. »Ich will mir nur kurz den letzten Lacher holen.«
Mit stolzem Klackern ging Agnes die Straße entlang und zählte die ungeraden Zahlen. Sie öffnete das metallene Gartentor, betrat den kleinen Vorgarten und rieb sich beim Anblick der doppeltverglasten Fenster das Herz. Sie betrachtete die neuen Fenster, die zwei Stockwerke, und ihr Mund verzog sich zu einer breiten, angewiderten Grimasse. Sie kontrollierte noch einmal die Adresse auf ihrem Zettel, dann zog sie sich ein letztes Mal die Ärmel des lila Mantels über die Hände.
Agnes hämmerte gegen die Tür, aber keiner machte auf. Am Türspion war das Scharren von Füßen zu hören, und kichernde Stimmen. Agnes hämmerte wieder, und dann trat sie einen Schritt zurück.
»SHUG!«, schrie sie. »SHUG BAIN! ZEIG DEIN GESICHT, DU FRAUEN SCHLAGENDER HURENBOCK!«
Sie wartete. Aus dem zweistöckigen Haus kam keine Antwort, dafür blieben ein paar Leute auf der Straße stehen. Sie lungerten an Briefkästen und hinter geparkten Autos herum; Kinder legten ihre BMX-Räder in den Dreck und kamen näher, um besser sehen zu könnten. Agnes spürte die Blicke und fühlte sich ermutigt.
»SHUG BAIN! DU KAHLES SACKGESICHT! HÖR AUF AN DEINEM WINZIGEN PIMMEL RUMZUSPIELEN UND ZEIG DEINE BESCHISSENE VISAGE!«
Ihre Stimme hallte von den flachen Häusern und wurde klar zu den Hochhauswohnungen emporgetragen. Agnes drückte den Rücken durch, holte tief Luft und wollte gerade weiterschreien, als ihr etwas ins Auge fiel. Der versiegelte Vorgarten war leer; der Beton war vollkommen flach und grau. Da war nichts außer ein paar Halme verkümmertes Unkraut und in der Ecke zwei große silberne Mülltonnen.
Agnes packte die erste Tonne; sie war nicht voll, nicht allzu schwer. In einer schwerfälligen Bewegung holte sie aus, schwankte auf den zierlichen Absätzen, und dann drehte sie schwungvoll zurück und ließ die Tonne los. Sie war noch geschwächt vom Krankenhaus und wäre fast unelegant rückwärts durch das Gartentor gestürzt. Die Metalltonne flog durch die Luft, und kurz sah es so aus, als würde sie an den dicken Scheiben abprallen und auf Agnes zurückfallen. Sie hielt die Luft an.
Doch Agnes hatte ihr Ziel nicht verfehlt.
Die Tonne traf die Mitte der Scheibe und krachte mit einem ohrenbetäubenden Klirren ins Haus. Das Fenster zersprang in tausend eiswürfelartige Scherben, und die stolzen Spitzengardinen wurden von der Stange gerissen. Eine alte Frau, die auf der Straße stehengeblieben war, flehte um Gnade. Die Kinder mit den BMX-Rädern jubelten begeistert.
Die Micklewhites hatten wie die Waltons hinten im Haus am Esstisch gesessen, als Agnes angefangen hatte, an die Tür zu hämmern. Als sie den Krach aus dem Wohnzimmer hörten, waren alle außer Shug aufgesprungen. Joanie, die eben noch beim Verteilen einer Schüssel goldener Kartoffeln über Agnes gelacht hatte, war zuerst auf den Beinen. Als sie die Zerstörung und den Müll entdeckte, fing sie an zu kreischen, als hätte ihr jemand ein Messer in die Rippen gerammt.
Bis sich Shuggie durch das Gedränge der Micklewhite-Beine gekämpft hatte, stand Joanie mit aufgerissenem Mund und schlaff herunterhängenden Armen inmitten der Scherben und des stinkenden Mülls. Stephanie stützte ihre Mutter, damit sie nicht umfiel. Der große Farbfernseher lag zertrümmert am Boden. Shuggie sah, dass er keinen Münzzähler hatte. Warte, bis ich ihr das erzähle, dachte er.
Draußen vor dem Haus stand lächelnd, schön und beinahe nüchtern Agnes Bain. Der Junge hätte am liebsten Tooooor! gerufen. Am liebsten hätte er mit ihr eine Ehrenrunde um die Siedlung gedreht.
Big Shug war als erster an der Haustür. Er hielt sich rechts und links am Türrahmen fest, um den Rest der Micklewhites davon abzuhalten, sich auf die Straße zu stürzen. Sie reckten die Arme an ihm vorbei, um nach ihr zu greifen; es sah aus wie eine Szene aus einem der Zombiehorrorfilme, die Leek Shuggie manchmal sehen ließ. Seelenruhig griff Agnes in ihre Tasche und nahm sich eine lange Zigarette heraus. Sie zündete sie langsam an und zog elegant. »Du Scheißkerl«, sagte sie ganz ruhig. »Schick mir meinen Jungen raus.«
Joanie, die immer noch mitten in den Scherben stand, fand endlich ihre scharfe Zunge wieder. Sie stieß einen Schrei aus, die Art, die in den Zehenspitzen begann und alle Muskeln im Körper in Spannung versetzte, bevor er endlich aus ihrem Mund brach. »Du versoffene alte Hure! Du wirst für mein Fenster bezahlen, so wahr mir Gott helfe!«
Agnes zupfte an einem eingerissenen Nagel. Mit enttäuschter Miene hielt sie die Hand hoch. »Jetzt sieh dir an, wozu du mich gebracht hast. T’chut.« Sie schürzte die Lippen und wedelte mit den Fingern in Joanies Richtung. Dann richtete sie den kalten Blick wieder auf Shug und zischte mit knirschenden Zähnen: »Schick mir sofort meinen Jungen raus.«
Joanie drängte sich in den Flur, vorbei an dem Jungen und den anderen wütenden Micklewhites, die Shug mit seinem eigenen Leib zurückhielt. Sein Gesicht hatte einen Farbton zwischen Feuerrot und Dunkelrot angenommen. »Du alte dreckige Säuferin, ich dreh dir den Scheißhals um«, geiferte Joanie und kratzte mit den Klauen in der Luft.
»Shug Bain, ich warne dich!« Agnes zog wieder an der Zigarette und sah die Straße hinunter, wo immer mehr Nachbarn aus den Häusern kamen. Sie trat auf die zweite silberne Tonne zu. »Wenn du mir nicht sofort meinen Sohn herausschickst, schmeiße ich jedes einzelne Fenster auf dieser Scheißstraße ein.«
Joanie streckte die Krallen immer noch an Big Shug vorbei und fing an, glibberige Schleimbatzen auf die Straße zu spucken. Agnes sah sie nur angewidert an und betrachtete dann wieder ihren Fingernagel. Joanie schrie wie am Spieß. »Du bist total irre! Die hätten dich nie außen Irrenhaus lassen sollen!«
In einer fließenden Bewegung ließ Agnes die Zigarette fallen, zog sich den schwarzen Pumps vom Fuß und hielt ihn hoch. Agnes konnte zwar keinen Ball werfen, aber der Volltreffer mit der Tonne hatte ihr Selbstbewusstsein gestärkt. Der erste spitze Stiletto segelte durch die Luft, traf den Türrahmen und landete am Boden. In Strumpfhosen trat Agnes einen Schritt vor und ließ wie eine erfahrene Kugelstoßerin den zweiten Schuh fliegen; er traf Joanie an der Wange. Joanie japste, hielt sich das blutende Gesicht und taumelte rückwärts in den Flur.
Die Jungs mit den Fahrrädern grölten schadenfroh. Sie warfen sich auf den Boden, sammelten hilfsbereit Steine, die sie der Kriegerin hinhielten, und verlangten nach mehr Blut. »Hier! Hier! Missus. Noch mal! Noch mal!«
Es gab Blut, zwar nur ein bisschen, aber genug, dass Joanie es mit der Hand abwischen und ihre Brut damit aufhetzen konnte. Beim Anblick des Bluts mobilisierten die Micklewhite-Jungs all ihre Kräfte, um rauszukommen und Agnes zu lynchen. Shug sah aus, als würde ihm von der Anstrengung das Herz platzen.
Shuggie konnte seine Mutter im Vorgarten kaum sehen. Der Flur war voller Leute, die sich gegen seinen Vater stemmten, und wenn er sie durch die wütenden Körper nicht einmal sehen konnte, würde er sich erst recht nicht zu ihr durchwühlen können. Er drehte sich um, zog sich langsam in den Flur zurück und schlich unbemerkt in das Zimmer links. Er stakste durch die Scherben, die das Wohnzimmer übersäten, und kletterte über den umgekippten Fernseher auf die Fensterbank. Mit einem Satz sprang er über die gezackte Kante des kaputten Fensters und landete auf dem harten Beton vor dem Haus.
Vorsichtig ging Shuggie auf seine Mutter zu. Sie war abgemagert und wirkte erschöpft, und unter der Schminke hatte ihre Haut eine graue blutleere Farbe, die er noch nie an ihr gesehen hatte, aber sie lebte. Shug sah, wie sein Sohn vorsichtig durch die Scherben lief. »Shuggie, komm her, sofort«, bellte er. Hinter ihm erhob sich das Protestgebrüll der Micklewhite-Kinder. Sie schrien nach Blut; sie verlangten, dass Shug den Jungen gehen ließ. Doch er ignorierte sie. »Sie wird nicht wieder gesund, Sohn. Komm da weg.«
Shuggie blieb eine Sekunde stehen, warf einen Blick über seine schmale Schulter und zuckte die Achseln. »Vielleicht ja doch.«
Agnes funkelte Shug an und streckte dem Jungen die Hand entgegen. »Du willst ihn bloß, damit ich ihn nicht kriege.«
»Ich weiß, was gut für den Jungen ist.« Unter den Borsten seines Schnurrbarts zog er die Lippen zusammen. »Du schaffst es nichma für dich zu sorgen, geschweige denn für ihn. Verdammt noch mal, kuck dir doch an, wie verdreht er ist.«
Auf Strümpfen beugte sich Agnes vor und nahm den Jungen fest in die Arme. Die Knöpfe ihres guten Mantels zerkratzten sein Gesicht, aber es war ihm egal. Er drückte sie, so fest er konnte, als versuchte er, zurück in ihren Körper zu kriechen. Seine Unterlippe zitterte; sie wölbte sich vor wie ein Fieberbläschen. Agnes legte sanft den Daumen darauf und küsste die blasse Haut über seinem linken Ohr. Ihre Worte waren so warm und leicht wie die Sommersonne. »Schsch, wir haben lange genug vor ihren Augen herumgeheult. Nicht hier. Die Genugtuung kriegen sie nicht.«
Agnes richtete sich zu voller Größe auf, auch wenn sie ohne die schwarzen Pumps nicht mehr ganz so groß war. Sie sah Shug und die groteske Meute an, die sie zerfleischen wollte. »Manchmal willst du etwas gar nicht. Aber du erträgst es nicht, wenn jemand anders es hat.«
Ohne ein weiteres Wort nahm Agnes Shuggies Hand und führte ihn zum Gartentor hinaus. Die BMX-Jungs wollten immer noch Blut sehen. Agnes hob eine Hand, um sie zu beruhigen, doch sie nahmen es als Salut, und dann brach die ganze Straße in Beifall aus. »Hammerhart, Missus!«
Als sie hinten ins Taxi stiegen, war ihr Junge stumm geworden und starrte sie an wie eine Erscheinung. Sie nahm Shuggies Gesicht in beide Hände und drehte seinen Kopf in Richtung des flachen Hauses. »Sieh ihn dir gut an. Den fetten Drecksack siehst du nie wieder, so wahr mir Gott helfe.«
Sie hielt sein Kinn, bis sie losfuhren. Shuggie sah, wie sein Vater die Micklewhites zurück in den Flur schob, als würde er eine Zeltplane in die Tasche stopfen. Plötzlich wirkten Big Shugs runde Schultern, als wäre die Luft raus; die aufgeblasene Angeberei der letzten Wochen war verpufft.
Bis sie die Siedlung verließen, kreisten die BMX-Räder um den Hackney wie ein Schwarm Stare. Agnes drückte den Jungen an sich, und er hing an ihr wie ein Saugnapf. Lange hielt sie ihn so fest und versuchte den Duft der anderen Frau zu ignorieren, deren Seife in seinem Haar hing. Er ließ sie weinen, er ließ sie reden, und er widersprach ihr nicht, als sie hehre Versprechungen machte, die sie sowieso nicht halten würde.