Es war März, und sie hatte Geburtstag. Shuggie stahl zwei Bund verblühender Narzissen vom Paki-Laden für sie. Seit dem Nachmittag bei Leek versteckte er die Couponbücher und sorgte dafür, dass sie genug zu essen hatten, bevor sie sich ihre wöchentlichen Getränke kaufte.
Seit Weihnachten hatte er heimlich etwas von dem Geld für den Gaszähler zurückbehalten, um ihr zum Geburtstag ein paar Pfund Spielgeld für die Bingohalle zu schenken. Sie hatte sich den Umschlag mit den Münzen an die Brust gedrückt, als wären es die Kronjuwelen. Sie hatte sich riesig darüber gefreut.
Als die Polizei sie am nächsten Morgen nach Hause brachte, hing der ekelhafte süßliche Pollengeruch der welken Narzissen in der Luft. Man hatte sie aufgegriffen, als sie ziellos am Ufer des Clyde herumgewandert war. Sie hatte ihre Schuhe und den guten lila Mantel verloren. Sie hatte es nicht einmal bis zur Bingohalle geschafft.
Agnes konnte Shuggie vor Scham nicht in die Augen sehen, und er konnte ihr nicht in die Augen sehen, weil er sich für seine eigene Dummheit schämte. Nach der kalten Märznacht im Freien rasselten ihre Lungen feucht, und Shuggie ließ ihr ein heißes Bad ein, in das er großzügig Kochsalz streute. Er bügelte und legte ihr frische Kleider hin. Er kochte ihr Tee mit Milch, den er ihr vor die Badezimmertür stellte, dann ging er, ohne dass sie ein Wort miteinander geredet hatten.
In seiner Schuluniform rannte er mit den anderen Kindern über die Hauptstraße und war überrascht, als er in seinem Anorak zwei Fünfzig-Pence-Stücke aus dem Gaszähler klimpern hörte. Wie angewurzelt blieb er stehen. Er drehte die Münzen in der Hand. Dann stieg er in den ersten Bus, der vorbeikam, und fragte den Fahrer, wie weit sein Geld ihn brachte.
Die Aussicht vom sechzehnten Stock des Sighthill-Hochhauses gab ihm das Gefühl, winzig klein zu sein. Die Stadt brodelte unter ihm, und er hatte nicht einmal die Hälfte davon gesehen. Shuggie schob die Beine durch die Formziegel der Waschküche und blickte hinaus auf die unendliche Ausdehnung der Stadt. Stundenlang sah er zu, wie sich die orangen Busse durch die grauen Sandsteinstraßen schlängelten. Er sah, wie bleierne Regenwolken die gotischen Türme des Krankenhauses verdunkelten, während anderswo widerspenstige Sonnenstrahlen die Glas- und Stahlflächen der Universität zum Leben erweckten.
Seine Arme und Beine baumelten schwer über der Stadt, aber er fand den Umschlag in seiner Jackentasche und zog ihn heraus, um ihn zum hundertsten Mal zu lesen. Der Brief hatte keinen Absender, nur einen Poststempel von Barrow-in-Furness. Shuggie wusste nicht, wo Barrow-in-Furness lag, aber es klang nicht wie ein Ort in Schottland.
Es war eine Weihnachtskarte, die zwei Monate zu spät angekommen war. Leek hatte in einer anderen Stadt Arbeit gefunden. Sie bauten neue Häuser, und sie brauchten junge Männer, die sich auf alle Gewerke verstanden: Fliesenlegen, Verputzen, Dachdecken. Leek sagte, er verdiene anständig und er wisse nicht, wann er zurückkam. Zur Kunstschule ging er noch nicht, nächstes Jahr vielleicht, oder das Jahr danach. Dafür hatte er ein nettes Mädchen kennengelernt, sie arbeitete in einer Teestube, und sie machten gern Wanderungen in einer Landschaft, die sich Heide nannte. In der Karte klebte ein Zwanzig-Pfund-Schein, nagelneu, druckfrisch und nie gefaltet. Shuggie hatte lange über das Geld nachgedacht. Er erlaubte sich einen kurzen Tagtraum, in dem Leek an irgendeinem fernen Busbahnhof auf ihn wartete. Dann gab er das Geld für frisches Fleisch aus und überraschte Agnes mit einem großen Eintopf.
In der Weihnachtskarte hatte noch etwas gelegen; ein liniertes Blatt aus einem Schulheft mit einer Bleistiftzeichnung. Ein kleiner Junge saß im Schneidersitz am Fuß eines ungemachten Betts mit dem Rücken zum Künstler, und in der Lücke zwischen Schlafanzughemd und Hose war sein nacktes Kreuz zu sehen. Was immer den Jungen beschäftigte, lag verborgen auf der anderen Seite, in der gekrümmten Kuhle seines Körpers. Der Junge war hoch konzentriert, sein Gesicht im Schatten, und er sah aus, als spielte er mit kleinen Spielzeugpferden, vielleicht Holzspielzeug, Ritter oder Trojaner. Doch Shuggie wusste, was sie wirklich waren, es waren die parfümierten Plastikponys, bunt und kitschig und für kleine Mädchen. Es waren die Regenbogenponys, und Leek hatte es gewusst. Leek hatte es immer gewusst.
Der kalte Nordwind heulte um die betonierte Waschküche und kniff Shuggie in die rote Nase. Als er es nicht mehr aushielt, schob er die Karte wieder in die Jacke und trat den Heimweg an.
Zu Hause brannten alle Lichter. Die geklauten Narzissen welkten immer noch vor sich hin, und es roch nach Hefe und der Fäulnis der Gefangenschaft. Shuggie lauschte dem Summen in der Leitung, bevor er den liegengebliebenen Hörer wieder auf die Gabel legte. Sie hatte sich keine Pause gegönnt; der rote Stift lag auf dem Telefonbuch, und er sah die frischen Striche durch alte Namen.
Agnes saß schlafend im Sessel. Sie sah aus wie eine geschmolzene Kerze, die Beine leblos, der Kopf zur Seite gesackt. Er ging um den Sessel herum und schüttelte die versteckten Tennent’s-Dosen, um zu ermessen, wie viel sie getrunken hatte. Er hielt die Wodkaflasche ans Licht und maß den Rest. Es war fast nichts übrig.
In der Stille lauschte er ihrem bewusstlosen Husten, dann würgte sie, und ein Rinnsal zähflüssiger Galle erschien auf ihren Lippen. Shuggie griff in ihren Pulloverärmel und nahm behutsam, um sie nicht zu wecken, das Klopapierknäuel heraus. Mit geübter Hand griff er ihr in den Mund und strich den Bronchialschleim und die Galle heraus. Er wischte ihren Mund sauber und ließ ihren Kopf sicher zurück auf die linke Schulter sinken.
Es spürte die Leere in seinem Bauch. Sie saß unter dem Magen; sie ging tiefer als Hunger. Er setzte sich zu ihren Füßen auf den Boden und begann leise mit ihr zu sprechen. »Ich liebe dich, Mammy. Es tut mir leid, dass ich dir gestern Nacht nicht helfen konnte.«
Sachte hob Shuggie ihren Fuß, öffnete die winzige Schnalle des Fesselriemens, dann streifte er ihr einen Pumps nach dem anderen ab und zog vorsichtig die verstärkte Spitze der schwarzen Strumpfhose aus den Zwischenräumen ihrer Zehen. Liebevoll rieb er die Ballen ihrer kalten Füße, und dann legte er einen Fuß nach dem anderen sanft auf den Boden.
»Ich war heute in Sighthill«, flüsterte er. »Ich habe über die ganze Stadt gesehen.«
Er stellte ihre Schuhe neben den Sessel und richtete sich über ihr auf. Geübt ertastete er unter ihren weichen, hängenden Brüsten die Mitte ihres Brustkorbs und öffnete durch den dünnen Pullover die Schmetterlingsschließe ihres BHs. Er sah, wie ihre schweren Brüste befreit herausquollen.
»Du hast bestimmt gerne dort oben gewohnt. Es gab so viel zu sehen«, flüsterte er. »Mir war ganz schwindelig von der Vorstellung.«
Er fand ihre BH-Träger und hakte die Finger hinein. Dann zog er sie über ihre Schultern und erlöste ihren Körper aus der Enge des Nylons, das sich in ihr Fleisch fraß. Agnes bewegte sich, aber sie wachte nicht auf. Sie hustete wieder, ein tiefsitzender feuchter Husten, der von den Bergmannshäusern und dem Schimmel kam, von warmem Lager und der Nacht am Fluss. Shuggie rieb ihr Brustbein und fragte sich, ob es in den Ausnüchterungszellen sehr kalt war. Ihr Kopf rollte nach hinten auf die weiche Sessellehne, und er legte ihr rasch die Finger auf die Schläfen, instinktiv, und neigte ihren Kopf wieder sicher nach vorn.
»Ich gehe so schnell wie möglich von der Schule ab. Du musst gar nicht streiten. Ich brauche einen Job, um uns hier rauszukriegen«, sagte er. »Ich würde gerne mal mit dir nach Edinburgh fahren. Und wir könnten uns Fife ansehen, und sogar Aberdeen. Vielleicht schaffe ich es sogar, genug Geld für einen Wohnwagen zu sparen. Meinst du nicht, dann könntest du es vielleicht schaffen?« Shuggie lächelte auf ihr bewusstloses Gesicht herunter. »Was meinst du?«
Eine Weile lauschte er ihrem Atem, dann griff er an die Seite ihres Rocks und öffnete den Reißverschluss. Er ließ sich leicht abstreifen, und ihr weicher Bauch hob sich dankbar, wie Brotteig, der aufging.
»Nein? Wahrscheinlich nicht«, flüsterte er.
Shuggie griff in ihren schnarchenden Mund und nahm mit einem feuchten Schmatzen die beiden Gebisshälften heraus. Er wickelte sie in Klopapier und legte sie ordentlich auf die Armlehne. Mit weichen Fingern massierte er ihren Kopf und zog Schlangenlinien durch ihr schwarzes Haar. Er kraulte ihre Kopfhaut so, wie sie es mochte. Die Ansätze waren erschreckend weiß.
Agnes hustete wieder, ein trockener Auswurf in ihrer Kehle, der tief aus dem Bauch zu wallen schien und plötzlich schwer und dick wurde. Wieder rann ihr Schleim über die Lippen. Shuggie unterbrach die Kopfmassage und griff nach dem Klopapier, aber etwas ließ ihn zögern. Er sah zu, wie sie hustete. »Vielleicht hat Leek recht.«
Sie gurgelte wieder, und ihr Kopf kippte zurück auf die weiche Sessellehne. Agnes würgte, und er sah zu, wie die Galle über ihr nacktes Zahnfleisch und die angemalten Lippen blubberte. Shuggie stand da und lauschte ihrem Atem. Erst wurde er schwerer, zäh und verstopft. Unbewusst zogen sich ihre Brauen zusammen, als hätte sie unangenehme Neuigkeiten erhalten. Dann lief ein Zittern durch ihren Körper, nicht stark, nur als säße sie hinten in einem Taxi, das über die holprige Pit Road rumpelte. Fast hätte er reagiert, hätte wieder die Finger benutzt, um ihr zu helfen, aber dann zischte ihr Atem langsam aus; ihr Atem verhallte einfach, als wäre er aufgestanden und hätte sie verlassen. Danach veränderte sich ihr Gesicht, die Sorgen lösten sich auf, und endlich sah sie friedlich aus, sanft davongetragen, tief im Rausch.
Jetzt war es zu spät, noch etwas zu tun.
Trotzdem schüttelte er sie, aber sie wachte nicht mehr auf.
Er schüttelte sie wieder, und dann weinte er lange um seine Mutter, lange nachdem Agnes zu atmen aufgehört hatte. Es nutzte nichts.
Es war zu spät.
Shuggie richtete, so gut er konnte, ihr Haar. Er versuchte, das dreiste Weiß ihrer Ansätze zu kaschieren und Agnes so zu frisieren, wie sie sich gefiel. Er wickelte das Gebiss wieder aus und schob es ihr sanft in den Mund. Dann wischte er ihr mit Klopapier den Speichel vom Kinn und zog ihre Lippen nach, wobei er darauf achte, dass er auch die Mundwinkel ausmalte und nicht über die Ränder malte. Er stand auf und trocknete sich die Augen. Sie sah aus, als schliefe sie. Dann beugte er sich vor und küsste sie ein letztes Mal.