Eigentlich gab es nicht viel Staub, aber Shuggie verbrachte den Morgen damit, Agnes’ Porzellanfiguren zu putzen. Beim Umzug in Mrs Bakhshs Zimmer hatte das kleine Kitz ein Stück vom Ohr verloren, und dem schönen Mädchen, das die rosigen McIntosh-Äpfel verkaufte, war ein ganzer Arm abgebrochen, der immer noch einen roten Apfel in der Hand hielt. Wochenlang bekam Shuggie Bauchschmerzen, wenn er die Figuren ansah. Jetzt war er besonders behutsam, als er jede einzelne zärtlich abwischte und sie dann an ihren Platz zurückstellte.
An diesem Morgen nahm er das langbeinige Kitz und drehte es vorsichtig in der Hand. Er wusste, dass am linken Ohr ein Stück fehlte, aber als er näher hinsah, fiel ihm auf, dass an den von Wimpern umkränzten Augen die Farbe ausbleichte und die weißen Tupfen auf den Flanken verblassten. Es machte ihn wütend. Er hatte immer so gut aufgepasst. Er hatte doch immer sein Bestes gegeben.
Shuggie drückte die Figur, bis seine Knöchel weiß wurden. Das Kitz strahlte weiter sein friedliches Lächeln. Er drückte gegen den niedlichen Vorderlauf, erst sanft, dann fester, bis das Porzellan nachgab. Mit einem scheußlichen knirschenden Knacken gab das Material nach. Shuggie hielt den Atem an. Unter dem glänzenden Lack war das Porzellan rau und kreidig. Er fuhr mit dem Finger über die scharfe Bruchkante. Dann, ohne nachzudenken, drückte er noch einmal und noch einmal, bis er alle Beine abgebrochen hatte. Als die Scherben in seiner Hand lagen, merkte er, dass er den Anblick nicht ertrug. Er warf das zerbrochene Kitz in die Lücke zwischen dem Kopfende seines Betts und der Wand. Dann nahm er hastig seine Jacke und die Tüte mit dem Dosenfisch, den er bei Kilfeathers gekauft hatte, schloss sein Zimmer ab und ging hinaus in den strömenden Regen.
Wie in Trance wanderte Shuggie auf die Hauptstraße zu. Die Pakistanis stellten trotz des Regens Kisten mit braunem Gemüse vor ihre Läden. Aus der Bollywood-Videothek dröhnte schrille Musik; in den Fenstern hingen grelle Poster von dunkelhäutigen Männern, die rehäugige Frauen in leidenschaftlichen Umarmungen hielten. Shuggie blieb einen Moment stehen, um sie anzusehen, dann ging er unbeachtet weiter.
Er stieg in einen orangen Doppeldecker, und der Fahrer stellte ihm mit einem lauten Katschung eine lange weiße Fahrkarte aus, halber Preis für Kinder. Shuggie ging die Treppe hoch und besetzte einen der letzten trockenen Plätze auf dem Oberdeck. Der Bus kroch durch den zähen Verkehr, aber Shuggie hatte es nicht eilig. Er wischte sich an der beschlagenen Scheibe ein Guckloch frei und sah zu, wie sich die Stadt auflöste. Mit einem Zittern bog der Bus nach rechts in eine verlassene Siedlung. Die Giebelseiten halb abgerissener Mietshäuser waren den Elementen ausgesetzt. Über den Schutthalden wirkten die buntgestrichenen Wohnzimmer und tapezierten Flure nackt und peinlich berührt. In einem Hinterhof flatterte noch Wäsche an einer Leine, die stolz zwischen zwei provisorischen Pfosten gespannt war. In einem anderen Hof kickten Kinder fröhlich einen Ball, während um sie herum ganze Häuserblöcke abgerissen wurden.
Der Bus rumpelte über den Clyde. Der graue Koloss des Finnieston Crane ragte einsam und ausrangiert über dem Fluss auf und spiegelte sich im Wasser. Shuggie wischte wieder die beschlagene Scheibe frei und dachte an Catherine. Wenn er die rostenden Kräne sah, musste er immer an sie denken. Catherine war nicht zu Agnes’ Beerdigung nach Hause gekommen. Sie hatte zu Leek gesagt, der es Shuggie später erzählt hatte, dass sie ihre Mutter lieber aus den guten Zeiten in Erinnerung behielt. Zu sehen, was der Alkohol aus ihr gemacht hatte, würde ihr nicht guttun. Als Shuggie jetzt die Kräne ansah, stellte er fest, dass er sich kaum noch an Catherines Gesicht erinnerte. Er fragte sich, was Catherine sah, wenn sie an ihre Mutter dachte. Vielleicht sah sie nur schöne Dinge.
Sie hatten Agnes an einem hellen kalten Morgen verbrannt.
Shuggie hatte fast zwei Tage an ihrer Seite gesessen. Nachts hatte er sie zugedeckt, und am nächsten Morgen hatte er die Decke wieder zurückgeschlagen. Er hatte die Heizung aufgedreht, als sie kalt wurde, aber es nutzte nichts, ihre Haut konnte die Wärme nicht mehr halten. Er hatte Leek in seinem Wohnheim im Süden angerufen, um ihm zu sagen, dass ihre Mutter tot war. Leek hatte lange gewartet, bis Shuggie zu weinen aufhörte, und dann hatte er ihm erklärt, was Shuggie tun musste, Schritt für Schritt, und dann hatte er es ganz langsam und geduldig noch einmal wiederholt, bis Shuggie sich alles in Agnes’ Telefonbuch aufgeschrieben hatte. Es war lieb von Leek gewesen, dachte Shuggie später, dass er nicht die Geduld verloren hatte.
Leek kam mit dem Nachtbus herauf. Er reiste all die Kilometer an, und dann blieb er drei Meter vor Agnes’ Leichnam stehen. Er schaffte es einfach nicht, zu ihr zu gehen. Leek überließ es Shuggie, sich um ihre Mutter zu kümmern, und sah nur zu, als sein Bruder beim Bestatter auf dem Teppich kniete und ein paar billige Strasssteine auseinandernahm und zusammenklebte, bis er ein Paar Ohrringe gebastelt hatte, die beinahe aussahen, als gehörten sie zusammen.
Leek organisierte die Einäscherung. Shuggie lief die ganze Woche hinter ihm her, zu müde, um zu weinen, zu betäubt, um zu helfen. Vom Amt zum Bestatter zur Kirche lief er hinter ihm her, bleich und nutzlos und stumm. Mehrmals hielt Leek inne mit dem, was er tat, und drehte sich zu seinem Bruder um. Er sagte nichts, ließ leeren Raum, damit Shuggie beichten konnte, was ihm so schwer auf der Seele lag. Shuggie versuchte es, er wollte Leek erzählen, was passiert war, aber die Worte kamen nicht raus, er konnte es nicht zugeben. Er sagte immer nur, dass er müde gewesen sei, dass er wünschte, er hätte sich mehr angestrengt.
Das Sozialamt zahlte für die Einäscherung, aber sie übernahmen die Kosten der Bestattung nicht, weil in Wullies und Lizzies Grab kein Platz mehr war. Leek hielt Agnes’ Tod aus der Zeitung heraus; es gab keine Anzeige in der Evening Times. Doch eine Frau im Mietshaus nebenan war manchmal mit Agnes bei den AA gewesen, also machte die Nachricht die Runde, und Fremde klingelten an der Tür. Dann gelangte die Nachricht ihres Todes bis nach Pithead, und all die alten Dämonen kamen hinaus zum Daldowie-Krematorium.
Big Shug ließ sich nicht bei Agnes’ Einäscherung blicken. Der einzige schwarze Hackney, der nach Daldowie fuhr, war Eugenes, obwohl Big Shug mit Sicherheit durch Catherine oder Rascal von ihrem Tod erfahren hatte. Diesmal hatte Shuggie einen Rucksack mit sauberen Kleidern gepackt, nur für den Fall, und am Ende kam er sich deswegen albern vor. Während der Messe suchte er die Gesichter nach dem seines Vaters ab, aber Shug kam nicht.
Leek sah Shuggie mit finsterem Blick an, als ärgerte ihn Shuggies Hoffnung, als wäre er enttäuscht, dass Shuggie so töricht war, den Glauben nicht aufzugeben. Er sagte, Big Shug sei ein egoistischer Drecksack. Es hatte Shuggie traurig gemacht, nicht nur, weil es stimmte, sondern auch, weil Leek, als er es sagte, ihrer Mutter so ähnlich sah.
Im Krematorium hatten sich die Trauernden an den Rand und in die hinteren Reihen gesetzt. Nur Shuggie und Leek saßen vorne. Eugene saß an der Tür, zwischen Colleen und Bridie. Jinty, die schon einen im Tee hatte, hing am Arm des jungen Lamby. Als Shuggie sich umdrehte, fiel ihm auf, dass keiner von ihnen wirklich traurig aussah. Während sie Agnes in die Verbrennungskammer schoben, hörte er hinter sich eine Frauenstimme flüstern: »Verbrennen? Bei der alten Saufnase kriegense das Feuer doch nie wieder aus.«
Bis dahin hatte Shuggie nicht richtig über die Einäscherung nachgedacht. Doch als sie den Sarg auf die Rollen stellten, musste er an das Fließband im Supermarkt denken. Jetzt dämmerte es ihm. Auf einmal wurde er unruhig, reckte den Hals und versuchte hektisch zu erspähen, wo sie als nächstes hinkam. Als er seinen Bruder ansah, nickte Leek nur ganz ruhig und sagte: »Aye, das wars dann wohl.«
Die Worte hatte Leek früher immer benutzt, wenn sie zusahen, wie Agnes in einen Hackney stieg. »Das wars dann wohl«, hatte er gesagt, und dann war er grinsend hinter dem Vorhang hervorgekommen und hatte seinen kleinen Bruder vor dem laufenden Fernseher gefoltert.
Das wars dann wohl.
An den nackten Bäumen vor dem Krematorium sprossen weiße Knospen, und über dem Gedenkgarten hing der Geruch tauender Vegetation. Ein paar der Trauergäste kamen über den Rasen, um den Jungen ihr Beileid auszusprechen. Die Mutigeren kamen persönlich; andere, wie Colleen, schickten Vertreter, in ihrem Fall Bridie. Jinty hatte Schwierigkeiten, den feuchten Boden zu überqueren. Sie sah bestürzt aus, als Leek sagte, es gebe keinen Empfang, keinen Alkohol zum Feiern.
»Was, keinen Tropfen?«, fragte sie.
»Verarschst du mich?«, knurrte er zurück und knirschte mit den falschen Schneidezähnen.
Eugene nahm Jinty am Arm und führte sie weg. Er kam noch einmal zu Agnes’ Söhnen zurück und sagte etwas Nettes. Leek drehte sich einfach weg.
Shuggie legte den Kopf an das Busfenster und versuchte nicht mehr an die Beerdigung zu denken. Seine Finger trennten ein paar Münzen voneinander. Er nahm sich vor, Leek später anzurufen, von dem Münzsprecher in Mrs Bakhshs Wohnung. Er wusste inzwischen, wie es lief: Shuggie durfte nach dem frisch geborenen Baby fragen, aber nicht nach der Kunstschule. Und wenn Leek fragte, wie es Shuggie ging, würde er antworten, alles war gut, weil es das war, was sein Bruder hören wollte. Beide würden so tun, als ginge es ihnen gut, und sie würden eine Weile reden, über eine Zugfahrkarte und einen Besuch im Süden, etwas Kleines, Fernes, worauf man sich freuen konnte. Dann würde Leek einsilbig werden. Shuggie wusste, dass Leek nie gern viel geredet hatte. Auf eine Art war es gut; von dem gierigen Münztelefon in England anzurufen war teuer, und Mrs Bakhsh weigerte sich, den Mietern ein eigenes Telefon legen zu lassen.
Der Bus rumpelte weiter. Die Werften am Clyde waren stillgelegt. Der breite Fluss war ruhig und leer bis auf einen einsamen Bootsmann in einem kleinen Boot. Die reflektierenden Streifen an seinem Anorak leuchteten im Dauerregen hell wie Diamanten. Alle kannten den Bootsmann; er war immer auf der Titelseite des Glaswegian, der kostenlosen Zeitung. Wie vor ihm sein Vater patrouillierte er ohne Unterlass den River Clyde. Er rettete die alten Männer, die im Vollrausch am Glasgow Green in den Fluss fielen. Manchmal zog er auch die Leichen der Männer und Frauen heraus, die nicht gerettet werden wollten, die leise, entschlossen von einer der Steinbrücken ins brackige Wasser sprangen.
Shuggie stieg an der Haltestelle hinter dem Hauptbahnhof aus dem Bus. Selbst unter der dicken Schicht Dreck und Taubenscheiße sahen die genieteten Glasbögen des Bahnhofs stolz und imposant aus. Die gläserne Masse spannte sich über einen Teil der Argyle Street, so dass die breite Straße einen dunklen Tunnel bildete. Dort reihten sich Fish-and-Chips-Shops und leuchtende Jeansläden mit Sonderangeboten aneinander, ein fensterloses Pub, das in den frühen Morgenstunden aufmachte und mittags schon völlig verraucht war. Shuggie blieb vor einer Bäckerei stehen. Die Öfen leuchteten hell und warm, und es duftete nach Weißbrot und billigem Zuckerguss.
Manchmal stand er einfach hier und verbummelte eine Stunde, tat so, als wartete er auf einen Bus, während er sich in Wirklichkeit in der zuckrigen Wolke aus dem Lüfter wärmte. Einmal ertappte er sich dabei, wie er den Taxistand gegenüber beobachtete. Er war leicht in die Knie gegangen und hatte blinzelnd versucht, die Gesichter der Taxifahrer auszumachen, bis ihm klar wurde, was er da tat. Beschämt hatte er sich aufgerichtet und war schnell weggegangen.
Jetzt betrat Shuggie die Bäckerei. Eine Schlange nassgeregneter Büroangestellter tropfte vor ihm auf die Vitrine mit den heißen Pasteten. Geduldig wartete Shuggie, und in der süßen Hitze wurden seine Lider schwer. Die Verkäuferin mit den rosigen Wangen kratzte sich durch das Haarnetz am Hinterkopf, und er bestellte zwei Erdbeertörtchen. Als sie die Törtchen in eine Papiertüte schob, verschmierte die glänzende Marmelade und das Papier klebte am Guss fest. »Entschuldigen Sie, Missus. Können Sie sie bitte in eine Schachtel legen?«
»Inne Schachtel komm immer vier, Junge«, sagte sie mit verschwitzter, gelangweilter Miene.
Shuggie faltete sich den Fünf-Pfund-Schein um die Finger. Er bekam erst nächste Woche wieder Geld, aber er sagte: »Na gut. Dann nehme ich vier, bitte. Sie sind ein Geschenk.«
Die Frau schnaubte, aber sie war nicht unfreundlich. »Hättse gleich sagen sollen, Casanova. Ich wusst ja nich, dasse die Spendierhosen anhast.«
»So ist es gar nicht«, murmelte Shuggie und drückte das Kinn an die Brust.
Mit zwei geschickten Bewegungen aus dem Handgelenk klappte die Frau eine Schachtel auf. Die roten Törtchen sahen aus wie vier rubinrote Herzen. Er bezahlte, zog die Kapuze über den Kopf und ging wieder raus in die Plörre. Das Geld machte, was es immer machte: jetzt, da der Fünfer angebrochen war, stand er plötzlich in einem kleinen Laden und gab die Münzen für eine große Flasche Ingwerlimonade aus. Dann wanderte er mit dem Dosenfisch und den roten Herzen die ganze lange Straße entlang. Er kam durch den alten Teil von Merchant City, ging weiter über die Trongate, bis er in die Saltmarket Street bog und plötzlich wieder am breiten Fluss stand. Er ging ein Stück am leeren Ufer entlang, bis er das Ende der Shipbank Lane erreichte. Unter dem Bahnübergang von Saint Enoch drängten sich Gruppen von Männern in T-Shirt-Ärmeln und dünnen Anzugjacken. Zitternd und klimpernd verhökerten sie auf flachgedrückten Pappkartons Raubkopien von Videokassetten. Die Frauen, die mit Taschen voller Secondhand-Kleidung vom Markt aus der Gasse kamen, ignorierten sie.
Sie war da, genau wie sie gesagt hatte.
Sie saß gegenüber dem Markteingang auf einem niedrigen Geländer, als wäre sie dort festgerostet. Im sanften Regen hing ihr langes Haar schnurgerade herunter, und die großen Kreolen ließen sie kindlicher wirken, als sie war. Es tat Shuggie weh, sie so verhärmt und angespannt zu sehen. Als er sie kennengelernt hatte, mit Keir Weir in dem Jahr vor Agnes’ Tod, hatte sie noch eine trotzige Verwegenheit besessen. Sie war witzig gewesen, und frech, doch inzwischen wusste er, dass alles nur kindliche Fassade gewesen war und die mutwillige Kühnheit die verletzte Seele dahinter verbergen sollte. Jetzt hatten sich ihre hübschen, sommersprossigen Züge zu einer verschlossenen, misstrauischen Miene verfestigt. Die Lippen fast immer zusammengekniffen, die rosinenfarbenen Augen stets in Alarmbereitschaft. Da war eine verknöcherte Härte, die sie wie eine Rüstung trug, doch sie vergaß zu häufig, sie wieder abzulegen.
»Du hast dir ganz schön Zeit gelassen. Ich bin bis auffe Knochen aufgeweicht«, sagte Leanne Kelly. Zwischen ihren Beinen verschanzt standen mehrere Einkaufstüten.
»Tut mir leid«, sagte Shuggie. Er kletterte neben seine Freundin aufs Geländer und setzte sich genauso hin wie sie. Dann glich er seine Haltung mit ihrer ab und passte sich ihr an. Inzwischen war er so groß wie sie, vielleicht sogar größer. Er streckte die Hand aus und rieb ihr Handgelenk, das immer aus den zu kurzen Ärmeln hervorsah. »Was willst du machen? Spazieren gehen?«
Leanne grinste. »Zum Glück knutschen wir nicht.« Sie spuckte ihren grauen Kaugummi in die Pfütze. »Du bist so was von vorhersehbar.«
»Tut mir leid.«
Sie streichelte sein Gesicht, dann gab sie ihm einen Schubs. »War doch nur Spaß. Klar gehn wir spazieren, was solln wir sonst machen?« Sie sammelte die Tüten zu ihren Füßen ein. »Lass mich nur erst das hier erledigen, okay?«
Er wusste, was sie vorhatte. Wäre Agnes noch am Leben, hätte er noch die Möglichkeit, würde er für seine Mutter dasselbe tun. Trotzdem konnte er sich nicht zurückhalten, als er sah, wie sich Leanne besorgt auf die Lippe biss. »Ach, Leanne. Komm schon. Wenn ich so einen Quatsch täte, würdest du es mir auch ausreden wollen. Es bringt nichts. Tut mir echt leid, aber es bringt einfach nichts.«
Sie schnitt ihm das Wort ab. »Hör auf. Das weiß ich selber, verdammt.« Leanne warf einen finsteren Blick zu den Regenwolken, als wären sie eine Frechheit, die sie einfach wegschicken konnte. »Außerdem weiß ich eh nich, ob ich sie sehe.«
Trotz des Nieselregens herrschte viel Betrieb auf Paddy’s Market. Die Gasse führte an den stillgelegten Gleisen entlang, und in den verlassenen Eisenbahnbögen drängten sich Stände mit Kinderkleidern, buntgeblümten Liegestühlen und Nachttischlampen in grellen Fußballfarben. Die Händler nutzten jeden Quadratzentimeter, selbst an den rußigen Mauern hingen Kleider, und die Klapptische waren über und über mit seltsamen Figuren und alten Armbanduhren bedeckt. Waren quollen auf die enge Gasse hinaus, wo die angebotenen alten Möbel längst nass und vom Regen ruiniert waren.
Shuggie beobachtete eine blonde junge Frau mit schwarzen Haaransätzen. Sie hockte über einem Haufen Zeug, das offenbar all ihr Hab und Gut darstellte, alles sorgfältig auf dem matschigen Boden ausgebreitet. Er dachte, dass Agnes den Markt gleichzeitig gehasst und geliebt hätte.
Leanne reichte ihm einen Styroporbecher mit Tee, und als er den Deckel abnahm, sah er, dass er schon kalt und trüb war. Beim Anblick des milchigen Films bekam er ein schlechtes Gewissen, dass er sie so lange warten lassen hatte.
»Heute wäre Agnes fünfzig geworden«, bemerkte er. »Auch wenn sie es natürlich nie zugegeben hätte.«
Shuggie präsentierte Leanne die Flasche Ingwerlimonade wie der arrogante Sommelier, den er mal im Fernsehen gesehen hatte. »Ich dachte, wir könnten ihren Geburtstag feiern. Uns mal was gönnen.« Er lächelte, als er ihr die Schachtel mit den süßen Erdbeertörtchen reichte. Beeindruckt seufzend klappte sie den Deckel auf, und er stellte enttäuscht fest, dass blutrote Marmelade am Deckel klebte. »Ach, Mist! Ich habe sie so vorsichtig getragen.«
Leanne gab ihm einen Schubs mit der Schulter. »Ist doch egal. Die sind wunderschön.«
Die Törtchen, die vor einer Stunde noch so hübsch gewesen waren, lagen zerdrückt und aufgeweicht zwischen ihnen. Shuggie griff in die Schachtel und nahm sich eins. Er wollte, dass sie verschwanden. Er formte die Hand zu einer Schaufel und schob sich das Törtchen ganz in den Mund. Die süße klebrige Marmelade und die warme Sahne füllten seinen Mund, so dass er kaum Luft bekam. Er schlang das Törtchen herunter und fühlte sich besser, als er das Gewicht im Bauch spürte. Dann wollte er nach dem zweiten greifen, aber Leanne zog die Schachtel weg und schrie: »Finger weg! Das sind meine, du gieriger Hund.«
Shuggie lachte; er war froh, dass sie weniger ernst aussah. Er verschmierte die Marmeladenreste an seinem Mund wie Lippenstift und schnitt breite Grimassen. Leanne stieß ihn weg. Langsam und bedächtig aß sie zwei Törtchen, indem sie sorgfältig die Marmelade von der Sahne trennte und Shuggie den Shortbread-Boden, den sie nicht mochte, zurückgab, damit er ihn aufaß. Dann schloss sie über dem letzten Törtchen den Deckel.
Sie saßen aneinandergedrängt auf der Stange, während der Regen aufhörte und wieder anfing, aufhörte und anfing, und tranken kalten Tee und süße Ingwerlimonade und redeten und warteten auf etwas, das vielleicht nicht passierte. Leanne erzählte zuerst. »Stell dir vor, unser Calum hat ein Mädchen aus Springburn geschwängert.«
Er nahm eine Handvoll ihres feinen Haars und kämmte es mit den Fingern. Dann klemmte er es zwischen Zeigefinger und Daumen und drückte wie bei einer alten Wäschemangel quietschend die Feuchtigkeit heraus. »Ist das der über dir?«
»Nee, Calum is zwei über mir, zwischen Stevie und Malky. Er sieht ganz gut aus, aber er issn bisschen dumm, deswegen müssen wir immer auf ihn aufpassen. Der steckt seinen Senkel überall rein.«
»Reizend.«
»Aye. Letzte Ostern hatter anscheinend samstags beim Tanzen ne Ische kennengelernt, und wies aussieht, warse schwanger, bevor am Sonntag die Kirchtür aufging.« Leanne schüttelte den Kopf über die Dummheit ihres Bruders. »Gestern Abend stand ihr Vater bei uns vor der Tür. Hatte uns im Telefonbuch gefunden. Malky hat Calum windelweich geprügelt, als ers rausgefunden hat. Nich weil er die Kleine geschwängert hat, sondern weil er so doof war, ihr seinen Nachnamen zu sagen.« Leanne griff ebenfalls nach einer ihrer Haarsträhnen und suchte nach gespaltenen Spitzen. »Calum konnt sich nich mah an ihren Vornamen erinnern, geschweige denn wiese aussah. Du hätts mah sein Gesicht sehen sollen, als er sie wiedergesehen hat. Der wär auf der Straße glatt an ihr vorbeigelaufen. Und jetzt wird er Papa. Der Vollidiot.«
Shuggie hörte die Frau, bevor Leanne sie sah. Es war das mädchenhafte Lachen, zu jung für eine alte Frau, und es klang hohl und gezwungen, als spielte sie jemandem etwas vor. Shuggie hätte sie am liebsten ignoriert; er überlegte, ob er Leanne ablenken und auf den Fluss zeigen sollte, weg von der lachenden Frau. Als er seine Freundin ansah, kaute sie an der Haut ihres Daumennagels und machte sich Gedanken wegen des Inhalts ihrer Plastiktüten. Er zog ihre Hand weg, doch es war kaum noch Haut an den Fingern. Er schaffte es nicht, sie anzulügen, also seufzte er nur und zeigte auf die Frau. Und dann seufzte auch Leanne.
Die Frau hatte sie noch nicht gesehen. Sie schlang die bleiche Hand durch den Arm eines der kurzärmeligen Gassenmänner, dessen junger Mund sich über dem zahnlosen Kiefer kräuselte. Selbst von der anderen Straßenseite hörte Shuggie über dem Markttreiben, wie sie den jungen Hehler um ein bisschen Gesellschaft angurrte. Mit nassen Lippen sagte er einsilbig nee, und Shuggie sah, wie er sich mit harten, zwickenden Fingern aus ihrem Griff befreite. Der Typ schlenderte davon und ließ sie allein stehen.
Shuggie und Leanne beobachteten sie eine Weile; die Frau sah aus, als wäre sie in der Mitte der Gasse steckengeblieben und wüsste nicht, wo es langging. Sie wirkte noch heruntergekommener als bei Shuggies letzter Begegnung mit ihr. Die mausbraunen Locken waren zu einer graumelierten strähnigen Matte verfilzt, und ihr Gesicht war von roten und blauen geplatzten Äderchen bedeckt. Sie trug kornblumenblauen Lidschatten und eine Spur von leuchtendem rosa Lippenstift. Es tröstete Shuggie, dass sie noch hautfarbene Strumpfhosen trug, auch wenn sie eine Laufmasche hatte, aber wenigstens stand sie mit geschlossenen Knien einigermaßen sittsam da.
Leanne verdrehte die Augen. Er sah, dass sie all ihre Kräfte brauchte, um auf sie zuzugehen. Sie rutschte vom Zaun und griff nach den Tüten zu ihren Füßen. Eine der Plastiktüten enthielt zusammengelegte Wäsche und frische Unterwäsche, die schon lange nicht mehr weiß war. In der anderen war süßes weiches Essen, Babyjoghurt und Gläser mit Apfelbrei. Shuggie fiel sein eigener Beitrag wieder ein, und er nahm die Tüte mit den zerbeulten Fischdosen aus der Tasche. »Du hast gesagt, die isst sie gern.«
Leanne öffnete die Tüte und spähte hinein.
»Danke, Shuggie.« Sie drehte die Lachsdose um. »Aber sie lebt auf der Straße. Wo soll sie einen Dosenöffner herkriegen?« Dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf. »Tut mir leid. Das war voll undankbar.« Leanne atmete langsam aus und schwang die kleine Tüte wie einen Morgenstern. »Die olle Moira findet schon einen weg. Den findet sie immer.«
Leanne überquerte die Straße und ging auf ihre Mutter zu, die immer noch am Eingang des Markts stand. Shuggie sah, wie die Frau das Mädchen registrierte und die braunen Augen verdrehte. Als er die Familienähnlichkeit sah, musste er lächeln.
Sie begrüßten einander ohne Wärme. Es hatte einen Moment zu nieseln aufgehört, und Mrs Kelly folgte Leanne aus Paddy’s Market heraus auf die Uferseite der Straße. Shuggie drückte einen alten Pappkarton platt und legte ihn über das nasse Geländer. Er ließ die beiden nah beieinandersitzen, und sie beobachteten den Bootsmann, der das Wasser absuchte, ohne dass ihm je gedankt wurde.
»Ich kannten pah von den armen Dingern, diese hier rausgefischt ham«, sagte Moira Kelly. »Hat denen nich die kleinste Kleinigkeit abgenommen. Jede nasse Kippe steckte noch inne Tasche, jeder Claddagh-Ring. Hat kein einzigen Penny eingesteckt. Dassis mah was, oder?«
Leanne öffnete die Törtchenschachtel und bot ihrer Mutter das letzte an. Shuggie versuchte nicht hinzusehen, als die Frau mit den Fingern nach einem Brocken Marmelade griff und ihn sich in den gespitzten Mund steckte. Ihre Augen saßen tief in den eingefallenen Höhlen, als hätte sie wieder nicht gegessen. Der Erdbeerzucker glänzte in ihren Mundwinkeln wie Lipgloss, und es sah obszön aus.
»Sitznwan ganzen Tag hier rum?«, fragte sie ohne ein Wort des Danks.
»Warum sitzen wir nicht nochen bisschen?« Leanne schob ihrer Mutter die Schachtel auf den Schoß, versuchte sie mit dem Zuckerzeug zu ködern, wie man einen Hund mit einer Dose Fleisch anlockt. Die Frau war sturzbetrunken, aber sie nahm das letzte Törtchen und drückte die Zunge tief in die freiliegende Sahne. Er sah, dass ihr an der Seite ein paar Zähne fehlten, Zähne, die im Herbst noch da gewesen waren. Sie hatte Sahne an den Fingerknöcheln, und sie leckte sich vielsagend den Finger ab. Leanne schien froh, sie essen zu sehen, aber Shuggie war der Anblick zu vulgär. Als sein Blick auf Mrs Kellys kaputte Stumpfhosen und die Gänsehaut darunter fiel, sehnte er sich plötzlich nach seiner Mutter.
Sie saßen eine Weile zusammen, und Shuggie beobachtete den Fluss, während Leanne ihrer Mutter von dem Theater erzählte, das ihre fünf Brüder täglich auf die Beine stellten. Mehrmals lachte Mrs Kelly über den Unsinn, den die Kelly-Jungs trieben, und sagte: »Zum Glück bin ich nich da und muss die Scheiße wegmachen.«
Wenn sie solche Dinge sagte, zwang sich Shuggie, weiter auf den Fluss zu starren, damit sie sein Gesicht nicht sahen. Dann erzählte ihr Leanne, dass sie bald Großmutter wurde. Shuggie spürte, wie das Geländer wackelte, als Leannes Mutter mit den Schultern zuckte.
Als Leanne nichts mehr zu erzählen hatte, bat sie ihre Mutter, sich hinzustellen. Sie ließ Shuggie als Sichtschutz Mrs Kellys alten Mantel hochhalten; während die Frau von einem Bein aufs andere sprang, zog Leanne ihr unter dem Rock die Strumpfhose und die schmutzige Unterhose aus. Die Frau mochte es nicht, bemuttert zu werden. Sie meckerte vor sich hin und verdrehte die Augen, als sie Shuggie ansah. Shuggie hielt den Blick fest auf den nassen Asphalt gerichtet.
»Ich versteh dich nicht, Junge. Du solltest an Mädchen rumfummeln und hoch die Tassen. Nich der ollen Moira hinnerherlaufen.«
»Ich bin nicht Ihretwegen hier, Mrs Kelly«, murmelte er. Er hob den Mantel höher, als könnte er sich damit vor ihrem Blick schützen.
Die Frau ließ sich nicht beirren. »Tja, dann sollt ich mich eben da drüben amüsiern, statt hier nackig Fandango zu tanzen fürn komischen Vogel wie dich.«
Leanne war immer noch auf den Knien. Sie schnallte ihr die Schuhe wieder zu. »Shuggie hat dir Lachs mitgebracht. Sei nich so frech.«
»Na, dann beeil dich mah. Heut ist Zahltag. Sonst ham die Kerls die Kohle verprasst, bevorse mir einen ausgeben könn«, zischte Mrs Kelly und hopste wie ein ungeduldiges Kind.
Shuggie hatte Mrs Kelly nichts zu sagen, aber Leanne zuliebe wollte er sie noch einen Moment bei Laune halten. »Und? Was haben Sie gemacht, seit ich Sie das letzte Mal gesehen habe?«
Mrs Kelly machte sich über ihn lustig. »Ach, es war einfach ein himmmmmlischer Frühling. Nich wahr?« Dann zog sie eine genervte Schnute. »Neugieriger kleiner Pinscher, was?« Einen Moment schien sie nicht mehr zu sagen zu haben. Dann zog sie die Mundwinkel nach unten und wurde giftig. Sie hatte doch etwas zu erzählen, und jetzt war sie froh, dass sie Publikum hatte. »Hier! Ich bin noch mah mitm lütten Tommy zusammengekommen.« Unwillkürlich rieb sie sich das Kinn, wo die Zähne fehlten, in Erinnerung an den unbekannten Mann. »Wah nich schlecht. Der hatten pah Geschäfte am Laufen oben hintern Caley-Werken. Früher hatter mich immer richtig verwöhnt. Is von Pub zu Pub getappert und hat getan, als wäre er blind. So blind, dass er den Tresen nach seinem Glas abfingern musste.« Mrs Kelly schüttelte sich vor Lachen. »Hat sich immer schön an annern Leutn ihrn Whisky bedient, bis sie rausgefunn ham, dass seine Scheißaugen in Ordnung warn.«
Sie lachte vor sich hin. Shuggie sah, dass es Leanne glücklich machte, sie lachen zu sehen. Er sah es an ihrem Blick, als sie zu ihrer Mutter aufsah, und daran, dass sich ihr zusammengepresster Mund entspannte. Aber der Moment verging schnell. Leanne schien sich selbst dabei zu ertappen und versuchte, ihre Rüstung wieder anzulegen. Es war, als hätte sie mit einem verzogenen Kind geschimpft, aber das Kind hätte seinen Charme spielen lassen, und sie wäre wider besseres Wissen eingeknickt.
Mrs Kelly hatte es auch bemerkt. »Siehste, ich binnen guter Kumpel. Du freust dich doch, wennde die olle Moira siehst, oder?« Mrs Kelly rieb ihrer Tochter die Schulter. »Aye, ich hab dich immer aufheitern könn.«
Leanne sagte nichts, um sie nicht zu ermutigen. Shuggie ließ den Mantel sinken und sah wieder zu dem Bootsmann hinaus. Mrs Kelly betastete ihren schmerzenden Kiefer und fragte schließlich: »Und, gibts vielleicht ne Chance, dassern bisschen Kohle fürn kleines Stärkungsmittel für mich habt?«
»Nein.« Shuggie schüttelte den Kopf.
Sie saugte an den Zahnlücken. »Aye, gut. Fragen kost ja nix, oder?«
Er hielt ihr den letzten Schluck Ingwerlimonade hin. Sie starrte das süße Getränk finster an, als hätte er sie beleidigt, aber dann griff sie doch zu. Leanne und Shuggie hatten es langsam genossen, aber Mrs Kelly kippte die Flasche herunter, als wäre sie völlig ausgedörrt. Shuggie sah den fettigen roten Lippenstiftabdruck am Flaschenhals. Er versuchte sich auf die Zunge zu beißen, aber er konnte sich nicht beherrschen. »Warum tun Sie sich das an?«
Leanne hörte auf, die schmutzige Wäsche in die Plastiktüten zu stopfen, und setzte sich zurück auf die Hacken. Sie sah wieder zu ihrer Mutter hinauf, als wollte sie ihre Antwort auf keinen Fall verpassen.
»Wer sagt denn, dass mir das Trinken kein Spaß macht?« Mrs Kelly verzog den Mund und riss Shuggie den Mantel aus der Hand. »Ihr seid doch bloß neidisch. Ich amüsier mich wenixens! Machten Tag viel besser, wemmern bisschen tanzt. Dann sind die öden Stellen nich so doof.« Sie zog den Lippenstift aus der Tasche. Er war bis zum Röhrchen abgenutzt, und sie drückte zu fest und malte über ihre Lippen hinaus. Shuggie versuchte den grellen Rosaton zu ignorieren.
»Ihre Tochter liebt Sie«, sagte er.
»Shuggie!«, rief Leanne.
»Oh, dutzi-dutzi, schmus-schmus«, schnaubte Mrs Kelly und klopfte sich auf die Brust, um einen Rülpser zu lösen. »Tja, wisster, was ich denke? Ich denke, je mehr du einen liebst, desto mehr veraschter dich. Die tun immer weniger das, wasde willst, und immer mehr, was ihnen passt, die Arschgeigen.« Wieder trommelte sie sich auf die Brust, und diesmal kam der Rülpser heraus.
Leanne raffte grob die alte Wäsche zusammen und stand mit einem müden Seufzer auf. Sie stellte sich zwischen den Jungen und ihre Mutter. Shuggie sah, dass ihre Wangen feuerrot und ihre Augen feucht waren, und sie kaute wieder an ihrer Lippe. Er drehte sich weg und sah zu dem Bootsmann hinaus.
»Bald sinn die Pubs voll«, sagte Mrs Kelly und knöpfte ihren Mantel zu. »Die Vorstellung is vorbei.«
»Du bist echt charmant!« Leanne trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk. Dann redete sie mit Mrs Kelly wie mit einem Kind, dass wieder draußen spielen wollte, bevor es dunkel wurde. Sie wusste, dass sie sie nicht aufhalten konnte. »Na schön, Moira, ab mit dir. Aber versuch, auf dich aufzupassen, ja? Ich such dich mal wieder.«
»Wenn’s sein muss.«
Shuggie hatte unwillkürlich die Fäuste geballt. Dann trat er einen Schritt vor und schob die Hände in Mrs Kellys Mantel. Er schlang die Arme um ihre Taille und tastete ihre weiche Mitte ab, bis er das vertraute feuchtglatte Viskosegewebe fand. Grob zog er an ihrem Unterrock, bis er wieder ordentlich und korrekt unter ihren Kleidern saß.
Mrs Kelly hatte vor Schreck den Mund aufgerissen, aber sie ließ ihn machen, als hätte sie nichts gegen ein Paar warme Arme um den Leib. Sie leckte sich mit der dicken Zunge die Unterlippe und grinste Leanne boshaft an. »Oho, bei dem musste aufpassen, Kleine.«
Der Junge ließ ihre Taille los. Er packte ihre Oberarme und schüttelte sie fest. Mrs Kelly blinzelte wie eine Puppe. Sie brauchte einen Moment, bis sie sein Gesicht wieder scharf sah. »Hey!« Sie riss sich aus seinem Griff und ging mit finsterem Blick einmal um ihn herum. »Was fürn komischer kleiner Arsch du bist.«
Dann drehte sie sich weg und ging auf den Markt und die dunklen Pubs zu, die unten in den Eisenbahnbögen lagen. Leanne und Shuggie sahen ihr hinterher, als sie mit den Einkaufstüten beladen in die Gasse taumelte. An der Ecke blieb sie stehen, holte aus und schleuderte die kleine Tüte mit dem Dosenlachs auf das blonde Mädchen mit dem schwarzen Haaransatz. Mrs Kelly riss die Arme hoch, als hätte sie ein Tor geschossen, dann wankte sie weiter und war verschwunden.
»Sag nichts!«, warnte Leanne. Sie zog den Reißverschluss hoch, bis ihr Anorakkragen die Hälfte ihres Gesichts bedeckte.
»Keine Angst.« Er starrte auf das feuchte Pflaster und versuchte sich zu beruhigen. »Gehts dir besser?«
Leanne schnaubte, dann zuckte sie die Schultern. Sie strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht und band es mit einem Gummi zurück, das sie ums Handgelenk trug. Es machte ihn traurig, ihr hübsches Gesicht wieder so straff und hart zu sehen.
Shuggie wischte sich an der Rückseite seines Hosenbeins den Matsch vom Schuh. Er zupfte einen losen Faden von Leannes Ärmel und spürte, wie kalt ihr Handgelenk war. »Meine Mammy hatte mal ein gutes Jahr. Das war schön.«
Leanne schwieg. Sie nagte wieder an ihren angekauten Nagelbetten und hing ihren Gedanken nach. Shuggie ließ sie in Ruhe. Es hatte zu regnen aufgehört, und er beobachtete, wie der Bootsmann sein Dingi am Ufer festmachte und den krummen Rücken aufrichtete.
Sie hatten immer noch den Rest des Tages vor sich, und obwohl es so nass war, wärmte ihn die Aussicht auf. »So!« Shuggie bemühte sich, fröhlicher zu klingen. »Was willst du jetzt machen?«
Leanne wischte sich die Augen ab. Sie stülpte die leeren Jeanstaschen nach außen und ließ sie flattern. »Wie wärs, wenn wir einfach ein bisschen rumlaufen?«
»Ach ja. Wer ist jetzt vorhersehbar?«
»Ich?« Sie lachte, und es fühlte sich an, als wäre es das erste Mal seit langer Zeit. »Echt nicht. Wir wissen doch beide, dass du bloß die schönen Jungs in der Virgina Arcade anschmachten willst!«
Er wurde rot. Er schüttelte den Kopf, als wollte er es abstreiten, aber etwas in ihrem Blick hielt ihn davon ab, und er holte scharf durch die Schneidezähne Luft.
Leanne pikte ihn mit dem Finger zwischen die Rippen. »Lass gut sein. Außerdem, ich glaub, der rothaarige Typ mit den Ohrlöchern hat ein Auge auf dich geworfen.«
»Im Ernst?«
Sie grinste. »Vielleicht. Andererseits hat er doch son Matschauge, da kammans schwer sagen.«
Leanne schwang die Tüte mit der schmutzigen Wäsche ihrer Mutter durch die Luft und tat so, als würde sie sie in den Clyde werfen. Dann hängte sie sich bei Shuggie ein und versuchte, die Sorgen aus ihm herauszuschütteln. Er drückte sich gegen ihre Schulter wie ein Hafenschlepper, bis sie sich beide vom Fluss abwandten.
Shuggie warf den Müll in einen städtischen Abfalleimer. »Weißt du, als du von Calum erzählt hast, kam mir die Idee, wir könnten auch mal tanzen gehen.«
Leanne schwang immer noch die Wäschetüte, und plötzlich wieherte sie vor Lachen. Sie lachte so laut und durchdringend, dass die Männer mit den Raubkopien erschrocken zusammenzuckten. »Ha! Du? Mit deinen uncoolen Schulschuhen?«, quiekte sie. »Erzähl mir nicht, dass Shuggie Bain tanzen kann!«
Shuggie schnalzte mit der Zunge. Er zog den Arm aus ihrem und lief ein paar Schritte voraus. Dann nickte er, sah sie herausfordernd an, rollte auf den polierten Lederschuhen zurück und drehte sich einmal um die Achse.