Zum ersten Mal seit drei Wochen wachte sie nicht in einem Wohnzimmer voller feuchter, alkoholgetränkter Gestalten auf. Es war eine seltsame Art von Einsamkeit. Agnes setzte sich auf und wimmerte eine Weile selbstmitleidig vor sich hin. Sie saß inmitten von überquellenden Aschenbechern im Sessel, legte den Kopf zwischen die Knie und schob die Hände in die Achseln, um das Zittern zu stoppen.
Sie wusste nicht, wie lange er schon dort mit dem roten Wischeimer saß, aber als sie seinen Namen rief, wirkte er genauso überrascht über ihre Anwesenheit wie sie über seine.
»Nimmst du mich mal in den Arm?«, fragte sie jämmerlich.
Gehorsam kam er zu ihr und setzte sich auf die Armlehne. Er war schon wieder gewachsen, und seine Arme reichten mit Leichtigkeit um ihre Schultern. Jedes Mal, wenn er sie umarmte, fühlte er sich weniger wie ein Kind an. Er war mitten in der Verwandlung, nicht zum Mann, sondern zu einem langgestreckten Kind, das darauf wartete, zum Erwachsenen aufgeblasen zu werden. Sie hielt ihn fest, solange sie konnte. Er roch frisch, wie die Felder draußen.
Er sagte nur: »Ich will hier nicht mehr leben.«
»Nein. Ich auch nicht.«
Agnes ließ sich ein tiefes heißes Bad einlaufen. Das Schwitzen fühlte sich gut an, und sie spürte, wie etwas von dem Sauren aus ihr heraussickerte. Sie rubbelte sich mit einem harten Handtuch ab und zog sich ihre besten Sachen an, kombinierte sorgfältig Pullover mit Mantel und Schuhen. Mit widerspenstigen Händen legte sie Make-up auf und bürstete sich das schwarze Haar sorgfältig über den weißen Ansatz. Sie fand den Rest des Dienstagsbuchgelds, schob es in ihre Tasche und verließ das Haus. Der Tag war heiß und stickig, zwei Wochen Sonne, die versuchten, ein Jahr Regen aufzusaugen. Trotzdem knöpfte sie sich den Mantel zu. Die Frauen beobachteten sie, als Agnes aus dem Tor kam, sie standen in Gruppen herum, mit Bohnensoße auf den Pullovern und ausgeleierten Leggings, an denen Kinder hingen. Agnes hörte, wie sie über sie lästerten, und sie wusste, dass sie es hören sollte. Diese Frauen, die nicht genug Würde besaßen, um sich das Haar zu bürsten, taten ihr leid. Bitte, lieber Gott. Nicht mehr lange, dachte sie und winkte ihnen mit hoch erhobenem Kopf.
Vor dem Miners Club standen graue Männer und tranken in der schwachen Sonne Bier. Trotz der Schwüle trugen sie alle die schweren Arbeiterjacken, in denen sie früher unter Tage malocht hatten. Als Agnes vorbeikam, drehten sie sich weg wie schüchterne Pinguine und redeten mit gedämpften Stimmen. Agnes hörte, wie ihr Name geflüstert, ihre Legende besprochen wurde. Die Mutigeren starrten sie über ihre Biergläser mit gierigen Augen an. Agnes wusste, dass sie sie nur demütigen, sie runterziehen wollten. Sie kannte eine Handvoll, die für eine Tüte vom Schnapsladen ihren Spaß mit ihr gehabt hatten. Wenn sie fertig waren, krochen sie zurück zu ihren dürren Frauen unter das geflickte Bettzeug. Alles hier war zu klein, zu jämmerlich, als dass es sie noch interessierte.
Nach einem langen Marsch erreichte Agnes die Reihe der geschlossenen Läden kurz vor der Schnellstraße. Als sie die Autos vorbeirasen sah, fiel ihr auf, dass sie die Zechensiedlung viel zu selten hinter sich gelassen hatte, viel zu selten das Marschland überquert hatte, um mit Menschen zu tun zu haben, die sich nicht einbildeten, sie wüssten jedes schmutzige Detail über sie. Sie schlenderte durch die Sonne und hing dem seltenen Traum von Freiheit nach, als ihr eine Gestalt ins Auge fiel. Wie eine Katze, die von einem Hund bedrängt wurde, wich die Frau zurück und sah sich nervös nach einem Fluchtweg um. Kurz dachte Agnes, sie würde über das niedrige Geländer klettern und hinaus in den brüllenden vierspurigen Verkehr laufen. Beinahe hoffte Agnes, sie täte es.
»Hallo, Colleen.«
Colleen versuchte auf dem schmalen Gehweg einen Bogen um Agnes zu machen. An jedem anderen Tag hätte Agnes sie vielleicht vorbeigelassen, aber nicht heute. Sie trat ihr in den Weg und sagte lauter: »Ich habe gesagt, guten Morgen, Colleen.«
Die verhärmte Frau steckte fest, weil der brausende Verkehr ihre Flucht verhinderte. »Was soll das?«, fragte sie.
»Warum, soll ich dich auf der Straße nicht grüßen?«
Zum ersten Mal hob die Frau den Kopf, um Agnes ins Gesicht zu sehen, und setzte ein essigsaures Lächeln auf. Sie schürzte den Mund zu einer Grimasse, die Agnes für Scham hielt. Das Einzige in Colleens Gesicht, das weich und weiblich war, waren ihre Lippen. »Weiß nicht.«
»Wie geht es deinem Bruder?«
Die Frau schlug die Lider über den hellen Augen nieder. »Aye, gut, danke.«
Agnes hoffte, dass sie log, aber es versetzte ihr trotzdem einen Stich. »Meinst du, jetzt, wo Schluss ist, kannst du vielleicht aufhören, bei mir anzurufen?«
Colleen legte sich die Hand auf das silberne Kruzifix. »Ich weiß nich, wovon du redest.«
»Ach so. Du hältst mich auch noch für bescheuert. T’chut.« Agnes machte ein knallendes Geräusch mit den Lippen, wie Lizzie es früher getan hatte, wenn sie sich etwas nicht gefallen ließ. Es überraschte sie selbst, und dann lachte sie. »Colleen, du schnaufst wie ein alter Cockerspaniel. Wenn du in Zukunft irgendwo Telefonterror machst, wärs vielleicht besser, wenn du den Mund zumachst und durch die Nase atmest.«
Colleens Unschuldsmiene wich aus ihrem Gesicht wie ein Eis am Stiel, das in der Sonne schmilzt. Das selbstgefällige Grinsen war wieder da. »Halt dich von mein Bruder fern, dann sehnwer weiter.«
Agnes griff in die Tasche und nahm den alten Briefumschlag der Gaswerke heraus. Darin steckte die Anzeige mit dem Haustausch-Gesuch, die sie in der Zeitung geschaltet hatte; sie wollte sie auch im Fenster des Zeitungskiosks aushängen. Sie reichte Colleen den Zettel, die sich die Zeilen ansah, und Agnes bemerkte, dass sie extrem langsam las und bei jeder Silbe die Lippen bewegte. Agnes war froh, dass sie sich die Mühe gemacht hatte, den Text in ihrer besten Druckschrift zu schreiben. »Siehst du. Ich versuche wegzukommen.«
Die Frau schnaubte. »Häls dich wohl für wat Besseres.«
Agnes wippte auf den Fersen. Sie verschränkte die Arme. »Du erinnerst mich an meinen zweiten Mann, weißt du das? Du willst mich nicht hier. Aber gehen soll ich auch nicht.«
»Machst du Witze?« Colleen klappte mit gespielter Entrüstung den Mund auf. »Du komms hier raus in unsre Siedlung und häls dich für die Königin von Saba. Stolziers hier rum und denks, du wärs wat Besseres als der Rest von uns, mit dein Haarspray und die tolle Handtasche.« Sie zeigte mit dem Finger auf Agnes. »Du und dein komischer lütter Jung versuchen ständig uns runterzumachen, und dabei liegse in deine eigene Pisse und ficks die Männer von andern Frauen. Gott. Ich hab noch nie so wat Scheinheiliges gesehen wie dich.«
»Na, dann wünsche ich dir, dass du niemals harte Zeiten erlebst.«
»Ach, halte Klappe! Ich bin fast gestorm, als mein Eugene ankam und erzählt hat, datter was mit der Schlampe innen lila Mantel angefangen hat! Wie hat unsre Mammy oben in Himmel gelitten, alse gesehen hat, wie ihr zwei rummacht.«
Agnes schüttelte den Kopf. »Die scheint ja ein Riesenfernglas zu haben.«
»Für dich is alles bloßen Riesenwitz, oder?«
»Na ja, es ist vorbei. Du hast gewonnen. Deine Mutter kann die Gardinen wieder runterlassen.«
Colleen war inzwischen dunkelrot und sie sah aus, als würde sie gleich platzen. »Dafür isset zu spät, Lady. Oder glaubste, seine arme Frau nimmten wieder auf, wenner zu ihr hochfährt? Datt er mit so jemand wie dir zusammen war, kanner nie wiedergutmachen.«
Agnes sank auf die Hacken zurück und drehte an der Rückseite ihres Ohrrings. »Ich nehme mal an, jetzt hab ich alles gehört.«
Aus Colleens Blick sprühte reiner Hass. »Du has noch gar nix gehört. Er is immer nur nachts zu dir gegangen, weil er sich so wegen dir geschämt hat. Hat sich rumgeschlichen wien Dieb! Aus dem Grund fangen nur Taxifahrer wat mit dir an, wat? Damitse am Tag nich mit dir gesehen werden.«
»Meinst du?«
Die dünne Frau lächelte triumphierend. Sie sah erleichtert aus, als wäre sie froh, sich Luft gemacht zu haben. »Aye.«
»Wir werden uns nie verstehen, oder?«
»Nee! Wat sagste dazu?«
»Gut«, sagte Agnes. Sie drehte sich um und ging auf die ausgehöhlten Geschäfte zu. »Ach, und Colleen«, sie zeigte auf Colleens Hals und dann fuhr sie sich mit dem lackierten Fingernagel über ihr eigenes blasses Schlüsselbein. »Du hast da einen Schmutzrand am Hals. Vielleicht wärs besser, wenn du morgens mit dem Waschlappen drübergehst, bevor du das Haus verlässt. Der Dreck verdirbt irgendwie den hübschen Glanz, den dein Kruzifix hat.«
Die Frau griente. »Mehr haste nich drauf?«
Agnes schloss mit der Hand den Mantelkragen und lächelte zum Abschied. »Ach, und ich habe deinen Mann gevögelt. Es war mies.« Sie schniefte angeekelt. »Er hatte einen Haufen Bremsspuren in der Unterhose, die wirklich peinlich waren.«
Es klingelte den ganzen Nachmittag. Erst versuchten ihn die McAvennie-Mädchen hinauszulocken. Sie sagten, sie hätten Süßigkeiten, die sie gern mit ihm teilen würden, aber er kannte die McAvennie-Mädchen, und wusste, dass ihre Brüder sich zwischen den Hecken versteckten. Immer wieder kamen sie an die Tür, und als er nicht mehr hinging, fingen sie an, durch den Briefkastenschlitz zu spucken, dicke, langgezogene, schmierige Schleimklumpen, die an der Metallklappe klebten und langsam an der Innenseite der Holztür herunterrutschten. Shuggie versteckte sich in der Ecke, sah zu, wie sie durch den Schlitz rotzten, und versuchte, mit einem Lappen die Sauerei wegzuwischen, bevor sie auf dem guten Teppich landete.
Shuggie wusste nicht, was Agnes diesmal getan hatte, aber die Kinder beschimpften sie mit wüsten Worten. Neue Namen, die anrüchig und primitiv klangen; Frauenworte, bei denen sie feuchte Lippen bekamen und schlürfende Geräusche machten wie ein Stiefel im Kohleschlamm. Der unsichtbare Burggraben, den Eugenes Anwesenheit um das Haus der Bains gezogen hatte, war verschwunden; es war, als hätte er ihn beim Gehen wie einen Teppich eingerollt und mitgenommen. Jetzt traten die McAvennie-Bälger mit den Füßen gegen die versperrte Tür. Sie beschimpften ihn mit allen vertrauten Beleidigungen. Sie machten schlürfende Kussgeräusche, dann machten sie eine Melodie aus Kussgeräuschen, und dann beschimpften sie ihn wieder mit den schmutzigen Wörtern.
Als die Mädchen keine Lust mehr hatten, ihn zu quälen, kam schließlich Francis McAvennie zur Tür. Shuggie war kurz davor aufzumachen. Er war so erschöpft, dass er es nur noch hinter sich bringen wollte, er wollte einstecken, was er einstecken musste, und die Tür hinter sich schließen.
Francis war fast zwei Jahre älter als Shuggie. Er ging inzwischen zur Oberschule, ohne seinen Bruder Gerbil, und auf der Oberlippe wuchs ihm dichter Flaum. Er hatte angefangen, mit einem Protestantenmädchen herumzufummeln. Seine Schwestern erzählten es mit einer komischen Mischung aus Ekel und Stolz in der ganzen Siedlung herum. Als Francis’ Augen im Briefschlitz auftauchten, erwartete Shuggie, er würde hereinspucken wie seine Schwestern. Er faltete den feuchten Lappen, um den nächsten Batzen aufzufangen. Stattdessen begannen Francis’ dicke rosa Lippen leise durch den Schlitz zu sprechen. »Shuggie. Shuggie! Ich weiß, dass du da drin bist. Mach dir Tür auf. Mach schon. Ich will mit dir reden.«
So freundlich hatte er mit Shuggie noch nie gesprochen. Die Worte tropften langsam heraus, wie ein warmes Rinnsal aus dem Wasserhahn. »Willst du mir nicht die Tür aufmachen, Shuggie?«
»Nein.«
Ihre Blicke trafen sich durch den Schlitz, und Shuggie sah, dass der teigige Junge dichte Wimpern hatte, wie die Borsten einer Scheuerbürste. Francis sagte: »Ich hab gehört, ihr zieht um. Ich wollt mich bei dir entschuldigen, weil ich son Arsch war.« Shuggie hörte, wie Francis in der Tasche herumkramte. Dann war er wieder am Briefkastenschlitz und schob einen kleinen goldenen Roboter durch. C-3POs abgebrochener Kopf war mit weihnachtlichem Klebeband ungeschickt angeklebt worden. Ein altes kindisches Spielzeug, seit Jahren kaputt, ein mageres Friedensangebot.
»Wenn du Kleber draufmachst, isser so gut wie neu.« Der ältere Junge nahm die Augen weg und hielt den Mund vor den Briefkasten, um zu zeigen, dass er lächelte. Seine Zähne waren groß und glatt wie weiße Strandkiesel. »Mach doch die Tür auf.«
»Nein.«
»Warum hasst du uns?«, fragte Francis leise.
»Ich hasse euch nicht. Ihr hasst mich.«
»Nein!« Er klang verletzt. »Dat is doch bloß Spaß.« Shuggie merkte, dass Francis sorgfältig darüber nachdachte, was er als nächstes sagen würde. »Ich wills wiedergutmachen. Dass ich dich immer geärgert hab.« Er runzelte die Stirn. »Willste mich küssen?«
»Was?«
Francis hielt wieder die Lippen an den Briefkastenschlitz. Über seiner Oberlippe war der Schatten einer alten Narbe zu sehen. Sein Vater, Big Jamesy, war bekannt dafür, dass ihm die Hand locker saß. »Ich lass dich, wenndes niemand erzählst. Du kannst mich küssen. Dat haste doch immer gewollt, oder?« Er schniefte. »Jetzt mach halt dir Tür auf.«
Shuggie wartete, er traute dem Gefühl nicht, das in seinem Magen rumorte. »Warum soll ich dich küssen wollen?«
»Komm schon. Ich weiß, wat du für einer bist.«
Shuggie pulte das Klebeband ab, und der Kopf des goldenen Roboters fiel herunter und rollte über den Teppich. »Francis. Sind wir jetzt echt Freunde?«
»Aye. Klar.«
»Na gut. Dann halt den Mund an den Briefkasten.«
»Nee. Mach dir Tür auf.« Der Junge klang fast flehentlich.
»Mach schon, okay?« Shuggie hörte, wie der McAvennie-Junge zögerte. Er war sich sicher, dass Francis jeden Moment einknickte, seinen Bluff durchschaute. Einen schmerzhaften Moment lang war es still. Dann hörte er das Schleifen der Knöpfe an der Tür, als Francis sich von außen dagegendrückte.
»Ein Kuss, und dann machste die Tür auf?« Die Stimme war so klar, als stünde er direkt neben ihm.
Shuggie schloss die Augen und ging in die Knie. Er legte das Gesicht an den Briefkasten. Francis’ Atem roch süß und zuckrig wie Supermarktmarmelade. Shuggie spürte seinen klebrigen Atem auf den Lippen, und einen Moment lang wollte er die Finger durch das Loch schieben und Francis zärtlich berühren.
Aber der Moment ging vorbei.
Shuggie hielt die Hand vor die Öffnung, und dann drückte er, so schnell er konnte, den nassen Lappen durch, der mit dem Rotz seiner Folterer durchtränkt war. Er hatte die schleimigste, grünste Stelle nach außen gefaltet. Er traf den Jungen im Gesicht, spürte den Widerstand, dann spürte er, wie Francis zurückwich und der Lappen auf den Boden fiel. Shuggie lehnte sich gegen die Tür. Er hörte, wie Francis sauren Speichel auswürgte.
Francis hielt die Zähne an den Briefkasten. Er hatte sie gebleckt und versuchte, nach Shuggie zu schnappen und zu beißen. »Warts bloß ab, bis du aufmachst. Ich stech dich ab, du dreckiger Tuntenarsch.«
Ein Wummern erschütterte die Tür, wie von einer harten Faust. Shuggie wich zurück, als Colleens Küchenmesser durch den Briefkastenschlitz stieß und wild in der Luft herumstocherte. Er drückte sich an die Tür des Windfangs und sah zu, wie die glänzende Klinge immer wieder durch den Briefkasten fuhr. Blind suchte sie nach seinem Fleisch, die Schneide so spitz und scharf, dass sie kreischend an der Metallklappe sägte.
Davey Parlando, der Schrottsammler, kam drei Mal mit seinem Wagen. Er nahm alles mit, was Agnes ihm anbot, und bezahlte mit einer Rolle schmuddeliger Pfundscheine, die er mit Pflaster zusammengeklebt hatte. Er konnte sein Glück mit der Großzügigkeit der schönen Frau kaum fassen — oder mit ihrer blinden Dummheit. Als er redete, war er nervös und fahrig, als würde er ständig improvisieren, weil er nicht wusste, woran er war: War sie bescheuert, oder war sie gut? Es ließ sich schwer sagen, weil ihre Augen irgendwie apathisch wirkten.
Als Davey den Rest von Lizzies Hochzeitsgeschirr aufgeladen hatte, machte er noch einen letzten Gang zum Wagen. Normalerweise schenkte er den Blagen eine Pfeife oder ein Plastikspielzeug, aber Shuggie bekam eine ganze Kiste schmutziger Luftballons, die ihm sonst die ganze Schrottsaison gereicht hätte, fehlgedruckte Ausschussware mit den verschmierten Logos stolzer Unternehmen. Davey machte einen Trick, er blies einen Luftballon durch geschlossene Lippen auf, indem er die Öffnung in die Lücke klemmte, wo ihm die Schneidezähne fehlten. Dann reichte er dem feinen Jungen den feuchten Ballon und las langsam vor, was darauf stand, als könnte Shuggie nicht selbst lesen. »Siehste, da steht Glasgow ist Meilen besser.«
»Als was?«, fragte Shuggie streng.
Die Leichtigkeit, mit der Agnes sich plötzlich von Dingen trennte, machte Shuggie Angst. Die Möbel, die der Schrotthändler nicht zu einem Spottpreis davonkarrte, brachte Agnes wieder zum Leasingzentrum. Sie gab alles, was sie per Mietkauf erworben hatte, zurück. Dann nahm sie einen hinkenden Kredit bei der Provident-Bank auf, um neues, besseres Mobiliar zu kaufen, wenn sie endlich in der Stadt waren.
Shuggie spürte das Fieber, das sie erfasst hatte, der Traum, ein nagelneuer Mensch zu sein, mit nagelneuen Dingen. Es war, als hätte sie die Grippe. Sie suchte die über Jahre gesammelten Kensitas-Zigaretten-Coupons zusammen und zählte sie immer wieder ab. Sie band sie zu engen kleinen Blöcken, kleinen Barren, die noch nach süßem goldenem Tabak rochen. Shuggie legte sie auf dem Teppich aus und baute Mauern und Forts damit, während Agnes den Kensitas-Katalog durchblätterte, Lampen und Teetabletts, die ihr nur halb gefielen, mit Eselsohren markierte und den bedenklichen Gesamtbetrag auf einem Gasrechnungsumschlag notierte.
Shuggie beobachtete sie und murmelte: »Warum bin ich dir nicht genug?« Aber sie hörte ihm nicht zu.
Agnes hatte das Haus schnell zusammengepackt, sobald der Haustausch beschlossen war. Sie sah die meisten der Gegenstände vorwurfsvoll an, als hätten sie ihr irgendwie wehgetan. Das Packen selbst dauerte kaum mehr als einen Nachmittag, denn sie hatten es beide eilig wegzukommen und verbrachten die letzten Wochen lieber auf gepackten Koffern voller ungetrübter Träume und Vorfreude. Shuggie half, ihre kostbaren Figürchen einzupacken, die er sorgfältig in alte Zeitungen einschlug und in die Kiste zwischen ihre Unterwäsche legte. Hinter ihrem Rücken rettete er auch ein paar von Leeks aussortierten Dingen — alte Platten, halbvolle Skizzenbücher, Catherines alten Stoffkobold — und versteckte sie tief in den Umzugskisten seiner Mutter. Den Rest der Besitztümer seiner Geschwister verscherbelte Agnes für eine Rolle schmutziger Scheine an Davey Parlando.
Am Abend vor dem Umzug brach sie ein letztes Mal den Fernsehzähler auf und kaufte jede Menge Schokolade beim Eiscremewagen. Sie breitete ihren gesamten Kleiderschrank vor Shuggie auf dem Boden aus, und dann saßen sie Knie an Knie und überlegten zusammen, welche Versionen von ihr sie mitnehmen und welche sie zurücklassen würden.
»So was trägt man heute eigentlich nicht mehr«, sagte Shuggie. Sie hatte einen flauschigen schwarzen Pullover angezogen, dessen Garn aus einer Milliarde dichter Wimpern zu bestehen schien.
Agnes nagte an einem Stück Pfefferminzschokolade. »Und wenn ich ihn mit einem Gürtel anziehe?« Sie hielt sich die Hände eng um die Taille.
Shuggie griff in den Pullover, knöpfte die beiden weißen Schulterpolster ab und nahm sie heraus. Jetzt wirkte sie weniger streng; sie sah weicher und jünger aus. Er blinzelte. »Wenn du ihn zu Jeans trägst, ist es vielleicht besser so.« Er steckte sich die Schulterpolster in den Schulpullover, so dass ihm die Schultern bis zu den Ohren reichten.
Sie verzog das Gesicht. »Ach. Ich bin zu alt für Jeans. Damit sieht heute alles so ordinär aus.«
Shuggie beugte sich vor und zog einen wollenen A-Linien-Rock in der Farbe von trockenem Heidekraut aus dem Haufen. Er war eng, aber nicht zu eng. Er hatte ihn nie an ihr gesehen. »Der gefällt mir.«
Agnes dachte nach. Sie probierte, ob der Reißverschluss noch funktionierte, aber dann warf sie den Rock zur Seite. »Nein. Die will ich nicht sein. Sie trägt Männerpantoffeln und läuft den ganzen Tag in der Schürze herum.«
»Aber er wäre wenigstens bequem.«
Seine Mutter schnaubte und streckte sich auf dem Teppich aus. Dann drehte sie sich zu ihm und musterte ihn von oben bis unten. »Und wer willst du sein, wenn wir umziehen?«
Er zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Ich muss mir ja die ganze Zeit um dich Gedanken machen.«
»Oha, da spricht Mutter Teresa persönlich.« Agnes sah ihn gereizt an. Sie stützte sich auf den Ellbogen und trank einen Schluck aus ihrer Lager-Tasse. Finster betrachtete sie die Zirruswolken im Bierschaum. »Pass auf, wenn wir wieder in Glasgow sind, höre ich auf mit dem Trinken, das verspreche ich dir.«
»Ich weiß.« Er versuchte zu lächeln.
»Ich suche mir einen Job wie andere Mütter.«
»Das wäre schön.«
Agnes zupfte an einem eingerissenen Nagel. »Dein Arsch von Vater wollte nie, dass ich arbeite. Die Frau gehört ins Haus und der ganze Quatsch.« Es stimmte: Shug hatte nicht geduldet, dass sie arbeiten ging, genauso wenig wie Brendan McGowan. Bei dem Katholiken war es eine Frage des Stolzes gewesen; McGowan arbeitete hart, um den Nachbarn zu zeigen, dass er seine Familie versorgen konnte. Bei Shug war es eine Frage des Vertrauens: Er wusste, dass man ihm nicht trauen konnte, und deshalb traute er auch keinem anderen, am wenigsten seiner eigenen Frau. Er wollte, dass sie zu Hause blieb, damit er immer wusste, wo sie war. Agnes’ Ehemänner hatten nie gewollt, dass sie arbeitete, und deshalb hatte sie nie ein Interesse daran entwickelt.
»Du bist zu gut für die Arbeit. Du bist zu schön.« Shuggie kannte seinen Text; sie hatten dieses Gespräch schon hundert Mal geführt. Die Worte klangen platt, aber sie schienen Agnes zu besänftigen. Doch dann sagte er etwas, das das Lächeln in ihrem Gesicht gefrieren ließ. »Aber wenn du doch arbeiten würdest, wäre das auch okay. Ich meine, wenn du irgendwo eine Nachtschicht bekommst, weil du meinetwegen nicht mehr zu Hause sein musst. Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
Agnes setzte sich auf und stürzte den Rest des Lagers herunter. Offenbar wollte sie das Thema wechseln. Shuggie sah zu, wie sie aus dem aussortierten Kleiderhaufen zwei Outfits zusammenstellte. Sie arrangierte den rosa Angorapullover und das Gangster-Outfit, aus dem er herausgewachsen war, zu einem Paar leerer Karnevalskostüme. Shuggie folgte ihr in die Küche, wo sie die Kleider auf Bügeln an das Trockengestell hängte. Dann zog sie das Gestell zur Decke. Oben drehten sich die Kleider, als wären sie lebendig, zwei Abbilder ihrer alten Ichs, die auf die neue Familie warteten.
»Die Frau heißt Susan«, sagte Agnes. »Sie ist nett. Sie hat vier Kinder, und ihr Mann ist Teppichverleger. Hat noch nie im Leben Stütze bekommen. Warte nur ab, bis sie den hier in die Finger kriegen.«
»Legen wir sie rein?«, fragte Shuggie mit schlechtem Gewissen.
Agnes rieb sich die Wange, als hätte sie Zahnschmerzen oder als drückte das Gebiss. Sie schenkte sich eine frische Tasse Lager ein. »Nein. Sie hat ein Auto und einen Mann. Es schien sie nicht zu stören, dass sie hier so weit draußen sind.«
Sie steckte den Finger in Shuggies Pulloverkragen, zog ihn herunter und rieb seine Haut, als kontrollierte sie, ob eine faule Hausfrau unter dem Teppich gesaugt hatte. Auf seiner schmalen Brust begann feines Haar zu sprießen. Sie fuhr mit dem Fingernagel darüber, aber sie erwähnte es nicht. »Du bist schrecklich bleich. Wann warst du das letzte Mal draußen?«
Er wollte ihr nicht von Francis McAvennie und dem Küchenmesser erzählen. Er wollte nicht zugeben, dass er seit dem Tag, als Francis gedroht hatte, ihn abzustechen, Angst hatte, vors Haus zu gehen. Doch er musste auch nichts sagen. Agnes’ Gedanken sprangen wie ein Diaprojektor. »Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an die Stadt. Du warst noch zu klein. Aber man kann tanzen gehen, es gibt alle möglichen Tanzlokale und große Einkaufsläden. Man kann die ganze Zeit unterwegs sein, weil so viel los ist.« Er hatte das Gefühl, er konnte zusehen, wie sich Agnes mit falscher Hoffnung aufpumpte, als versuchte sie sich mit künstlicher Aufregung aufzubauen. Doch sie wirkte sie so kraftlos wie Distelwolle. »Du erinnerst dich nicht. Aber du wirst schon sehen.«
»Ich freue mich.« Es war eine Lüge, aber nur eine halbe. Er durfte nicht zugeben, dass die Stadt ihm auch Angst machte, dieses riesige unkontrollierbare Ungeheuer: all die Alkoholiker, an die er sie verlieren konnte, all die dunklen Pubs, die Männer, die sie ausnutzten, die unbekannten Straßen, in denen sie verschwinden konnte. Pithead war wenigstens überschaubar. Sie hatten hier festgeklebt wie Fliegen am Fliegenfänger, auf vier Seiten von nichts umgeben. In Pithead konnte sie sich etwas antun, aber verloren gehen konnte sie nicht.
Shuggie versuchte, sich nicht in die Angst hineinzusteigern. »Wenn wir umziehen, versuchst du wirklich, mit dem Trinken aufzuhören?«
»Das habe ich doch gesagt, oder?«
In seinem Blick lag ein Hauch von Misstrauen; er konnte nichts dafür. Shuggie wandte sich zur Spüle und wusch das letzte Geschirr, um sein Gesicht zu verbergen.
Doch es war zu spät. »Nennst du mich eine verdammte Lügnerin?«
Sie hatte den ganzen Tag getrunken. Ihre Laune war wie Bodennebel, eine trübe, dunkle Suppe, aber wenigstens hatte es bisher nicht geregnet. Shuggie wollte die Wolken nicht anstechen und schlechtes Wetter provozieren. »Nein. Tut mir leid.«
Agnes drückte die Zigarette am Rand der Spüle aus. Sie nahm ihre Tasse und goss den Rest des Inhalts in den Ausguss. Die Bewegung war so schnell, so schwungvoll, dass Shuggie ein paar Spritzer abbekam und blinzelnd zurücktrat.
Dann öffnete Agnes den Schrank unter der Spüle und nahm die letzten zwei Carlsberg heraus. Sie drückte ihm eins in die Hand, das andere riss sie selbst auf. Sie hielt es über die Spüle, und das Bier floss in einem gurgelnden, plätschernden Strahl in den Abfluss. Als die Dose leer war und der letzte Rest des weißen hefigen Schaums wie feuchter Schnee in der Spüle verrann, warf sie sie in den Müll, aber sie traf daneben, und die Dose rollte scheppernd über das Linoleum. Shuggie zuckte erschrocken zusammen und hielt sich an der Arbeitsplatte fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Agnes lief wie von der Tarantel gestochen durchs Haus; er hörte, wie sie unter Möbel griff und sich hinter Schränke zwängte. Sie kam mit einem halben Dutzend Flaschen zurück, die ganzen vergessenen Wodkareste, die Schlucke, die noch übrig waren, wenn sie die Besinnung verloren hatte. Mit dramatischer Geste schüttete sie alles in den Abfluss.
So hatte Shuggie sie noch nie gesehen. Er hatte noch nie gesehen, dass sie genießbaren Alkohol wegkippte.
Bei den wenigen Malen, die sie versprochen hatte, trocken zu werden, hatte sie immer erst alles bis zum letzten Tropfen ausgetrunken, bevor sie mit dem harten Entzug begann, mit der Übelkeit und dem Zittern. Es hatte Phasen gegeben, in denen sie trocken wurde, weil sie keine Wahl hatte. In den Wochen, wenn kein Geld mehr da war, kein Mann ihr eine Tüte vom Laden mitbrachte und sie zur Enthaltsamkeit gezwungen war. Falls eine solche Phase donnerstags begann, hatte sie, bis montags das nächste Geld hereinkam, einen Vorsprung von vier Tagen. Shuggie fieberte jedes Mal mit. Aber der Alkohol blieb meistens Sieger. Er war wie ein grinsender Peiniger, der Agnes einen Vorsprung ließ, weil er wusste, dass er sie mit Leichtigkeit schnappen würde und sie wieder einknickte, wenn am folgenden Montag das Büchlein eingelöst wurde. Trotzdem fiel Shuggie jedes Mal darauf rein.
Er öffnete die letzte bronzefarbene Dose. Aus dem Augenwinkel beobachtete er sie, als er das Bier mit sanftem, zögerndem Plätschern in die Spüle kippte, bereit, jeden Moment abzubrechen.
Agnes sah ihn an und hob hochmütig den Kopf. »Glaubst du mir jetzt?«
Shuggie drückte sich den Daumen ins Auge, um sich zu fassen, um die hoffnungsvollen Tränen aufzuhalten. »Danke.«
Agnes zuckte zusammen, aber dann lächelte sie, ein schwaches, zitterndes Lächeln. »Ich höre mit dem Trinken auf. Ich sage nicht, dass es leicht wird, aber das ist das Beste an der Stadt. Die Leute wissen nichts von uns.« Sie zupfte eine Fluse von der Attrappe, die von der Decke baumelte. Ihre Doppelgänger schwangen über der stillen Küche. »Und du. Du kannst so sein wie die anderen Jungs. Wir können nagelneu sein.«