9

Dax

Bei einer Tasse Kaffee zeigte ich Wren die Mappe mit allen Informationen, die der Privatdetektiv zu beiden Adoptionen zusammengetragen hatte. Ich wollte vermeiden, dass bei Wren irgendwelche Restzweifel bezüglich der Situation blieben. Zudem beschlossen wir, dass Wren unter dem »Deckmantel« der Freundschaft mehr Zeit bei uns verbringen würde. Rafe hatte sie ja schon früher bei uns gesehen, daher hielten wir das für unproblematisch. Wahrscheinlich vermutete er, sie wäre eine Freundin von mir, also blieben wir dabei.

In den beiden Wochen nach unserer Unterhaltung im Auto kam sie zweimal vorbei. Beide Male versuchte sie, mittels Animes und Mangas Kontakt zu ihm aufzubauen. Sie brachte ihm auch ein paar neue Bücher mit, die er noch nicht kannte. Das hatte ich vorher für sie überprüft. Sie zeigte ihm außerdem Fotos von ihrem Besuch bei der Anime-Convention. Ich war erleichtert, wie gut sie mit der Situation umging, und noch viel erleichterter, dass ich ihr etwas so Wichtiges nicht mehr vorenthalten musste.

Auch wenn Rafe nach wie vor nicht redete, schien er in letzter Zeit doch in deutlich besserer Stimmung zu sein. Er nahm mehr am Geschehen teil und blieb nach dem Essen auch länger am Tisch sitzen, ehe er sich wieder auf sein Zimmer zurückzog.

Ich hatte Shannon in alles eingeweiht, weil sie bei Wrens Besuchen sonst erneut die falschen Schlüsse über unser Verhältnis ziehen würde. Sie war, milde ausgedrückt, schockiert, fand es aber gut, dass Rafe Wren besser kennenlernen sollte, bevor wir ihm die Neuigkeiten zumuteten.

An einem Freitag kam Wren zu einem frühen Abendessen. Es war ihr dritter Besuch seit jenem denkwürdigen Gespräch. Shannon hatte Hühnchen mit geröstetem Rosenkohl zubereitet. Ich bestand darauf, dass sie sich zu uns setzte und mitaß, was sie gelegentlich machte, wenn sie mit Bob nichts anderes vorhatte. Mir war klar, dass sie mein Angebot annahm, weil sie neugierig auf Wren war, seit sie die Wahrheit kannte.

Während des Essens bestritten die beiden Frauen das Gespräch, während Rafe und ich still dabeisaßen. Mir fiel allerdings auf, dass er das Gespräch aufmerksam mitverfolgte. Shannon erzählte von ihrer letzten Reise nach New Orleans, und Wren schien sich besonders für Shannons Geschichten über ihre Tour zu Häusern zu interessieren, in denen es spukte.

Dann kam irgendwie das Thema »ungewöhnliche körperliche Eigenschaften« auf. Shannon wies darauf hin, dass ihre Augen unterschiedliche Farben hätten, was mir noch gar nicht aufgefallen war. Es handelte sich nur um eine Nuance, aber als sie es erwähnte, konnte ich es sehen.

»Ich glaube, da kann ich dich schlagen«, sagte Wren. »Ich habe Zwillingszehen.«

»Was ist das denn?«, fragte ich.

»Das ist, wenn zwei Zehen miteinander verwachsen sind. Als ich jünger war, hat mich das gestört, aber mittlerweile habe ich sie akzeptiert.«

Ich grinste. »Das muss ich sehen.«

»Also, ich würde euch ja gern meinen Fuß zeigen, aber am Esstisch gehört sich so etwas nicht«, erwiderte Wren.

»Ich habe Zwillingszehen.«

Mir fiel die Gabel aus der Hand. Wer hat das gesagt?

Gleichzeitig richteten wir drei den Blick auf Rafe.

Als hätte Gott höchstpersönlich zu uns gesprochen.

Wren schaute zu mir, dann wieder zu Rafe. »Tatsächlich? Ich habe noch nie jemanden getroffen, der das auch hat.«

Er nickte.

»Das ist echt cool«, sagte sie und wirkte so aufgewühlt, wie ich mich fühlte.

Wir saßen da wie erstarrt. Ich gab mich betont gelassen, damit er sich nicht sofort wieder in sich zurückzog. Doch in meinem Inneren war ich euphorisch.

»Das ist mir ja völlig neu, Rafe«, sagte ich. »Vermutlich habe ich mir deine Füße noch nie so genau angesehen.«

»Das Gleiche habe ich auch gerade gedacht«, fügte Shannon hinzu und schaute mich lächelnd an.

Schweigend warteten wir eine Weile, aber er sagte nichts mehr.

Den Rest des Abendessens gab Rafe nichts weiter von sich, selbst wenn er direkt angesprochen wurde. Aber das war in Ordnung. Denn wir alle hatten es gehört. Ich habe Zwillingszehen. Die schönsten drei Wörter aller Zeiten. Sie machten uns Hoffnung.

Nach dem Essen ging Rafe auf sein Zimmer. Shannon wollte schon den Tisch abräumen, aber ich stoppte sie.

»Geh nach Hause zu Bob. Ich erledige das.«

Wren trug das Geschirr zur Spüle. »Genau. Das schaffen wir schon.«

»Ganz bestimmt, Dax?«, fragte Shannon.

»Jawohl. Und jetzt raus hier.«

Shannon strahlte über das ganze Gesicht. »Das war heute ein guter Abend.«

»Das kann man wohl sagen«, bestätigte ich. »Ich kann es noch gar nicht fassen.«

»Ich glaube, Wren holt ihn aus seinem Schneckenhaus heraus«, sagte sie.

Wren schüttelte den Kopf. »Ich habe doch gar nichts gemacht.«

Shannon schlang sich die Tasche über die Schulter. »Immerhin hast du ihm etwas gegeben, das ihn zum Reden gebracht hat. Von uns hat das bisher keiner geschafft.«

Nachdem Shannon uns verlassen hatte, sagte ich zu Wren, dass ich gleich allein aufräumen würde, doch sie wollte mir unbedingt helfen. Sie wischte den Tisch sauber, während ich mich um das Geschirr kümmerte.

»Was hältst du davon?«, fragte sie.

»Ich stehe unter Schock«, antwortete ich und stellte ein Tablett auf das Abtropfgestell.

»Ich auch, aber auf positive Art.«

Ich drehte den Wasserhahn zu und trocknete mir die Hände ab. »All diese Zeit sagt er kein Wort, und dabei hätten wir bloß über Zwillingszehen reden müssen.«

Wren lachte. »Offenbar.«

»Aber eigentlich ging es gar nicht um die Zehen. Er fühlt sich in deiner Gesellschaft wohl, das ist der springende Punkt. Und du hast etwas angesprochen, das in seinem Leben eine Rolle spielt, ähnlich wie mit den Animes. Vielleicht war das wahre Problem die ganze Zeit, dass weder Shannon noch ich auf persönlicher Ebene einen Anknüpfungspunkt zu ihm finden konnten. Ich habe versucht, deinen Rat zu befolgen und etwas zu finden, das ihn interessiert, aber keine meiner Ideen hat etwas bei ihm ausgelöst. Aber dank deiner dynamischen Energie konnte er seine Angst für einen Moment so weit ablegen, dass er etwas sagen wollte

Wrens Wangen färbten sich rosa. »Egal, was der Grund war, es war jedenfalls wunderbar. Und ein gutes Zeichen.«

Als das Geschirr weggeräumt war, standen Wren und ich uns in der Küche gegenüber und schauten uns an. Obwohl ich ihr gesagt hatte, sie sei als Rafes Schwester tabu für mich, war die sexuelle Spannung zwischen uns nicht verblasst, nicht im Geringsten. Man hätte sie mit dem Messer schneiden können. In stillen Momenten wie diesen fiel mir das besonders stark auf. Ich wusste, dass Wren inzwischen mit jemand zusammen war, was die Situation gleichzeitig leichter und schwerer machte. Solange sie mit ihm glücklich war, konnte ich das akzeptieren. Ich musste es nicht mögen. Aber es war ein Teil unserer Beziehung, mit dem ich mich abfinden musste.

»Hast du heute Abend noch etwas vor?«, fragte ich.

»Sam muss arbeiten, deshalb wollte ich nach Hause und mir irgendwas auf Netflix anschauen.«

»Klingt ja aufregend«, neckte ich sie.

»Hast du einen besseren Vorschlag?«

»War nur ein Scherz. Fernsehen ist vielleicht nicht gerade aufregend, aber manchmal braucht man eben genau das. Du hattest bestimmt eine anstrengende Woche.« Ich neigte den Kopf. »Wie läuft es mit der neuen Stelle?«

»Gut. Sie halten mich richtig auf Trab. Eine Massage nach der anderen. Obwohl sie mir weniger zahlen, bleibt letztlich mehr übrig, weil ich mehr Kunden habe.«

»Das ist doch gut, vorausgesetzt die Mehrarbeit macht dir nichts aus.«

»Nein, überhaupt nichts. Ich brauche Beschäftigung.«

Heute Abend sah Wren besonders schön aus. Atemberaubend war sie immer, aber nun trug sie ein kurzes Kleid mit Blumenmuster und eine ärmellose Jeansjacke. Ich gab mir größte Mühe, ihr nicht aufs Dekolleté zu starren oder auf die Schönheitsflecken dort. Aber was mir den Rest gab, waren ihre Brustwarzen, die gegen den dünnen Stoff drückten. Sie waren offenbar hart, und das erweckte bei meinem Schwanz den Wunsch, es ihnen gleichzutun.

Ich mochte ihre Gesellschaft allerdings nicht nur wegen ihrer Schönheit. Sie war witzig und ließ jeden Raum erstrahlen. Ich hörte ihr gerne beim Reden zu, denn ich bekam sofort gute Laune. Auch wenn ich wusste, dass sich aus meinen Gefühlen nichts ergeben konnte, hatte ich es heute Abend nicht eilig, sie loszuwerden.

»Trinkst du ein Glas Wein mit, ehe du gehst? Ich wollte gerade eine Flasche aufmachen.«

Sie wandte kurz den Blick ab, zuckte dann aber mit den Schultern. »Klar. Warum nicht? Schließlich haben wir einen Grund zu feiern.«

»Die beste Entschuldigung für mich seit zwei Jahren.«

»Ich bin froh, dass ich meinen Teil dazu beitragen konnte.«

»Ich auch, Wren.«

Wir schauten uns in die Augen, und ich hätte mich in ihren verlieren können. Sobald ich mich ertappte, sie ein wenig zu lange anzustarren, wandte ich den Blick ab.

Sie lächelte. »Ich habe mal gelesen, dass Zwillingszehen genetisch bedingt sind. Heute haben wir dafür wohl den Beweis erhalten.«

»Darf ich sie sehen?«, fragte ich.

Sie schaute verlegen nach unten. »Meine Füße?«

»Ja. Ich bin neugierig. Es sei denn, es ist dir unangenehm.«

»Nein, ich schäme mich deswegen nicht.«

Sie hatte ein Kleid an, trug dazu aber Chucks. Sie löste die Schnürsenkel und streifte die Socken ab. Zum Vorschein kamen süße kleine Zehen mit hellrosa lackierten Nägeln.

Sie deutete auf den dritten und vierten Zeh. »Siehst du? Das ist aber nur am linken Fuß.«

Die Zehen waren bis fast zur Spitze zusammengewachsen.

»Das ist ja irre. Jetzt muss ich mir mal Rafes Füße genauer anschauen, damit ich sie vergleichen kann.«

Sie zog sich den Socken wieder an und schlüpfte in den Schuh. Dann richtete sie den Blick auf mich.

Wie sie mich immer anschaut . Tief in die Augen. Ein Problem war das hauptsächlich deswegen, weil es mir so sehr gefiel. Es war echt daneben, wie sehr ich darauf abfuhr, dass ich etwas bei ihr auslöste. Die Chemie zwischen uns stimmte einfach, auch wenn das unausgesprochen blieb, und das war so süchtig machend wie erregend. Ich redete mir selbst ein, dass ich das Gefühl, jemanden zu begehren und von dieser Person begehrt zu werden, still genießen durfte, solange ich dem nicht nachgab.

Verdammt noch mal! Wollte ich nicht eine Flasche Wein aufmachen? Ich räusperte mich. »Ich hole schnell den Wein.«

Ich ging ans andere Ende der Küche. Dieser Abend war ein besonderer, deshalb entkorkte ich einen teuren Cabernet, den ich für einen besonderen Anlass aufgehoben hatte. Ich goss uns beiden ein Glas ein und trug beide Gläser zu Wren hinüber.

»Danke.« Sie trank einen Schluck. »Wie geht es übrigens Adriana?«

Ich erstarrte. Ich hatte Wren gegenüber ihren Namen nie erwähnt und wunderte mich, dass sie nach ihr fragte.

Ich kniff die Augen zusammen. »Woher kennst du ihren Namen?«

»Ich habe meine Quellen.«

»Zwischen uns läuft nichts. Es hat keinerlei Bedeutung.« Meine Lippe zuckte.

Ihre Wangen wurden rot. »Aber du schläfst mit ihr …?«

Kleine Schweißtropfen traten mir auf die Stirn. »Das ist schon eine ganze Weile her.«

Das letzte Mal hatte ich mich mit Adriana an dem Abend getroffen, als Wren das erste Mal hier gewesen war und eine Tasse Tee getrunken hatte. Seither hatte ich sie nicht mehr gesehen.

Ich stellte mein Glas auf die Arbeitsplatte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Im Ernst jetzt, woher weißt du ihren Namen?«

»Entspann dich. Als du den Wein eingegossen hast, ist auf deinem Handy eine Nachricht eingegangen. Das Display leuchtete auf, und ich habe hingeschaut. Daher kenne ich ihren Namen. Tut mir leid, ich war nur ein bisschen neugierig.«

Mein Puls verlangsamte sich wieder. »Eine Minute lang habe ich echt leicht Panik gekriegt. Ich dachte, du hättest mich bespitzeln lassen oder so.« Ich zwinkerte ihr zu.

»Ach, so wie du mich bespitzelt hast?«, konterte sie.

Ich musste lachen. »Gut gekontert. Alle Achtung.«

Ich schnappte mir das Handy und las die Nachricht.

Adriana: Du fehlst mir. Das heißt, auch dein schöner Schwanz fehlt mir. Ist schon zu lange her.

Verdammt . Ich wand mich innerlich. »Tut mir leid, dass du das gelesen hast.«

»Warum? Ich bin erwachsen. Was spielt das also für eine Rolle?«

Da hatte sie recht. Warum spielte es eine Rolle? »Es ist vulgär.« Ich schüttelte den Kopf. »So ist sie eben.«

»Äh, und diese Sache mit Adriana … Ist er gut? Der Sex, meine ich.« Ihre Wangen wurden noch röter.

»Wieso reden wir schon wieder über dieses Thema?«, fragte ich zurück.

Sie strich mit der Fingerspitze über den Rand des Glases. »Wir sind doch angeblich Freunde. Freunde reden über so was.«

»Ich frage dich ja auch nicht über dein Sexleben aus.«

»Würdest du mich fragen, würde ich dir alles erzählen, was du wissen willst. Egal was.«

Ich schluckte. »Wieso interessiert dich das überhaupt?«

»Vermutlich krankhafte Neugier.«

»Krankhaft ? Inwiefern?«

»Weil ich es eigentlich nicht wissen, es aber trotzdem wissen will.« Sie lachte. »Verstehst du?«

Ich wollte wirklich nicht wissen, was sie mit diesem Sam trieb. So viel stand fest. Plötzlich hätte ich ihm am liebsten den Kopf abgerissen, dabei kannte ich ihn nicht einmal. Meine Gefühle waren eine Mischung aus Beschützerinstinkt und rasender Eifersucht. Das überraschte mich nun doch. Ich hatte gedacht, ich hätte die Tatsache akzeptiert, dass sie mit einem anderen zusammen war. Offenbar stimmte das nicht.

»Ganz ruhig«, sagte sie. »Ich bohre nicht weiter nach.«

Angespanntes Schweigen lag in der Luft. Sie wechselte das Thema. »Schaust du dir noch immer die Filme auf meinem Onlinekanal an?«

Jede verdammte Nacht . »Manchmal.«

»Ist Der Schwan nach wie vor dein Lieblingsstück?«

»Ich denke schon.«

»Wenn ich das spiele, werde ich immer ganz sentimental.«

»Das verstehe ich sehr gut. Jedes Mal, wenn ich deine Musik anhöre, werden bei mir Gefühle freigesetzt, die ich lange verdrängt habe.«

»Wow!«, sagte sie leise. »Das nehme ich als Kompliment. Da fällt mir ein: Schreibst du noch Tagebuch?«

»Ein paar Einträge habe ich noch verfasst, aber dann habe ich aufgehört.«

»Du solltest wieder damit anfangen.«

»Willst du mich herumkommandieren?«

»Mir liegt nur dein Wohl am Herzen, Moody. Sonst nichts.«

Ich neigte den Kopf zur Seite. »Moody hast du mich schon lange nicht mehr genannt.«

»Ja, also, ich denke, wir sind wieder an dem Punkt angelangt, wo das passt.« Sie lächelte.

Ich erwiderte das Lächeln.

Wie gern hätte ich sie jetzt geküsst. Es war echt schrecklich.

Sie trank einen Schluck und setzte das Glas wieder ab. »Ach, das wollte ich dir noch erzählen: Ich bin auf einen Artikel gestoßen, der beim Umgang mit Rafe hilfreich sein könnte.«

»Okay …«

»Es gibt da einen Therapeuten, dessen Arbeit ich online verfolge. Er lässt seine Patienten die Geschichten in der dritten Person erzählen – so eine Art Zusammenfassung ihres ganzen Lebens. Sie sollen nicht zu intensiv darüber nachdenken. Es ähnelt ein wenig dem Tagebuchschreiben und dient quasi als Mülldeponie des Gehirns. Er will, dass sie in der dritten Person erzählen, weil er glaubt, es klingt dann eher nach der Lebensbeschreibung eines anderen Menschen, und das hilft, mehr Mitgefühl für sich aufzubauen. Es gibt viele, die ein Problem mit dem Selbstmitgefühl haben und sich nicht so wohlwollend betrachten. Zumindest gilt das für mich.«

»Es stimmt, dass sich manche Menschen selbst der ärgste Feind sein können. Anderen zu vergeben, die einem Unrecht getan haben, ist schon schwer genug, aber nichts im Vergleich damit, sich selbst zu verzeihen. Davon kann ich leider ein Lied singen.«

»Was ist es, das du dir selbst nicht verzeihen kannst?«

Hast du die ganze Nacht Zeit? Diese Büchse der Pandora wollte ich im Moment wirklich nicht öffnen. Ich schüttelte den Kopf. »Nicht heute Abend. Ich habe gerade so gute Laune.«

Sie nickte verständnisvoll und hakte nicht weiter nach.

»Also, Wren …« Ich wollte unbedingt das Thema wechseln. »Warum erzählst du mir nicht deine Geschichte in der dritten Person?«

»Ah, ich verstehe. Ich darf nicht neugierig sein, du aber schon. Manche Dinge ändern sich wohl nie.«

Lächelnd nickte ich in Richtung Wohnzimmer. »Komm. Setzen wir uns hin.« Ich trug die Weinflasche zum Couchtisch und entzündete den Kamin. Wren machte es sich unterdessen auf dem Sofa bequem.

»Bin gleich wieder da.« Ich wollte nur kurz nach Rafe sehen.

Ich ging zu seinem Zimmer und schaute hinein. Er spielte Videospiele und nahm den Kopfhörer ab, als er mich im Türrahmen bemerkte.

»Alles klar? Möchtest du noch Nachtisch? Du bist fort, bevor es welchen gab.«

Er schüttelte den Kopf.

»Willst du zu Wren und mir kommen? Wir könnten uns einen Film anschauen.«

Wieder schüttelte er den Kopf.

»Na gut.« Ich seufzte.

Ich ging zurück ins Wohnzimmer und setzte mich neben Wren auf die Couch, achtete dabei aber auf ausreichenden Abstand.

»Alles in Ordnung mit ihm?«, fragte sie.

»Ja. Er ist mit Videospielen beschäftigt. Ich habe ihm gesagt, dass du noch hier bist und dass er ruhig zu uns runterkommen kann.«

»Ich bin sicher, sein Spiel ist ihm lieber, wie den meisten Teenagern.«

Ich nickte. »Selbst wenn er nicht kommt, ist es für ihn wohl ganz gut, wenn im Haus ein bisschen mehr Leben herrscht. Käme er jetzt herunter, dann sähe er immerhin mehr als mich, wie ich im Sessel sitze und historische Kriegsromane lese.«

»Kriegsromane? Ich wusste gar nicht, dass du auf so etwas stehst.«

»Ja, das mache ich meistens nachts, wenn ich nicht schlafen kann. Lesen.« Und dir beim Cellospielen zuschauen . »Ich habe sogar eine Lesebrille«, fügte ich hinzu. »Macht mich das jetzt alt?«

Sie lachte. »Nein, Brillen machen Männer sexy. Und Männer, die lesen? Die sind gleich noch heißer.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Was der eine alt und langweilig findet, ist für den anderen sexy. Interessant.«

»Du bist der Beweis, dass man alles gleichzeitig sein kann: alt, langweilig und sexy.« Sie zwinkerte mir zu.

»Klugscheißerin.«

»Was sind denn deine Lieblingsbücher?«, fragte sie.

»Bist du auf Empfehlungen aus?«

»Historische Kriegsromane sind nicht so mein Ding, also nein. Aber ich bin neugierig, was dir gefällt.«

»Wolltest du mir nicht eigentlich deine Geschichte erzählen?«

Sie seufzte. »Ich kann mich nicht erinnern, zugestimmt zu haben.«

»Hast du auch nicht. Ich würde sie trotzdem gern hören.«

Sie zögerte und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Kann ich erst noch mehr Wein bekommen?«

»Aber gern.« Ich nahm die Flasche und schenkte uns beiden nach.

Wren räusperte sich. »Okay …«

Ich setzte mich bequem hin und schenkte ihr meine volle Aufmerksamkeit.

Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und schloss die Augen. Dann schlug sie sie wieder auf und begann. »Wren McCallister … hatte keine Ahnung, woher sie wirklich stammt, und es war ihr auch egal. Denn sie gehörte genau dorthin, wo sie lebte – beschützt und behütet im Haus von Chuck und Eileen McCallister. Bis sie fünf war, sorgte ihre Mutter, die Wren abgöttisch liebte, dafür, dass sie ein sorgenfreies Leben führte. Eileen kümmerte sich liebevoll um sie, begleitete sie zu Spieleverabredungen mit anderen Kindern, backte mit ihr Kekse und malte unzählige Bilder mit ihr. Wrens perfektes Leben endete eines Tages abrupt, als ihre Mutter auf dem Heimweg vom Einkaufen von einem Falschfahrer angefahren und getötet wurde.« Kurz schloss sie die Augen.

Oh Mann. Ich hatte gewusst, dass ihre Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekomm en war, aber dass ein Falschfahrer schuld daran war, war mir neu. Schlagartig bedauerte ich es, sie gebeten zu haben, mir ihre Geschichte zu erzählen. Ich wollte ihr gerade sagen, dass sie ruhig aufhören könnte, da erzählte sie weiter.

»Wrens Leben änderte sich ab diesem Tag völlig. Sie vertraute nicht länger darauf, dass das Universum ihr den Rücken deckte. Die Welt war kein sicherer Ort mehr. Von diesem Tag an lebte sie in permanenter Anspannung. Dauernd rechnete sie mit der nächsten Hiobsbotschaft, der nächsten Tragödie. Wrens größte Angst war, dass auch ihrem Vater etwas zustoßen könnte. Bis sie zehn Jahre alt war, bestand sie darauf, in seinem Bett zu schlafen, und machte sich größte Sorgen, wenn er einmal etwas später von der Arbeit nach Hause kam. Nichtsdestotrotz war sie dankbar, Chuck McCallister als Dad zu haben. Er bedeutete ihr alles.«

Mir ging auf, wie sehr sich ihr und Rafes Schicksal ähnelten. Beide hatten schon früh ihre Mutter verloren. Der Unterschied war: Wren hatte Chuck, einen tollen Dad, und Rafe hatte nur mich.

Wren trank einen ordentlichen Schluck Wein, ehe sie fortfuhr. »Ein paar Jahre nach Eileens Tod begann Wren, Cello zu lernen, und damit entdeckte sie ihre Liebe zur Musik. Doch nicht einmal ihr musikalisches Talent konnte sie vor den Problemen bewahren, die die Pubertät mit sich brachte. Wie die meisten Eltern hatte auch Chuck nur begrenzten Einfluss auf seine Tochter. Vielleicht aus unbewusster Wut heraus wurde Wren rebellisch. Sie schlich sich abends aus dem Haus und missachtete die Regeln, die ihr Vater aufgestellt hatte. Chuck hatte die Sorgen nicht verdient, die ihm Wren bereitete, aber er hatte keine Kontrolle mehr über sie. Was er auch tat, Wren fand einen Weg, wie sie sich ihm widersetzen konnte. Eines Tages, wenn sie erwachsen war, wird sie am liebsten in der Zeit zurückreisen und ihre Teenagerversion erwürgen wollen.«

Sie hielt inne, ihr Atem ging stockender.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich. »Du solltest aufhören, wenn es dir zu viel wird.«

»Nein«, erwiderte sie leise. »Ist schon gut.«

Mir schien, als würde sie sich für den nächsten Teil erst wappnen müssen, und ich erfuhr auch rasch den Grund.

»Es folgte ein trauriges Beispiel dafür, dass sich die Geschichte wiederholt: Wie die Frau, die sie weggegeben hatte, wurde auch Wren mit sechzehn schwanger. «

Ach du Scheiße! Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich nickte ihr ermutigend zu, mit ihrer Geschichte fortzufahren, auch wenn ich mich ein wenig vor dem fürchtete, was ich hören würde.

»Im Gegensatz zu ihrer leiblichen Mutter, die ihre Tochter zur Adoption freigegeben hatte, wollte Wren ihr Baby selbst großziehen. Aber …« Sie schluckte. »Ihre Schwangerschaft endete nach drei Monaten mit einer Fehlgeburt. Sie wusste nicht, wie sie sich fühlen sollte – am Boden zerstört oder erleichtert. Weil sie oft Letzteres fühlte, bekam sie Gewissensbisse. Doch diese Erfahrung war auch ein Weckruf, der Wren zugleich in die Einsamkeit führte. Sie vertiefte sich in ihr Cellospiel und schlich sich nicht mehr heimlich aus dem Haus. Und auch wenn sich Chuck in dem Punkt keine Sorgen mehr machen musste, so tauchten neue Probleme auf. Denn Wren bekam Depressionen. Die Vergangenheit – die fehlgeschlagene Schwangerschaft, das Trauma vom frühen Tod der Mutter – stürzte wie ein Bombenhagel auf sie ein.«

Erneut fühlte ich mich schrecklich, weil ich die Schleusen aufgestoßen hatte, und hielt ihr meine Hand als Zeichen der Unterstützung hin. Sie nahm sie und drückte sie fest, dann fuhr sie fort.

»Mit achtzehn besiegte Wren schließlich ihre Depression. Sie verliebte sich in einen Nachbarsjungen, dem sie bedingungslos vertraute. Dann ging Benjamin aufs College und zog weg. Er ließ Wren zurück, und als er in den nächsten Weihnachtsferien wieder nach Hause kam, machte er mit ihr Schluss. Seither fürchtete sich Wren vor Weihnachten, weil sie stets daran erinnert wurde, wie überrumpelt sie sich gefühlt hatte.« Sie starrte einen Moment ins Nichts. »Damit begann für Wren eine Phase der Selbstreflexion, und ihr wurde klar, dass es wichtiger war, sich selbst zu lieben, als von einem anderen Menschen geliebt zu werden. Das bedeutet nicht, dass sie nicht hoffte, erneut einen anderen Menschen lieben zu können, sie erkannte lediglich, dass es nicht die wichtigste Sache zum Überleben war. Die einzelnen Phasen ihres Lebens waren gewiss sehr unterschiedlich, aber ihre Liebe zum Cello und die Unterstützung durch ihren Vater waren die wichtigsten Konstanten. Trotz ihrer Probleme war ihr stets bewusst, wie glücklich sie sich schätzen konnte, ihren Vater und ihre Musik zu haben.«

Als sie mir in die Augen schaute, lächelte ich sie an. Ich wusste nicht, ob sie mit ihrer Geschichte fertig war. Aber sie erzählte weiter. »Als sie mit Anfang zwanzig das College beendet hatte, suchte Wren eine neue Herausforderung. Sie beschloss, eine Ausbildung als Masseurin zu machen, so konnte sie anderen helfen, sich gut zu fühlen. Sie schlug einen neuen Berufsweg ein, der ihr wirklich gut gefiel.« Um ihre Lippen spielte ein Lächeln. »Eines Tages führte sie ihr Beruf zu einem mysteriösen Mann, dem gut aussehenden und reichen Dax Moody. Er war mehr als nur ein Kunde. Er wurde ein Freund, und schließlich wurde Wren klar, dass ihre Begegnung eine viel tiefere Bedeutung hatte.« Sie senkte die Stimme. »Durch Dax erfuhr Wren, dass sie einen Bruder hatte, dessen Leben, ohne ihr Wissen, gewisse Parallelen zu ihrem aufwies. Auch Rafe hatte seine Adoptivmutter verloren, die ihn geliebt hatte. Auch seine ganze Welt war in viel zu jungen Jahren zusammengebrochen, und er hatte in der Folge seine Stimme verloren so wie Wren, im übertragenen Sinn, nach dem Verlust ihres Babys.«

Wow Ja.

»Zum ersten Mal in ihrem Leben gab es nun einen Menschen, dessen Wohlergehen ihr wichtiger war als ihr eigenes. Endlich verstand sie, wie sich ihr Dad ihretwegen gefühlt haben musste oder wie sie sich vielleicht gefühlt hätte, wenn sie ihr Kind nicht verloren hätte. Plötzlich bedeutete ihr ein Fremder mehr als alles andere.« Wren seufzte. »Und er weiß es noch nicht einmal.« Sie schaute zu mir. »Der Rest steht noch in den Sternen.«

Jetzt lehnte sie sich zurück und atmete tief durch, als hätte die Geschichte ihr viel abverlangt.

»Das war bewundernswert. Danke, dass du mir das alles erzählt hast.«

Sie richtete sich auf. »Danke, dass du mir zugehört hast.«

Obwohl ich es eigentlich nicht wollte, zog ich meine Hand zurück. »Das Beste kommt erst noch für dich. Das weiß ich.«

»Das war jetzt mein Leben in aller Kürze. Mit allen wichtigen Punkten.« Sie wischte sich über die Augen. »Oh Gott, ich hätte nicht gedacht, dass ich dabei so sentimental werde.«

»Das ist doch verständlich.«

Wir blieben sitzen und tranken noch mehr Wein. Schließlich öffnete ich eine zweite Flasche. In mir tobten die unterschiedlichsten Gefühle, während ich noch immer zu begreifen versuchte, was sie alles durchgemacht hatte. Vieles hatte ich vorher nicht über sie gewusst – Dinge, die verstehen halfen, warum sie eine so starke Persönlichkeit war. Ich hätte gern etwas gesagt, mir fielen jedoch nicht die passenden Worte ein.

»Ich habe ein Problem«, sagte sie.

»Was denn?«

»Ich bin zu beschwipst, um noch nach Hause zu fahren.«

Ich lachte. »So würde ich dich auch nie im Leben fahren lassen. Ich würde dich ja heimbringen, aber mir geht es nicht viel besser als dir. Ich rufe dir ein Taxi.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«

»Wieso nicht?«

»Weil ich … Angst habe, zu Fremden ins Auto zu steigen. Deshalb fahre ich grundsätzlich nicht mit Taxis.«

Ich versteifte mich. »Hast du damit schlechte Erfahrungen gemacht?«

»Ein Taxifahrer hat mich mal angebaggert. Und mir war klar, dass ich ihm völlig ausgeliefert war, solange ich in seinem Auto saß. Das hat mir eine Höllenangst eingejagt, und ich kann es bis heute nicht vergessen. Deshalb habe ich beschlossen, nie mehr zu jemandem in den Wagen zu steigen, wenn ich denjenigen nicht kenne. Mir ist schon klar, dass sich das merkwürdig anhört, vor allem weil ich ja zu Fremden ins Haus gehe. Aber der Gedanke in einem Auto in der Falle zu sitzen, schreckt mich irgendwie ab.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Findest du das seltsam?«

»Nein, das ist absolut nachvollziehbar.«

Ihr Gesicht lief rot an, weil es ihr so peinlich war. »Wäre es für dich okay, wenn ich heute hier schlafen würde?«

Was soll ich da sagen? »Natürlich.«

»Ganz bestimmt?«

Nein, ich weiß nicht, ob das okay ist, aber ich kann ja nicht gut Nein sagen . »Du bist hier immer willkommen. Platz genug habe ich ja.«

»Danke.« Erleichtert seufzte Wren auf.

»Ich schlafe in einem der Gästezimmer«, sagte ich. »Du kannst mein Zimmer haben, da stört dich niemand. Es ist das einzige Zimmer mit eigenem Bad.«

»Ich kann nicht in deinem Zimmer schlafen, Dax.«

»Ich bestehe darauf. Das ist wohl das Mindeste, das ich tun kann, nachdem du Rafe heute zum Sprechen gebracht hast.«

»Ich habe doch gar nichts gemacht.«

»Doch, das hast du. Du bist ein Lichtblick in seinem Leben, auch wenn er noch nicht weiß, dass du seine Schwester bist.«

»Tja … Ich bin froh, dass du das so siehst.«

Da sie heute Nacht hierbleiben würde, schauten wir uns einen Film an. Es fühlte sich gut an, wieder mit jemandem zusammen fernzusehen. Als Maren starb, hatte ich komplett damit aufgehört. Es erinnerte mich immer daran, dass sie nicht mehr hier war, um mit mir gemeinsam etwas anzuschauen. Es war eins der wenigen Dinge, die wir gegen Ende hin noch gern gemeinsam getan hatten – eins der wenigen Dinge, die uns daran gehindert hatten zu streiten. Warum sollte man eine Meinungsverschiedenheit aus der Welt schaffen, wenn man sich acht Folgen einer Dokuserie am Stück reinziehen konnte? Sie und ich kamen nie besser miteinander aus als beim Fernsehen.

Als es fast ein Uhr war, zeigte ich Wren mein Schlafzimmer und gab ihr eins meiner T-Shirts als Schlafanzugersatz. Dann ging ich wieder hinunter in die Küche, um ihr ein Glas Wasser und ein paar Kopfschmerztabletten zu holen, falls sie die am Morgen brauchen sollte. Rafe, der selig schlummerte, wusste natürlich nicht, dass sie heute hier übernachtete. Das würde ich ihm morgen früh erklären müssen.

Als ich in das Gästezimmer ging, in dem ich schlafen wollte, fiel mir auf, dass sich das Haus anders anfühlte, und das lag allein an ihrer Anwesenheit. Angenehmer. Lebendig . Einmal mehr musste ich mir die Grenzen vergegenwärtigen, die ich mir gesetzt hatte.