Der Junge mit den braunen Augen, der unten im Mietshaus wohnte, klopfte an die Tür, als wären sie alte Freunde. Er hatte Shuggie in den Monaten, seit sie eingezogen waren, so gut er konnte, ignoriert. Doch als Shuggie jetzt die Tür aufmachte, nickte er nur zur Begrüßung und verlangte, dass er seine Jacke holte und mitkam.
»Warum?«, fragte Shuggie undankbar.
»Weil ich deine Hilfe brauch.« Der Junge mit den braunen Augen war schon die halbe Treppe runter.
Keir Weir bestand aus einer Palette warmer Farbtöne, die sorgfältig aufeinander abgestimmt zu sein schienen. Er war brauner als alle, die Shuggie kannte, und in seinem goldbraunen Haar glänzten Erinnerungen an eine Sonne, die kaum je darauf geschienen hatte. Seine Augen waren satt gemasert wie Walnussholz, und seine Lippen hatten einen üppigen Schwung, von dem Shuggie kaum den Blick reißen konnte. Ohne die ewige Rotznase und die von Fieberbläschen verschorfte Oberlippe hätte er wie ein Teenie-Sexsymbol ausgesehen.
Shuggie zog die Jacke über und folgte ihm wie ein gehorsamer Lakai. Als sie die Haustür erreichten, drehte Keir sich um und verstellte ihm den Weg. »Hömma, so kannste nich mit mir raus.«
Shuggie sah an sich herunter. Er trug, was er jeden Tag trug: alte wollene Schulhosen, alte schwarze Lederschuhe und einen blauen Anorak aus dem Katalog, der aussah wie eine von Agnes’ alten Jacken, in denen sie nicht einmal einkaufen gegangen wäre.
»Du blamierst mich. Besorgt deine Ma dir immer noch die Klamotten?« Keir schob die Hände unter Shuggies Anorak. Er griff ihm ins Kreuz und zog fest an den Schnüren zum Verstellen der Taille. Er zog, bis er Shuggie fast zerteilte und der Schoß abstand wie bei einem elisabethanischen Wams. Dann griff der braunäugige Junge nach seinem penibel gebügelten Kragen, stellte ihn auf und zog ruppig den Anorakreißverschluss bis oben zu, dass Shuggie das Gefühl hatte, er lugte aus einem Schornstein.
Shuggie legte den Kopf in den Nacken und redete über den Kragen hinweg. »Wo gehen wir hin?«
»Ich stell dirn pah Ladys vor. Dabei kannste nich aussehen wiene Schwulette.« Keir nahm einen billigen schwarzen Kamm aus der Gesäßtasche; ein Ende war bis zur Nutzlosigkeit abgekaut. Er spuckte schaumigen Speichel darauf und kratzte einen Scheitel in die Mitte von Shuggies Kopf. Shuggie zuckte entsetzt zurück, aber Keir legte ihm die Hand in den Nacken und hielt ihn fest. Es war die Geste, mit der in den Filmen, die Agnes gern sah, Männer Frauen an sich zogen. Keir bedeutete es nichts, aber Shuggies Augenhöhlen fingen an zu schwitzen.
Der Strich des krummen Kamms fühlte sich an, als hätte er ihm sauber und glatt den Schädel gespalten. Dann verwuschelte Keir Agnes’ ordentlichen Seitenscheitel und teilte Shuggies Haar in zwei schwere Vorhänge. »So!« Zufrieden tätschelte er Shuggies Hinterkopf. »Jetzt siehste mehr hardcore aus.« Er drehte sich um und trat auf die Straße. »Mach einfach, wat ich mache, dann gips keine Probleme, allet klah?«
»Okay.« Shuggie hastete hinter ihm her und überlegte, wie er Keir noch einmal dazu bringen könnte, ihn anzufassen.
Keir Weir marschierte o-beinig die Straße hinauf. Der untere Teil seines Gesichts war im Kragen seines Anoraks verborgen, und seine Hände steckten tief in seinen Taschen. Shuggie ging ein Stück hinter ihm her und versuchte den breitbeinigen Gang zu gehen, den Leek ihm einmal gezeigt hatte. »Wir treffen zwei Tussis. Die eine is meine Braut. Die andere is ihre Freundin. Isne heiße Schnitte«, sagte er. »Hast du schonne Braut?«
»Ja«, log Shuggie.
»Wen?«, fragte Keir. Über dem hohen Kragen seiner Jacke waren nur seine gerunzelte Stirn und die Augen zu sehen.
»Ein Mädchen, wo ich vorher gewohnt habe.«
»Ach ja? Und wie heißt die?«
Shuggie wusste nicht, ob Keir sich über ihn lustig machte. Es war schwer, sich zu unterhalten, wenn man den Mund des anderen nicht sah. »Äh«, stotterte er. »Hm. Madonna.« Kaum hatte er es gesagt, war er froh über den hohen Kragen. Er lief dunkelrot an.
Keir sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Ein Schatten glitt über sein Gesicht, als würde er bereuen, dass er Shuggie mitgenommen hatte. »Ach was.« Seine Brauen hoben sich in steilen Bögen über dem Kragen. »Haste überhaupt schon an ihr gefummelt?«
Hinter dem Sichtschutz rutschten Shuggies Mundwinkel nach unten. Er nickte langsam.
Shuggie hörte Keirs gelangweiltes Schnauben und sah seinen Haarvorhang im Luftzug aus dem Kragen flattern. »Also, die Freundin von meiner Braut is richtig versaut. Die lässt dich ran, wennde fragst.« Wieder grinste er. »Falls Madonna nix dagegen hat.« Er senkte eine Zigarette in den Kragen wie einen Eimer in einen Brunnenschacht. »Hauptsache, du sorgst dafür, dasse uns nich stört, klah?«
Sie folgten den Straßen mit den lohfarbenen Mietskasernen, vorbei an Hausfrauen, die Eimer mit Bleiche auf den Weg kippten. Keir machte Männerschritte, schnitt Ecken ab, sprang über Bänke und kleine Steinmauern. Er folgte der Luftlinie zu ihr. Shuggie musste laufen, um mit ihm Schritt zu halten. Keir wurde erst langsamer, als sie einen modernen Block erreichten. Er trat die zerknickte Zigarette aus und nahm einen Kaugummi aus der Tasche. Er schob ihn in den Mund und kaute schnell. Shuggie roch, wie die süße Pfefferminzschale zwischen seinen großen weißen Zähnen aufknackte. Keir kaute daran wie ein hungriger Hund, dann nahm er ihn wieder aus dem Mund. »Hier«, sagte er und hielt Shuggie den feuchten Kaugummi hin. »Damit du frisch für die Ladys bist.«
Shuggie blinzelte den grauen Kaugummi in den feuchten Fingern des Jungen an. Wieder war er froh über den hochgestellten Kragen, weil er unwillkürlich den Mund verzog.
»Jetz sei nich sone Scheißschwuchel. Da!« Keir hielt ihm den Kaugummi ins Gesicht. Widerwillig nahm ihn Shuggie und steckte ihn in den Mund. Der Kaugummi war schleimig und warm und schmeckte nach Pfefferminz, Bohnen und Zigaretten. Er stellte fest, dass es ihm nichts ausmachte; langsam rollte er ihn im Mund herum und saugte den Geschmack auf. Mit der Zungenspitze schob er sich den Rest von Keirs Spucke in die Tasche unter der Oberlippe, als könnte er ihn dort aufbewahren.
Sie stiegen die Treppe zu den Wohnungen im obersten Stock hinauf. Auf jedem Treppenabsatz war ein großer offener Balkon, und Shuggie blieb jedes Mal stehen, um wie ein Rentner die Aussicht zu genießen. Als sie oben waren, drehte Keir sich zu ihm um und zischte: »Und versuch, nich so schnöselig zu klingen, okay? Ich will nich, dasse uns auslachen.«
Keir drückte auf die Klingel neben einer Strukturglastür. Drinnen ging eine Tür auf, und blecherne Popmusik füllte den Flur. Durch das blasige Glas sahen sie eine Wolke blondes Haar näher kommen. In der Tür erschien ein kleines, reizloses Mädchen mit blasser Haut und großen grünen Augen, die hinter einer dicken rosa Brille versteckt waren. Ihr Haar war straff mit Gel nach hinten gezogen und schwang in einem großen, dauergewellten Pferdeschwanz hinter ihrem Kopf. Auf einer Seite trug sei eine ordentliche Reihe rosa Haarspängchen, die aussahen wie Schweinerippen.
Das Mädchen war etwas jünger als die beiden. Ihr unordentlicher Nagellack erinnerte Shuggie an die McAvennie-Mädchen, wenn sie in Colleens niedrigen Pumps herumstolperten. »Hi-yaa!«, sagte das Mädchen durch den Türspalt.
»Hi-ya, Schönheit.« Keir grinste schief. Er stemmte die Hand besitzergreifend gegen den Türrahmen.
Das Mädchen kicherte, dann musterte es Shuggie argwöhnisch. »Was wollt ihr?« Sie schloss die Tür ein wenig.
»Is deine Ma zu Hause?«, fragte Keir.
»Du weißt genau, dasse arbeiten is.«
»Können wirn bisschen reinkommen?«
»Nee.« Sie wand sich und schloss die Tür noch ein Stück.
»Warum nich?«
»Weil ichs sage. Meine Ma meint, sie haut mich windelweich, wenn ich dich nochma reinlasse, wennse arbeiten is.«
»Ach, komm schon.« Er zog sich die Schuhe aus.
»Nee«, quiekte sie albern. »Letztes Mal haste alles kaputt gemacht! Du hast auf die Klobrille und an die Wand gepinkelt. Meine Mutter is voll ausgerastet. Hat mir voll eine geklebt.« Sie schloss die Tür weiter, bis nur noch ihr Gesicht in den Spalt passte.
Eine Weile standen sie so da. Aus der Wohnung hörte man, wie eine Pop-Kassette umgedreht wurde. Keir sprach als erster wieder. »Ich hab dir was mitgebracht.« Er hielt ihr ein Stück in perlmuttglänzendes Zellophan gewickelte Seife hin; sie sah aus wie die billige Seife, die in hohen Stapeln auf dem Wochenmarkt verkauft wurde und über die Agnes die Nase rümpfte. An der Seite stand gut lesbar: Nicht für den Einzelverkauf bestimmt.
Sie streckte die kleine weiße Hand durch den Türspalt und nahm die Seife vorsichtig entgegen. Das Zellophan knisterte. Das Mädchen schnappte glücklich nach Luft, aber dann sagte sie: »Das ändert überhaupt nix.«
»Willste immer noch mit mir gehen?«
Sie sah das Seifenstück an und dann zurück zu dem großen Jungen. »Aye. Vielleicht.«
»Haste Lust, mit rauszukommen? Ne Weile abhängen und so?«
»Nee, du. Ich kannich«, sie schürzte die Lippen.
»Wieso nich?« Keir Weir sah sie, so gut er konnte, schmachtend an.
»Weil Leanne hier is, deswegen nich.«
Keir nickte und legte ihr den Plan vor, den er vorbereitet hatte. »Na ja, das hier is Shuggie. Er steht auf Leanne.« Shuggie trat aus dem Schatten des Treppenhauses. »Sie kann mitkommen und so.«
Das Mädchen riss die Augen auf. Dann quiekte sie, zog den kleinen Kopf ein und knallte die Glastür zu. Shuggie sah, wie die verzerrte blonde Wolke im Flur verschwand.
War das der Moment, der ihn am Ende normal machen würde? Das ganze Geh-Training, das ganze Rennen hinter dem Ball und Auswendiglernen alter Fußballergebnisse: alles für das hier.
Die Tür ging wieder auf, und zwei kleine Gesichter spähten heraus. Dann schlug die Tür wieder zu. Aus dem Flur klang wieherndes Gelächter. Keir trat nervös von einem Bein aufs andere. »Versuch, weniger schwul auszusehen, okay?«, zischte er, ohne sich umzudrehen.
Shuggie holte tief Luft, versuchte sich groß und breit zu machen, und dann zog er wie eine beleidigte Schildkröte das Gesicht in den Anorak ein. Die Tür ging wieder auf, diesmal weiter. Die beiden Mädchen standen hibbelig da. Leanne Kelly war einen Kopf größer als ihre Freundin und spähte über deren blonden dauergewellten Pferdeschwanz zu ihnen heraus. Sie biss die Zähne zusammen und trug weder Make-up noch irgendwelchen Schnickschnack in den Haaren. An der Art, wie sie vortrat und sich vor den Jungs aufbaute, merkte man, dass sie in einer Kolonie von Brüdern aufgewachsen war. Beim Reden öffnete sie kaum den Mund, als hütete sie ihre Zähne. Shuggie fand, ihre Augen sahen aus wie kleine wachsame Rosinen.
»Du willst auf mich stehen? Ich hab dich noch nie gesehen«, sagte sie direkt.
Shuggie war sprachlos, und Keir gab ihm einen festen Tritt gegen die Achillessehne. »Na ja, ich … ich hab einfach viel Gutes von dir gehört.«
Das Mädchen verzog argwöhnisch die Nase. »Wat denn?«
»Ich hab gehört, dass du sehr attraktiv bist.«
»Und warum redest du so komisch?«, fragte sie, ohne zu lächeln, die Nase immer noch gerunzelt. »Auf welcher Schule bist du?«
Das Mädchen kam noch einen Schritt heraus ins Treppenhaus, und im Tageslicht sah Shuggie, dass ihr Gesicht nicht schmutzig war, wie er erst gedacht hatte, sondern von tausend wunderschönen Sommersprossen übersät. Ihre Rosinenaugen zuckten und beäugten ihn misstrauisch. »Ich, äh, ich gehe auf die Schule die Straße rauf«, sagte er.
»Der Protestantenschuppen?«
»Ja.«
Das Mädchen seufzte, und ihre Nase glättete sich. »Schade. Ich gehe auf die Saint Mungo. Die ist für Katholiken.«
»Das ist okay. Meine Mutter ist katholisch. Ich bin halbe-halbe, nehme ich an.«
Ein dünnes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. »Spielt hier eh keine Rolle. Meine Brüder würden mir das Fell abziehen, wenn die wüssten, dass ich mittner dreckigen orangen Proddy-Töle rumziehe.«
Shuggie versuchte sich die Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Am liebsten hätte er laut aufgeatmet. Er hätte sagen können, dass er hauptsächlich katholisch war, dass er zur Kommunion gegangen war, aber stattdessen sagte er: »Oh. Na dann. Schade. War schön, dich kennenzulernen.« Er winkte höflich und drehte sich um. Am liebsten wäre er gerannt.
»Krieg dich wieder ein«, Leanne holte Luft. »Lass mich wenigstens meinen Scheißpullover holen.«
Es nieselte leicht, als sie wieder draußen auf den grauen Straßen waren. Sie gingen in ordentlichen Zweierreihen. Hin und her, hin und her, zwischen den identischen Mietshäusern. Erst spürte Shuggie, wie das Mädchen ihn verstohlen von der Seite beobachtete; dann starrte sie ihn offen an, mit demselben neugierigen Blick, mit dem er verhungernde afrikanische Babys im Fernsehen anstarrte. Ihr Mund stand offen, und sie wollte wegsehen, konnte aber nicht, weil sie von dem, was sie sah, zu verwirrt war. Nach einer Weile spielte sie gedankenverloren mit der Spitze ihres langen braunen Pferdeschwanzes.
»Du siehst komisch aus«, sagte sie endlich, als sie mit ihrer Einschätzung fertig war.
»Wie bitte?« Er fragte sich, wie lange es noch dauerte, bis er heimgehen konnte.
»Du hast kein Dad, oder?«
Shuggie drehte im Trichter des Anoraks den Kopf. »Wie kommst du darauf?«
»Seh ich dir an«, schnaubte sie wie eine gelangweilte Hellseherin. »Ich bin gut drin, solche Sachen zu erraten.«
»Mein Dad ist tot«, sagte er und fragte sich gleichzeitig, ob er es überhaupt wüsste, wenn es wahr wäre.
»Wirklich? Meiner auch!« Ihr Gesicht hellte sich auf. Dann sagte sie schnell hinterher: »Ich meine, tut mir leid. Voll traurig.«
Shuggie schüttelte den Haarvorhang. »Nein. Ich finde es super.«
Leanne kicherte. »Dat kannste doch nicht sagen. Gott hört alles.«
»Geht schon in Ordnung. Mein Dad war ein böser Mensch.«
Sie gingen ein Stück, bevor sie wieder sprach. »Stehste überhaupt auf Mädchen?«
»Ich weiß es nicht.« Es war ihm einfach herausgerutscht, fast wie ein Furz, und er bereute es sofort. Er wurde rot, und sein Blick huschte zu ihr. Sie war die beste Chance, ein normaler Junge zu werden, die er kriegen würde, und er hatte sie jetzt schon in den Sand gesetzt.
Aber das Mädchen seufzte nur. »Aye, ich auch nicht. Ich meine, ob ich auf Jungs stehe.« Sie überlegte einen Moment, dann fügte sie fast resigniert hinzu: »Willste trotzdem mit mir gehen? Du weißt schon. Nur fürs erste.«
»Okay«, sagte Shuggie. »Nur fürs erste.«
Sie schob die Hand in seine; ihre Hand war länger als seine, aber es gefiel ihm, sie fühlte sich sicher und warm an. Sie kamen an ein matschiges Rasenstück, auf dem blaubeinige Kinder Fußball spielten. Auf der anderen Seite war ein Maschendrahtzaun, und Keir und das blonde Mädchen zwängten sich durch eine Lücke.
Leanne blieb trotzig stehen und verschränkte die Arme vor der knochigen Brust. Er war beeindruckt vom Knirschen ihrer Zähne in ihrem engen Mund. »Dreckige Perverse!«, zischte sie. »Das is alles, was die wollen. Da reingehn und sich die dreckigen Gesichter ablutschen. Mir wird schlecht, wenn ich die aneinander rumgrapschen sehe. Seit die dreizehn is, isse sone richtige Nymphomanin.«
Die beiden sahen zu, wie Keir und sein Date sich auf dem Brachland zurückzogen. Dann sagte Shuggie: »Aber wenn wir nicht mitkommen, denken sie, wir wären komisch.«
Das Mädchen dachte eine Minute nach. Sie scharrte mit der Schuhspitze im Dreck. »Na und«, schmollte sie, »dann sag ich eben meinen Brüdern, die sollense alle machen.«
Keir drehte sich im hüfthohen Gras um und gab Shuggie ein Zeichen, den Arsch zu bewegen. Shuggie hielt den Draht zurück, und mit einem widerwilligen Seufzer bückte sich Leanne auf die Hälfte ihrer Körpergröße und schlüpfte durch die Lücke.
Auf der anderen Seite stieg die Wiese zu einem sanften verwilderten Hügel an. Jenseits der Kuppe bildete der Hang die Böschung der Autobahn nach Edinburgh. Der Verkehr brüllte weniger als zwanzig Meter von ihnen entfernt mit atemberaubender Geschwindigkeit vorbei. Sie stapften die Böschung entlang, bis sie eine Fußgängerbrücke erreichten. Nacheinander krochen die Kinder unter die Brücke und kletterten über die betonierte Schräge, die zur Straße hin steil abfiel. Es roch nach Pisse und Abgasen, aber es war trocken, und wenn sie sich direkt hinter einen der breiten Stützpfeiler setzten, hatten sie fast so etwas wie Privatsphäre.
Als die beiden Paare saßen, schwiegen sie nervös und sahen den vorbeirasenden Samstagsfahrern zu. Sie ließen Kiesel den Abhang herunterkullern und jubelten, wenn die Steine zwischen die Reifen der schnellen Autos gerieten und gefährlich über die Fahrbahn spritzten.
»Habter Kippen?«, fragte das blonde Mädchen. Sie bändigte eine widerspenstige Strähne mit einer Schweinerippe.
»Nee«, antwortete Keir.
»Oh Mann! Ich weiß echt nich, warum ich eigentlich deine Freundin bin«, stöhnte sie. »Stookie hat gesagt, wenn ich mit ihm gehe, gibt er uns jede Woche ein Päckchen. Stimmt doch, Leanne, oder?«
»Aye«, sagte das große Mädchen geistesabwesend.
Keir zuckte die Schultern; er nahm den Köder nicht auf. »Dann geh halt mit Stookie. Is mir doch egal.«
Es war eiskalt unter der Brücke, wo die schwache Sonne nicht hinkam, und Leanne begann vor Kälte zu schlottern. Shuggie zog seinen Anorak aus. Er sah zu, wie sie ihn mit einem dankbaren Lächeln anzog, und lachte, als ihre langen Arme weit aus den zu kurzen Ärmeln hervorstanden. Sie legte den langen Arm um ihn. So saßen sie eine Weile schweigend da und beobachteten den Verkehr. Als Shuggie sich umsah, lag Keir auf dem blonden Mädchen. Er hatte den Mund auf ihren gedrückt und klappte ihn auf und zu, als versuchte er, sich zu übergeben.
Shuggie sah, wie er dem Mädchen die lange dünne Hand unter das Sweatshirt schob. Keir presste sich an ihr Bein, seine Arschmuskeln spannten sich konzentriert, und Shuggie beobachtete, wie er den Kopf über ihrem Mund bewegte, als würde er an ihr herumkauen. Er stöhnte und rieb sich an ihr, während sich das Mädchen unter ihm unbeholfen wand. Shuggie ließ den Blick über die Adern auf dem Arm des Jungen gleiten, über die Wölbung seines Rückens und das Zucken seines Hinterns. Plötzlich schlug Keir die Augen auf und begegnete Shuggies hungrigem Blick. Der Umriss seines Munds war feucht und rot und wund. Er kniff die braunen Augen zusammen. »Glotzte etwa mein verdammten Arsch an?«
»Nein …« Shuggie drehte sich schnell weg. Der Verkehr war dünner geworden.
Die Brille des blonden Mädchens war beschlagen und saß ihr schief im Gesicht. Sie sah aus, als wäre sie überfallen worden. »Leanne, Schatz. Alles klar bei dir?« Ihre winzige Stimme hallte unter der Betonbrücke.
Frierend und gelangweilt zuckte Leanne die Schultern, ohne sich umzusehen. Die beiden saßen schweigend da und lauschten dem Liebespaar hinter ihnen. Keir redete als erstes wieder, absichtlich zu laut. »Siehste!«, sagte er zu dem Mädchen unter ihm. »Alle außer dir finden mich sexy.«
»Du bist son Arsch«, stöhnte das Mädchen, aber sie wand sich wieder unter ihm.
Keir spuckte einen zähen Rotzklumpen auf den Beton. Shuggie spürte seinen sengenden Blick im Nacken. Der Junge wandte er sich wieder dem Mädchen unter ihm zu. »Lässte michn bisschen fummeln?«, fragte er.
»Nee. Viel zu kalt.«
»Ach, bitte«, flehte er. »Ich puste meine Finger an, dasse wahm sind. Du musst noch nich mah die Hose ausziehen.«
»Nee.«
»Aber ich hab doch ich liebe dich gesagt. Und ich hab dir Seife gekauft.«
»Du hast die Seife geklaut«, entgegnete die Blonde, bevor sie seufzend sagte: »Na gut. Aber nurne Minute, und du musst erst die Finger aufwärmen.«
Shuggie wurde dunkelrot. Er spürte die Hitze, die er abstrahlte. Er nahm Keirs zerkauten Kamm aus der Tasche und schob sich das Ende langsam in den Mund. Der Kamm roch nach Zigaretten und Haargel. Er roch nach Keir.
»Wennde willst, kannste meinen Busen anfassen«, sagte Leanne neben ihm. »Ich meine, nur wennde willst.«
Er schüttelte den Kopf, ohne sie anzusehen. »Nein, danke.« Er ließ eine Handvoll kleiner grauer Steine die Böschung hinunter auf die Straße rollen.
Das Mädchen pulte an einem Stück grünem Moos. »Ich hab kein Bock, hier rumzusitzen und zu erfrieren.«
Shuggie zog den zerkauten Kamm aus dem Mund und wischte das nasse Ende an seiner Hose ab. Es hinterließ einen feuchten, dunklen Fleck auf seiner Hose. »Ich könnte dir die Haare kämmen, wenn du willst?«
Das Mädchen antwortete nicht, und er spürte, dass er wieder rot wurde. Dann seufzte sie und zog sich langsam das pelzige Gummi aus dem Pferdeschwanz, und das dünne, gerade Haar fiel ihr über die Ohren. Die Strenge in ihrem Gesicht wurde weicher. Ihre Brauen senkten sich, und die sommersprossige Stirn sah weniger straff und durchsichtig aus. Sie wirkte freundlicher und viel jünger. Shuggie nahm den Kamm und fuhr ihr damit der Länge nach durchs Haar. Das Braun war mehr als nur Braun. Es war eine Million glänzende Rottöne und ein Gemenge dunkler Kastanientöne. Ihr Haar glitt wie Seide durch seine Finger, jede Strähne war so leicht wie Spinnweben.
Sie saßen lange so da, lauschten dem ungeschickten Stöhnen hinter ihnen und beobachteten die Busse, die von und nach Edinburgh fuhren. Shuggie zog den Kamm sanft durch ihr Haar, und irgendwann schloss sie die Augen und legte den Kopf an seine Brust. »Trinkt deine Ma?«, fragte sie plötzlich.
»Manchmal. Ein bisschen«, sagte Shuggie. »Woher weißt du das?«
»Du siehst zu besorgt aus.« Sie hob die Hand und berührte seinen Nasenrücken. Sanft strich sie darüber. »Aber mach dir nichts draus. Meine säuft auch«, sagte sie. »Ich meine. Na ja, manchmal. Ein bisschen.«
Shuggie konzentrierte sich darauf, wie der Kamm durch ihr Haar glitt. Die Strähnen teilten sich wie Quellwasser. »Ich glaube, sie säuft sich tot.«
»Wärst du traurig?«, fragte das Mädchen.
Er hielt beim Kämmen inne. »Ich wäre völlig am Ende. Du nicht?«
Sie zuckte die Schulten. »Ich weiß nicht. Ich hab das Gefühl, genau das wollen Alkis eigentlich.« Sie zitterte. »Sterben, mein ich. Sie nehmen einfach nur den Umweg.«
Plötzlich löste sich etwas in ihm auf, als würde der alte Kleber, der seine Glieder zusammenhielt, nachgeben. Auf einmal waren seine Arme schwer, und die verknoteten Muskeln, die seine Schultern daran hinderten, sich auszubreiten, entwirrten sich. Er spürte, wie die Worte aus ihm heraussprudelten. Es tat gut, es ihr zu erzählen. Er hatte nicht gewusst, wie viel leichter er sich fühlen würde. »Es ist hart, nicht zu wissen, was einen am Abend erwartet.«
»Aye, aber ein warmes Abendessen isses nie, oder?«
»Nein«, gab Shuggie zu. Sein Magen verkrampfte sich, als er daran dachte. »Hast du viele Onkel?«
»Aye, natürlich«, sagte sie. »Ich bin doch katholisch.«
»Nein! Ich mein, du weißt schon, Onkel.«
»Ach die. Oje. Die bleiben nie lang, die arschigen Aasfresser. Am Ende verhauense sie immer, und dann verhauen meine Brüder die.« Sie gähnte, als wäre es zu gewöhnlich und nicht der Rede wert. »Mein Job ist, ihre Taschen zu filzen.«
»Im Ernst?« Ihre Dreistigkeit überraschte ihn.
»Aye. Ich nehmse aus. Jeden einzeln Penny.« Sie zuckte lässig die Schultern. »Muss ich. Meine Ma versäuft das ganze Haushaltsgeld.«
Shuggie zupfte lange Haare aus dem alten Kamm und wickelte sie sich nachdenklich um den Finger. »Ich frag mich, ob meine Mutter deine kennt.«
»Glaub ich nich.«
»Ich meine, von den Meetings. Von den Anonymen Alkoholikern«, sagte er.
»Nee. Den Scheiß hat die olle Moira lange hinter sich.« Sie schüttelte den Kopf. »Hat deine je versucht, dich zu Alateen zu schicken?«
»Nein. Was ist das?«
»So was wie die Anonymen Alkoholiker, nur für minderjährige Angehörige. Moira hat gesagt, es is ne Selbsthilfegruppe. Sie hat gesagt, die helfen mir, mit ihrer Krankheit zurechtzukommen.«
»Bist du hingegangen?«
Das Mädchen setzte sich auf und nahm ihr Haar in die Hand. »Einmal. Aber nie wieder. Wieso soll ich da hingehen, wenn sies selbst kaum zu ihren Meetings schafft. He?« Sieh zog die kurzen Ärmel über ihre blau gefrorenen Hände. »Und du hättest mal die bescheuerten kleinen Schnösel sehen sollen, die da waren. Wie die rumgeheult ham, dass ihre Mammy an Weihnachten den Eierlikör allegetrunken hat und vor der Bescherung eingeschlafen is.« Ein kaltes Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Da hab ich die Geschichte erzählt, wie meine Ma alle Geschenke selber aufgemacht hat und dann das Aftershave für mein Bruder mit ner Flasche Gingerale gemischt und getrunken hat. Da hätse mah die Gesichter sehen sollen.« Leanne grinste dämonisch und legte einen feinen Edinburgher Akzent auf: »Ich hätte gern einmal Obsession mit Cola light, bitte.«
»Cola light?«
»Ja, sie hat Angst, dasse zu dick wird.«
Shuggie lachte, dann hatte er ein schlechtes Gewissen. »Hat sie wirklich Aftershave getrunken?«
»Oh ja. Jedenfalls hatses versucht. Hat die ganze Flasche geleert. Hätse fast umgebracht. Die hat tagelang gekotzt.« Leanne rieb sich die kalten Beine. »Aber ihre Kotze hat echt gut gerochen.«
Ihr Lächeln verschwand; ihre Nasenspitze war vor Kälte lila. »Ein Jahr später hatses schlauer gemacht. Als die olle Moira Kelly Durst gekriegt hat, isse mitten paar von den Geschenken für Heiligabend ans Ende der Duke Street. Hat knietief im Schnee gestanden und das Zeug fürn Appel undn Ei am Straßenrand verscherbelt. Hatten Kassenrekorder für fünf Pfund undn kleinen tragbaren Farbfernseher für zwanzig Pfund verkloppt.«
»Tut mir leid.«
»Das Schlimmste ist, dass ich die Raten vom Katalog immer noch abzahle.«
Die Worte waren draußen, bevor ihm klar wurde, dass er laut geredet hatte. »Meine Mutter hat gestern Abend versucht, sich umzubringen.«
Leanne sah ihn an. »Hatse Pillen genommen?«
»Nein.«
»Sich die Handgelenke aufgeschnitten?«
»Nein«, er hielt inne. »Diesmal nicht.«
»Den Kopf innen Ofen gesteckt?«
»Nein. Das hat sie auch mal getan. Aber ich glaube, der Ofen in der neuen Wohnung ist elektrisch.«
»Ach, das hält die nich auf.« Leanne nahm eine Haarsträhne zwischen die Finger und inspizierte die gespaltenen Spitzen. »Das hat meine Ma mal gemacht, als ich aufm Schulausflug war. Ich war schön im Zoo von Edinburgh und hab Pinguine gekuckt, und als ich nach Hause kam, standen meine Brüder um sie rum und ham gelacht. Sie sah aus, als wärse zu lang im Solarium gewesen. Wollte sich umbringen, aber hat sich bloß das Gesicht gebacken. An der Hälfte ihrer Haare waren Grillstreifen vom Ofengitter.« Sie zupfte angestrengt an einem abgebrochenen Haar. »Es war echt schlimm. Hat sich auf einer Seite ne Krause gelötet, und auffer anderen gestreifte Locken.«
Shuggie musste lachen. Leanne kicherte leise, doch im nächsten Moment seufzte sie wieder. »Was hat deine gemacht?«
»Sie hat versucht, aus dem Fenster zu springen.« Er senkte den Blick. »Ohne Kleider.«
»Jesses«, das Mädchen pfiff durch die Zähne. »Das hat die olle Moira nie versucht. Zum Glück wohnen wir im Erdgeschoss.«
Shuggie rieb sich den Arm; die frischen Striemen des Kampfs brannten unter dem Pullover. Agnes hatte schon oben auf dem Fensterbrett gestanden. Es war eine neue Taktik, und sie hatte ihn zu Tode erschreckt. Erst hatte sie sich am Telefon hochgeschaukelt, und dann war es still geworden. Als er sie fand, saß sie rittlings auf der Fensterbank in der Küche, ein Bein drin, das andere draußen, die bloße Muschi auf dem Stein. Sie war splitternackt und schrie herum, und Shuggie musste seine ganze Kraft aufwenden, um sie wieder hereinzuziehen. Unter seinen Fingernägeln waren immer noch Hautfetzen von ihr. Ein müdes, klammes Gefühl überkam ihm. »Ich glaube, sie säuft sich bald tot, und ich hab das Gefühl, es ist meine Schuld.«
»Aye. Wahrscheinlich säuft sie sich tot«, sagte Leanne, als würden sie über das Wetter reden. »Aber wie gesagt, sie nimmt den Umweg, und du kannst nichts machen, um ihr zu helfen.«
Das verzweifelte Schlabbern hinter ihnen hörte auf. Leanne setzte sich ein Stück vor, das Haar so glänzend, als wäre es nass, ihr Gesicht ruhiger und freundlicher. Von der Autobahn zog kalte Luft zwischen ihnen herauf. Shuggie ließ ein kleines Knäuel ihres Haars die Böschung hinunterrollen, und plötzlich fühlte er sich einsam, als wollte er wieder ein kleiner Junge sein und auf Agnes’ Schoß sitzen.
Leanne drehte sich um und blickte ihn über die Kurve ihrer Schulter an. Im grellen Scheinwerferlicht sah er erst, wie hübsch ihre Augen waren, nicht nur braun, sondern gold und grün und ein trauriges flaches Grau. In dem Moment wusste er, dass er sein Versprechen nicht halten konnte. Er hatte Agnes angelogen, genauso wie sie ihn angelogen hatte, als sie sagte, sie würde mit dem Trinken aufhören. Sie würde nie trocken werden, und er, hier draußen in der Kälte mit einem bezaubernden Mädchen, wusste, dass er nie so sein würde wie normale Jungen.