Nach der Abgeschiedenheit der Abraumhalden waren die Mietshäuser das Zentrum des Lebens. Die breite Straße wurde von klobigen Sandsteinfassaden gesäumt, und im Erdgeschoss gab es Hunderte kleine Geschäfte, alle zwei Kilometer ein Postamt, ungefähr eine Pommesbude pro Block, und unzählige Kleider- und Schuhläden, in denen Agnes anschreiben lassen konnte. Glänzende Autos blieben an Ampeln stehen, bevor sie in geduldigen Schlangen weiterkrochen; es gab Doppeldeckerbusse, immer zwei hintereinander, die an fast jedem Block hielten. Es gab ein Kino, eine Tanzhalle, einen großen grünen Park und mehr Kirchen und Gotteshäuser, als Shuggie je gesehen hatte. Auf den Bürgersteigen drängten sich Passanten, die Besorgungen machten, und keiner achtete auf den anderen. Sie gingen unabhängig ihrer Wege, in blinder, anonymer, selbstverständlicher Freiheit. Die Leute grüßten einander nicht einmal, und Shuggie hätte gewettet, dass keine zwei miteinander verwandt waren.
Der Umzugswagen bog ein paarmal scharf um die Ecke und tauchte in die engeren Seitenstraßen ein. Hier wirkte der Himmel weit weg, und die einzige Unterbrechung in der Wand der Fassaden waren die Ecken, an denen noch mehr Straßen mit noch mehr Mietshäusern abzweigten. Shuggie sah nach oben, er hatte das Gefühl, tief unter der Erde zu sein, am Grund eines Sandstein-Canyons. Dann hielten sie an, blockierten die Straße, und mit lautem Poltern ließen die Umzugshelfer der Anonymen Alkoholiker die Ladeklappe herunter. Agnes sah auf ihren Zettel, dann sah sie an dem Mietshaus hinauf. Es war ein graugelbes Gebäude in der Mitte einer Reihe identischer Fassaden. An der Tür waren acht Klingeln, und Agnes fand die für den dritten Stock.
»Das sind jetzt wir«, sagte sie und zeigte auf einen der Klingelknöpfe.
Eigentlich war der Junge schon zu alt, aber er ließ sie seine Hand halten, und sei es nur, damit sie in Schwung blieb und nicht auf die Idee kam, sich nach etwas zu trinken umzusehen. Shuggie hakte seine Hand in ihre, sie kam ihm plötzlich klein vor. Sie trug jeden Ring, den sie noch besaß, aber er spürte in ihrer Handfläche trotz des kühlen Metalls die Nervosität und die feuchtkalte Sucht.
»Versprechen wir uns, dass wir nagelneu sind. Versprechen wir uns, dass wir einfach normal sind«, flüsterte er, als sie Händchen haltend über die Schwelle traten wie Frischvermählte.
Der Eingangsbereich war sauber und kalt. Wände, Boden und Treppen sahen aus wie aus einem Stück Stein gehauen, und es roch, als hätte gerade jemand mit Bleiche durchgewischt. Langsam stiegen sie die steinerne Treppe hinauf und traten zur Seite, wenn die Männer mit den Kisten vorbeikamen. Auf jedem Stock gab es zwei Türen, die einander gegenüberlagen, jede Etage war gerecht und sauber aufgeteilt. Hinter manchen Türen knarrten Dielen, wenn sie vorbeigingen. Mit hoch erhobenem Kopf stieg Agnes weiter die Treppe hinauf.
Ihre Wohnung befand sich auf dem dritten steinernen Treppenabsatz rechts. Als sie eintraten, nahm Agnes mit einem Blick Bestand auf und zeigte wie eine Museumsführerin auf den Dreck, der noch übrig war, die Teppiche, die rausmussten, und die Fingerabdrücke an den Türrahmen. »Aye, sie war nicht sehr sauber«, sagte sie kühl. »Da wird sie sich in Pithead pudelwohl fühlen.«
Die neue Wohnung war klein. Sie hatte einen kurzen, L-förmigen Flur, und Shuggie fragte sich, wo Agnes den Telefontisch hinstellen würde. Zur Straße gab es ein großes Wohnzimmer mit Erker und daneben ein sehr kleines Schlafzimmer. Am anderen Ende des Flurs war die enge Küche und ein winziges Kinderzimmer. Shuggie maß das Kämmerchen mit den Füßen ab in der Hoffnung, dass zwei Betten hineinpassten, aber es war ausgeschlossen. Plötzlich fühlte es sich endgültig an, und er vermisste Leek.
Agnes stand am Erkerfenster und sah hinaus auf die Straße. Shuggie legte die Arme um sie, und die beiden nagelneuen Menschen gestatteten sich eine Minute, um ihren harmlosen, friedlichen Tagträumen nachzuhängen. Agnes kratzte sich mit der Fußspitze die Wade. Shuggie wusste, dass Frieden nicht in ihrer Natur lag.
Die Umzugsleute brauchten nicht lang, und als sie die letzte leere Kiste wieder mitgenommen hatten, zog Agnes ihren Mohairmantel an und versprach Shuggie, zum Mittagessen heißen Tee und Apfeltaschen zu besorgen. Shuggie schloss hinter ihr die Tür und ignorierte die Laufmasche an der Wade, die sie sich mit der Schnalle ihres Schuhs gerissen hatte. Er stand lange am Küchenfenster und starrte auf den grünen Hof. Die eingeschlossene Fläche hinter den Mietshäusern war durch mannshohe Mauern unterteilt, so dass jedes Haus ein gleich großes Rechteck schütteren Rasen hatte, auf dem das Betonhäuschen für die Mülltonnen stand.
In den Gartenstücken wimmelte es von Kindern, wie in einer Petrischale, in der Leben keimte. Die Höfe hallten vom Geschrei und Gelächter wider, die durch die Sandsteinmauern verstärkt wurden. Von Zeit zu Zeit brüllte ein Kind etwas zur Rückseite eines Mietshauses hinauf, und kurz danach öffnete sich ein Fenster und eine Tüte Chips oder ein Schlüssel flog drei Stockwerke nach unten.
Fast den ganzen Nachmittag saß Shuggie am Küchenfenster wie in einem Kolosseum und sah dem Geschehen zu, und er fragte sich dabei, wie es sich anfühlte, unbeschwert zu spielen und sorgenfrei zu sein. Er sah zu, wie die Kinder über Mauern kletterten und andere Höfe überfielen. Er sah, wie einander Köpfe eingeschlagen und Kleinkinder von Schuppendächern geschubst wurden. Hin und wieder ging ein Fenster auf, ein strenger Finger zeigte auf den schuldigen Gladiator, und das vor Wut und Angst zeternde Kind wurde für den Rest des Nachmittags nicht mehr gesehen.
Irgendwann langweilte Shuggie die Brutalität.
Solange er wartete, bis sie mit dem Essen zurückkam, nahm er sich das kleine rote Fußballbuch vor und begann zum hundertsten Mal auf Seite eins. Er war gerade bei den Ergebnissen von Arbroath, als er den neuen Schlüssel im Schloss hörte. Noch von seinem Platz am Küchenfenster aus wusste er sofort Bescheid.
»Hallo, Sohn.« Sie stand in der offenen Tür, ihr Blick war unstet, und ihr Lächeln war zu breit, zeigte zu viele Zähne.
»Ha-hast du getrunken?«, fragte er, obwohl er es schon wusste.
»N-nein.«
»Komm her. Lass mich mal riechen.« Shuggie ging durch die leere Küche auf sie zu.
»Riechen?«, wiederholte sie. »Für wen hältst du dich?«
Er wurde jeden Tag größer. Er packte sie am Ärmel und zog sie mit der Kraft eines Mannes an sich heran. Schwankend versuchte sie, ihren Arm wegzuziehen. Er schnüffelte. »Du hast es getan! Du hast getrunken.«
»Schau dich an. Du willst mir immer den ganzen Spaß verderben.« Agnes versuchte sich loszureißen. »Ich hatte bloß ein Gläschen mit meiner neuen Freundin Marie.«
»Marie? Du hast versprochen, dass wir hier nagelneu sind.«
»Sind wir doch! Das sind wir!« Langsam ging ihr der Sittenwächter auf die Nerven.
»Du hast gelogen. Du hast es nicht mal versucht. Wir sind keine neuen Menschen. Wir sind immer noch derselbe verdammte Schrott.« Shuggie zog so fest an ihrem Ärmel, dass sich der Pullover dehnte und ihr von der Schulter rutschte. Auf der weißen weichen Haut darunter zeichnete sich der schwarze BH-Träger ab. Er wollte danach greifen.
»Lass mich!« Kurz sah sie aus, als hätte sie Angst. Sie zog an ihrem Pullover und drehte sich so schnell aus seinem Griff, dass der Junge das Gleichgewicht verlor. Er krachte gegen die Wand und rutschte in der Ecke des Flurs auf den Boden.
Agnes murmelte vor sich hin. »Für wen hältst du dich, so mit mir zu reden?« Dann kam ihr ein Gedanke, und sie drehte sich wieder zu ihm um. »Für deinen Vater vielleicht? Hältst du dich für deinen beschissenen Vater?« Mit hässlichem Trotz zog sie den Kopf zurück, und dann zischte sie zu ihm herunter. »Träum weiter, Sonnenschein.«
Er sah ihr nach, als sie sich den Pullover über die Schulter zog und die Wohnung verließ, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Aus dem hallenden Treppenhaus hörte er, wie sie von Tür zu Tür ging. Sie klopfte an jede Wohnung, und wenn jemand aufmachte, stellte sie sich mit lallender Höflichkeit vor.
»Hallo. Tut mir SO leid, wenn ich störe. Ich bin Agnes. Ich bin die NEUE Nachbarin.«
Shuggie hörte, wie die guten Menschen aus dem Mietshaus erst zögerten und dann die seltsame Begrüßung erwiderten. Fast hörte er, wie sie Agnes von oben bis unten musterten, sie einordneten, sich ein Urteil bildeten. Die Frau mit dem selbstgefärbten pechschwarzen Haar in der glänzenden schwarzen Strumpfhose und den schwarzen Pumps, die schon mittags betrunken war.
Die Oberschule war größer als alle Schulen, die er je gesehen hatte. Er hatte gewartet und sich dann unauffällig einem Jungen angeschlossen, der weiter unten im Haus wohnte. Der Junge war sonnengebräunt wie frisch aus den Sommerferien. An den Straßenecken drehte er sich zu dem bleichen Jungen um, der ihm folgte wie ein streunender Hund, und sah ihn mit seinen großen braunen Augen misstrauisch an.
Shuggie hatte für den ersten Schultag das Bügelbrett aufgestellt und seine Schuluniform gebügelt. Die Hose war grau und aus Schurwolle, und darüber trug er einen schönen roten Pullover, den Agnes mit den Zigaretten-Coupons für ihn gekauft hatte. Er hatte beides gebügelt, bis die Kleider vollkommen flach und zweidimensional waren. Dann hatte er auch seine Socken und seine Unterhose gebügelt.
Als Shuggie hinter dem Jungen um eine Ecke bog, lag sie vor ihm. Die Schule war riesig und sah aus wie eine kleine Stadt: große Betonwürfel und -quader, die sich in verschiedenen Winkeln schnitten und von flacheren Kästen umgeben waren, wie Container, nur stabiler. Außen gab es keine Fenster, nur diesen Haufen gigantischer geometrischer Betonkörper mitten auf einer freien Fläche aus Asphalt und Stein und braunem Matsch.
Shuggie folgte dem Jungen durch den Haupteingang. Der Hof war groß und überfüllt. Die wogende Menge war überwiegend protestantenblau, mit etwas Weiß und wenig Rot. Fast jeder Junge trug ein Glasgow-Rangers-Trikot, eine Trainingsjacke oder wenigstens eine Sporttasche. Wo man hinsah, stand in großen weißen Buchstaben McEwan’s Lager. Shuggie schob die Hand in die Hosentasche und fühlte sich besser, als er das zerlesene rote Buch berührte.
Es klingelte, und er folgte dem Jungen durch ein paar Glastüren. Weil er nicht wusste, wo er sonst hingehen sollte, folgte er dem Jungen in die Klasse. Die Kinder nahmen ihre gewohnten Plätze ein und begannen lauthals durcheinanderzuschreien. Shuggie stellte seine Tasche auf einen Tisch ganz hinten und versuchte sich dahinter zu verstecken. Dann betrat ein kleiner Mann mit weißem Bart den Klassenraum. Er sah aus wie ein bissiger Terrier, und er sprach mit sehr lautem Glasweger Akzent. »Alles klah, Ruhe, Leute. Jetz haltnwa mah ganz schnell die Klappe. Über Ohrringe und Dauerwellen könnta später noch quatschen.« Er hielt inne. »Und das gilt auch für die Damen.«
Die Klasse schnaubte gelangweilt. Der Lehrer rief die Namen auf, und als er ans Ende der Liste gekommen war, schrien die Kinder wieder durcheinander. Er verschränkte die Arme, schloss die Augen und lehnte sich an die Tischkante, um noch fünf Minuten Schlaf abzustauben.
Shuggie streckte die Hand in die Luft, dann nahm er sie wieder herunter, dann streckte er sie wieder hoch. »Sir«, sagte er zu leise. »Sir!«
Der Lehrer öffnete die Augen und sah den Neuen an.
»Aye?«, fragte er, noch nicht vertraut mit den Gesichtern des Schuljahrs.
»Ich bin neu«, sagte Shuggie zu leise, um den Geräuschpegel zu übertönen.
»Dat sin hier alle, Junge«, sagte der Mann.
»Ich weiß. Aber ich glaube, ich bin eine Nachmeldung.« Er benutzte das Wort, das Agnes ihm eingetrichtert hatte.
Es wurde still im Raum. Dreißig Köpfe drehten sich zu ihm, Jungen mit Flaum über der Oberlippe und Mädchen, die schon den Körper von Frauen und das Gesicht voller kleiner weißer Pickel hatten. »Wat is?«, fragte der Lehrer mit dem Terrier-Gesicht.
»Ich bin … ich bin eine Nachmeldung, Sir. Ich komme von einer anderen Schule.« Jetzt war es ganz still im Saal.
»Oh«, sagte der Lehrer. »Und wie heißte?«
Bevor er antworten konnte, fing es an. Es begann mit Gemurmel, dann sagte es jemand laut, und aus dem Flüstern wurde schallendes Gelächter. »Heißt du Gaylord?«, fragte ein rattengesichtiger Junge in der ersten Reihe. Alle lachten.
»Big Bobby Bender?«, fragte der nächste.
Shuggie versuchte, sie zu übertönen. Sein Gesicht glühte rot. »Ich heiße Shuggie, Sir. Hugh Bain. Ich komme von der Saint Luke’s.«
»Watten dat fürne Stimme!«, sagte ein Junge mit kleinen Locken. Er riss die Augen auf, als hätte er den Läster-Jackpot geknackt. »Hey, du Schnösel. Wo haste dein Scheiß-Akzent her? Bist dun Balletttänzer oder so wat?«
Damit hatte er einen Volltreffer gelandet. Die anderen nahmen die Vorlage dankbar auf. »Tanz doch mah für uns!«, quiekten sie unter Gelächter. »Dreh dich, du Schwuchtel!«
Shuggie saß da und ließ sich auslachen. Er nahm das rote Fußballbuch und ließ es in die Schublade des fremden Pults fallen. Irgendwie war er erleichtert, dass er damit fertig war. Denn jetzt war klar: Keiner durfte ein nagelneuer Mensch werden.