1
8. September, Köln
Z ufall?
Nur zu gerne wollte Klaus daran glauben. Auch jetzt, während er sich die Krawatte band, redete er sich weiter ein, dass es nur ein dummer Zufall sein konnte.
»Alles okay?«, fragte ihn seine Frau.
»Ja, alles gut«, beschwichtigte Klaus.
»Du wirkst so angespannt«, entgegnete sie. Sie kannte ihn zu gut. Jedem konnte er etwas vormachen, die perfekte Fassade aufsetzen, aber nicht vor Monika, dafür waren sie zu lange verheiratet. Auch wenn sie weder die empathischste noch die feinfühligste Frau war, war er für sie wie ein offenes Buch.
»Du weißt doch, ich hasse diese Ansprachen«, lächelte Klaus und hoffte, dass sie nicht weiter nachbohren würde. Seine wahren Gedanken und Sorgen konnte er unmöglich mit ihr teilen. Vermutlich hätte sie ohnehin kein Interesse daran gehabt, sie lebten zwar zusammen, aber jeder führte sein eigenes Leben.
»Du?« Sie wirkte überrascht. »Du magst doch die Aufmerksamkeit. Es sollte dir ein Leichtes sein, die Menge für dich zu begeistern.« Sie nahm ihm seine Worte nicht ab, das war deutlich zu sehen. »Die Krawatte sah auch schon mal besser aus.« Sie lächelte und richtete den feinen Stoff am Knoten. »Was wärst du nur ohne mich?«
»Ein hoffnungsloser Fall«, schmunzelte er und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.
Monika löste die kurze Umarmung. Gefühle zeigen war nie ihre Stärke gewesen.
»Ich muss«, sagte er und schaute auf seine Armbanduhr.
»Ich werde vermutlich schon im Bett sein, wenn du zurückkommst, die Kopfschmerzen machen mich heute fertig.«
»Ruh dich aus. Morgen gehts dir bestimmt besser.«
»Ich denke auch. Diese Migräneanfälle sind echt nervig.« Sie lächelte, aber ihre Miene wirkte angestrengt. Eine Eigenschaft, die er an ihr bewunderte. Obwohl sie seit Jahrzehnten mit Migräneattacken zu kämpfen hatte, zeigte sie das nach außen nie. Sie versuchte immer stark zu sein, auch in Momenten, in denen es absolut in Ordnung gewesen wäre, Schwäche zu zeigen.
»Wo ist Zoe?«
»Sie müsste noch auf ihrem Zimmer sein. Warum?«
»Dann schau ich mal kurz bei ihr vorbei.«
Seine Frau warf ihm einen seltsam fragenden Blick zu, sagte aber nichts.
»Ich liebe dich.«
»Sei nicht albern«, antwortete sie. Dass sie sich noch immer Gedanken machte, war allerdings nicht zu übersehen. Sie schien ihm nicht zu glauben, dass alles gut war. Er lächelte ihr zu und verließ das Badezimmer, um zu Zoe zu gehen.
Ihre Tür war wie immer geschlossen, also klopfte er an, bevor er sie öffnete und das Zimmer betrat.
Zoe saß am Schreibtisch und war in ihren Laptop vertieft. Sie hatte Kopfhörer auf.
»Süße, hörst du wieder laut Musik?«, machte er sich bemerkbar.
»Hallo, Papa. Quatsch. Ich höre einen Podcast, wenn ich laute Musik hören würde, hätte ich sicherlich nicht gehört, was du gerade gesagt hast.«
Zoe stand auf und umarmte ihren Vater.
»Was soll ich diesem Argument entgegensetzen. Ich muss gleich los. Gehst du heute noch weg?«
»Vielleicht.«
»Also ja.«
»Nein, steht echt noch nicht fest.«
»Ihr jungen Dinger.«
»Ach komm, tu doch nicht so. Als ob du in meinem Alter immer brav zu Hause gewesen wärest. Mama hat mir da die wildesten Geschichten erzählt.«
»Sie übertreibt gerne. Musst du morgen nicht arbeiten?«
»Klar, aber erst um neun.«
»Dann mach nicht so spät, hörst du? Lehrjahre …«
»… sind keine Herrenjahre«, unterbrach sie ihn und grinste bis über beide Ohren.
»Was hältst du davon, wenn wir mit Mama nächstes Wochenende wegfahren?«
»Find ich gut. Etwas Wellness wäre nicht schlecht.«
»Super. Dann machen wir das. Organisierst du was?«
»Wenn du die Kreditkarte zückst?«
»Deal.«
Zoe schenkte ihm ein ehrliches Lachen und er drückte sie kurz an sich. Sie beide hatte schon immer etwas Besonderes verbunden. Als Eltern hatten er und Monika vieles bei Zoe richtig gemacht. Sie war ehrgeizig und intelligent, dennoch fröhlich und sehr bodenständig. Dass sie ein Volontariat bei einer Zeitung machte, weil sie Ideale hatte, bestärkte Klaus nur in der Einschätzung seiner Tochter.
Sie sollte alle Freiheiten haben und das tun dürfen, was sie sich wünschte. Es war das Gegenteil von dem, was er in seiner Jugend erlebt hatte. Für seinen Vater hatte von Anfang an festgestanden, welchen Weg Klaus einschlagen würde, deshalb hatte er selbst als Vater entschieden, dass Zoe ihren Träumen nachjagen durfte.
Als er sich von seiner Tochter verabschiedete, beschlich ihn ein seltsames Gefühl, ein Gefühl von Endlichkeit. Das war natürlich völliger Unsinn, dennoch war dieses Gefühl da.
Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass es ein Abschied ist, dachte er, aber er wurde dieses schwere Gefühl einfach nicht los.
Im Auto hörte er Radio. Nach dem Lied kamen die Nachrichten. Es ging um zwei Morde an Politikern. Noch immer hatte die Polizei keine Anhaltspunkte, wer der oder die Täter sein könnten.
»… die Polizei geht nicht davon aus, dass es eine Verbindung zwischen den beiden Morden gibt«, schloss der Radiosprecher seinen Bericht.
Klaus schnaubte. Hatte die Musik ihm eben noch geholfen, sich zu beruhigen, war die Anspannung plötzlich wieder zurück. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er wischte sie mit der rechten Hand weg und seine Gedanken schweiften ab, die Nachrichten nahm er nur noch wie von Ferne wahr. Instinktiv umfasste er das Lenkrad fester. Er hatte Angst!
»Das ist nur Zufall«, versuchte er sich zu beruhigen.
Aber du glaubst nicht an Zufälle!
Es war schon erstaunlich, da wurden zwei Politiker, die Einfluss in ihrer Partei hatten und bekannt waren, auf brutale Weise ermordet und die Polizei wollte keine Hinweise auf die Täter haben? Klaus konnte sich das schwer vorstellen, vermutlich wollten die Behörden ihr Wissen bloß nicht mit der Öffentlichkeit teilen.
Aber seit den beiden Morden waren viele seiner Parteifreunde vorsichtig geworden, was er gut verstehen konnte. Keiner kannte die Beweggründe für die Morde. Waren sie politisch motiviert?
Klaus glaubte nicht daran, da die beiden Opfer unterschiedlichen Parteien angehörten und weil sich ihm kein politisches Motiv erschließen wollte, aber er war kein Polizist, um das wirklich beurteilen zu können.
Was ihn in seiner Meinung, dass es keine politischen Morde waren, allerdings bestärkte, war die Tatsache, dass bis heute kein Bekennerschreiben aufgetaucht war.
Und wegen etwas anderem …
Wäre ein Bekennerschreiben bei einem politisch motivierten Mord nicht selbstverständlich? Was brachte denn ein solcher Mord ohne ein Bekennerschreiben oder eine Botschaft, welche Motivation sich dahinter verbarg?
»Nein, das ist etwas Persönliches«, dachte er laut und musste sich plötzlich schütteln.
Das Display seines Handys, das in der Mittelkonsole lag, leuchtete auf. Zoe hatte ihm eine WhatsApp-Nachricht geschickt.
Ich habe das perfekte Wellnesshotel gefunden!
Als Antwort schickte er ihr eine Sprachnachricht, da er während der Fahrt niemals eine Nachricht tippen würde:
»Super. Ich hoffe, du sprengst nicht unser Budget.«
Ich doch nicht. Schau dir das an, der Preis ist absolut fair.
In der Nachricht war ein Link, der ihn über den Safari-Browser seines iPhones zu der Website des Wellnesshotels führte. Die Bilder gefielen ihm, der Preis war auch angemessen, aber nichts anderes hatte er von Zoe erwartet, schließlich kannte er sie.
Auch wenn er immer scherzte, dass sie es nicht übertreiben solle, wusste er, dass Zoe im Unterschied zu ihrer Mutter sehr bodenständig und ausgiebigem Luxus nicht zugeneigt war. Seiner Karriere in der Politik kam dieses Verhalten nur entgegen. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, waren Meldungen darüber, dass seine Tochter ein ausschweifendes Leben führte, aber so waren sie die perfekte Vorzeigefamilie und seiner Karriere innerhalb der Partei stand nichts im Wege.
Im Gegensatz zu dem Leben seiner Tochter war seines schon sehr früh klar vorgezeichnet gewesen. Seinem Vater gehörte ein mittelständisches Unternehmen und er war, wie jetzt auch Klaus, in der CDU aktiv gewesen. Es gab nur einen kleinen Unterschied: Klaus war viel erfolgreicher als sein Vater, worauf er und sein Vater sehr stolz waren.
»Siehst du, Junge, die harte Schule hat sich ausgezahlt«, sagte sein Vater immer zu ihm, weil er vermutlich wusste, dass er ein sehr strenger – oft ein zu strenger Vater – gewesen war.
»Dann buch das mit Mamas Kreditkarte«,
nahm er seine Antwort als Sprachnachricht auf, worauf er viele Herzchenemojis zurückbekam. Mit solch einfachen Gesten verstand es seine Tochter immer wieder, ihn um den Finger zu wickeln. Er fühlte sich gut und die düsteren Gedanken an die beiden Politikermorde verschwanden. Zumindest für eine Weile, bis sein Handy klingelte.
»Eine unbekannte Nummer«, dachte er laut und überlegte, ob er den Anruf annehmen sollte.
»Hallo, Lau hier«, nahm er den Anruf dann doch an. Schließlich konnte es jemand von der Veranstaltung sein.
Der Anrufer antwortete nicht, aber Klaus hörte ein Knacksen in der Leitung.
»Hallo, wer ist da?«
Wieder ein Knacken, dann ein Geräusch, als würde jemand schwer atmen.
»Hallo, ich kann Sie nicht verstehen. Haben Sie vielleicht schlechten Empfang?« Klaus warf einen kurzen Blick auf sein Handydisplay, er jedenfalls hatte sehr guten Empfang.
Statt einer vernünftigen Antwort hörte er wieder nur angestrengtes Atmen und ein Knacken.
»Hören Sie, ich kann Sie nicht verstehen. Rufen Sie mich bitte an, wenn Sie besseren Empfang haben.« Klaus wollte auflegen, doch dann hörte er eine Stimme.
»Das sollten Sie nicht tun.«
»Wer sind Sie?« Er spürte, wie Adrenalin durch seine Adern schoss und sein Mund eigenartig trocken wurde.
»Wenn Ihnen etwas an Ihrer Familie liegt, fahren Sie …«
»Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«
»In einer Stunde am …«, antwortete die Stimme und nannte einen Ort, dann wurde der Anruf beendet.
Klaus war wie versteinert, er starrte auf die Fahrbahn und in seinem Kopf herrschte plötzlich eine entsetzliche Leere.
Der Schock saß tief!
Dann ein Hupen.
Gerade noch rechtzeitig konnte er das Lenkrad herumreißen und verfehlte nur um Haaresbreite den Gegenverkehr.
Seine Stirn und seine Hände waren nass vom Angstschweiß, sodass er beschloss, kurz am rechten Straßenrand zu halten. Er schaltete die Warnblinker ein und ließ den Kopf nach hinten gegen die Kopfstütze fallen, dann schaltete er den Motor aus und sah, wie seine rechte Hand zitterte.
Er warf einen Blick in den Rückspiegel und registrierte, dass seine Augen weit aufgerissen waren. Er sah leichenblass aus, als hätte er einen Geist gesehen.
»Das war nur ein Spinner, der dir Angst machen wollte, reiß dich zusammen«, versuchte er sich selbst Mut zu machen, aber seine zittrige Hand sagte ihm, dass es ihm nicht gelang.
So kannte sich Klaus gar nicht, er gehörte eher zu den Menschen, die selbstbewusst durchs Leben gingen und die kaum etwas aus der Fassung brachte.
»Beruhig dich«, ermahnte er sich erneut und versuchte, durch bewusstes, langsames Atmen wieder die Kontrolle über sich zu erlangen.
Wie ein Kapitän auf rauer See , dachte er und schloss die Augen.
Kurz darauf schrak er hoch. Ein Klopfen!
Er schaute aus dem Beifahrerfenster und sah, dass jemand ans Fenster klopfte. Er ließ die Scheibe herunter.
»Alles okay?«, hörte er einen jungen Mann fragen. Ihm war, als würde die Stimme von weit her kommen, aber der Mann stand direkt neben seinem Auto. Das war eigentlich unmöglich.
»Alles gut. Ich habe kurz telefoniert, weil mein Autotelefon nicht ging«, antwortete er nach einer gefühlten Ewigkeit. Es dauerte lange, bis er eine adäquate Antwort parat hatte.
»Verstehe, vielleicht sollten Sie weiterfahren und eine Parkbucht suchen. In der Dunkelheit ist Ihr dunkles Fahrzeug schlecht zu sehen, trotz der Warnblinker. Hier wird gerne schon mal gerast.«
»Werde ich machen, danke für den Hinweis.«
»Ist wirklich alles in Ordnung?«, fragte der Mann noch einmal zweifelnd und warf einen Blick ins Innere des Wagens. »Ich kenne Sie doch.«
»Woher?«, erwiderte Klaus etwas irritiert, da er den Mann nicht kannte.
»Sie sind doch Klaus Lau. Der Spitzenkandidat der CDU.«
»Ja, ja. Der bin ich.« Es war mehr ein Reflex als eine bewusste Antwort. Klaus konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, der Anruf hatte ihn komplett aus der Bahn geworfen. Er stand vollkommen neben sich, bloß wegen dieses lächerlichen Anrufs!
»Mein Vater ist ein großer Fan von Ihnen. Er glaubt, dass Sie das Zeug haben, ganz groß rauszukommen. Kann ich ein Foto mit Ihnen machen? Er wird sich sehr freuen.«
Nein, können Sie nicht, hätte Klaus am liebsten entgegnet, aber trotz seiner Lethargie und des Schocks, der ihm immer noch in den Knochen steckte, setzten die Automatismen ein, auf die er sich immer hatte verlassen können. Auch unter höchstem Druck war er plötzlich wieder der Profi, der nur eins im Sinn hatte: seine Karriere.
»Aber nur ein Foto. Ist es okay, wenn ich im Wagen bleibe?«
»Klar«, nickte der junge Mann und bückte sich etwas. In der rechten Hand hielt er ein Handy, er machte damit ein Selfie. »Danke, echt cool. Und wie gesagt, Sie sollten weiterfahren.«
»Werde ich machen. Grüßen Sie Ihren Vater.«
»Darauf können Sie wetten.«
Klaus hob die Hand zum Gruß und ließ das Fenster wieder hoch fahren.
»Alles gut«, sagte er zu sich. Seine Hände zitterten kaum noch und das trockene Gefühl im Hals ließ auch nach. Warum er sich von diesem Anruf derart hatte ängstigen lassen, konnte er sich nicht erklären. Er dachte überhaupt nicht daran, seine Route zu ändern.
Also startete er den Wagen, atmete noch einmal ein und aus, dann schaute er in die Rückspiegel, setzte den Blinker und drückte aufs Gaspedal.
Mit jedem Meter, den Klaus zurücklegte, kamen die Sicherheit und die Ruhe zurück, und in Gedanken machte er sich über sich selbst lustig, dass er sich wegen eines derart lächerlichen Anrufes so hatte ängstigen lassen.
»Das war bloß ein Spinner«, lachte er und schüttelte den Kopf, doch tief in ihm meldete sich eine zweifelnde Stimme, weil er nicht an Zufälle glaubte. Das beruhte auf seiner Lebenserfahrung.
Woher weiß er, dass du Familie hast?, überlegte er, wischte diese Frage aber sofort beiseite, da er als Politiker in der Öffentlichkeit stand und somit jeder wissen konnte, dass er Familienvater war.
Trotz der ungeplanten Pause lag er noch gut in der Zeit und würde seinen Auftritt nicht verpassen, er hasste Unpünktlichkeit.
Kurz darauf bog er von der Straße ab, in wenigen Minuten würde er sein Ziel erreicht haben. Sein Handy blinkte auf.
»Bestimmt Zoe«, sagte er zu sich und nahm sein Handy aus der Mittelkonsole. »Sicherlich hat sie gebucht.«
Doch als er aufs Display schaute, musste er schlucken. Es war nicht Zoe. Die Nachricht stammte von einer unbekannten Nummer. Es war eine SMS.
Du glaubst also, ich würde scherzen? Ich weiß nicht, ob das ZOE gefallen wird. Aber noch kannst du es schaffen!
Reflexartig ließ Klaus das Handy fallen, die Nachricht hatte ihm einen schmerzhaften Stich versetzt.
»Nur ein Spinner«, versuchte er die aufkommende Angst wieder unter Kontrolle zu bekommen, aber der Gedanke, dass ein Wahnsinniger seiner Tochter etwas antun könnte, half nicht, sich zu beruhigen.
»Du musst die Polizei anrufen. Die können die Nummer zurückverfolgen.«
Doch schnell ließ er den Gedanken fallen, er wollte kein Aufsehen erregen. Negative Presse war das Letzte, was er gerade gebrauchen konnte, schließlich standen einige wichtige Entscheidungen innerhalb der Partei an und sicherlich würden die Parteifreunde Abstand zu ihm nehmen, wenn sie erführen, dass ihn jemand bedrohte.
Politik war ein knallhartes Geschäft, noch schmutziger und unehrlicher als das Lenken eines Unternehmens. Für Schwäche war da kein Platz.
Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?,
antwortete Klaus und brach damit seinen Vorsatz, keine Nachrichten während der Fahrt zu schreiben. Diese Antworten war ihm die Person schuldig. Wie konnte ein völlig Fremder erwarten, dass er um diese Zeit an den verlassenen Ort fuhr, der ihm vorhin genannt worden war?
Und wenn es eine Frau ist? , überlegte er. Nein, dieser Gedanke war total unsinnig. Solche Scherze erlaubten sich nur Männer.
Was, wenn es ein Parteifreund war, der ihn ausmanövrieren wollte?
Nein, auch das schloss er aus. In der Politik kämpfte man zwar mit allen erdenklichen Mitteln, dass aber einer von der CDU zu solch miesen Tricks greifen würde, konnte und wollte Klaus sich nicht vorstellen.
Sein Handy blinkte und er wusste, dass die unbekannte Person ihm wieder eine Nachricht geschrieben hatte. Sein Blick wanderte zum Display, dann öffnete er die Nachricht und las sie.
Sie sind nicht in der Position, Fragen zu stellen. Nutzen Sie meine Gutmütigkeit nicht aus.
»Was bildet sich dieser Idiot ein?«, platzte er heraus. Inzwischen hatte er den Parkplatz des Veranstaltungsortes erreicht. Er stellte den Motor aus. Die Wut half ihm, nicht erneut in Panik zu geraten.
»Du darfst dich nicht kleinkriegen lassen!« Er beeilte sich, eine wütende Antwort zu verfassen – auch aus Sorge, dass er einknicken und von dem Geschriebenen Abstand nehmen könnte, wenn er jetzt zögerte.
Drohen Sie mir oder meiner Familie nie wieder! Sonst gehe ich zur Polizei. Ihre Handynummer und Ihre Nachricht habe ich gesichert.
Er steckte das Handy ein und stieg aus dem Wagen aus, dann betrat er das Gasthaus, wo er heute einen Vortrag vor Parteifreunden halten sollte.
Bevor er in den Saal ging, fragte er nach der Toilette. Er musste sich unbedingt frischmachen, sein Gesicht vom Schweiß befreien, er klebte wie Schmutz an seinen Wangen, so kam es ihm jedenfalls vor.
Nachdem er sein Gesicht gewaschen hatte, schaute er sich im Spiegel an und richtete seine Krawatte. Er wirkte noch immer etwas blass. Seine Augen waren müde und schwer und etwas in ihm sagte, dass er die Rede absagen und nach Hause fahren, den Abend bei seiner Familie verbringen sollte.
Dass das vollkommen unmöglich war, war ihm im selben Augenblick klar, dafür war der Vortrag, war dieser Abend viel zu wichtig, als dass er ihn hätte abblasen können, nur weil ihm gerade danach war, bei seiner Familie zu sein.
»Für den Erfolg muss man Opfer bringen«, hatte sein Vater ihm immer wieder zu verstehen gegeben. Damals, als Jugendlicher, hatte er diese Worte nicht verstanden, doch heute wusste er, dass sein Vater recht hatte.
Das Handy in seiner Jackentasche vibrierte. Er nestelte es heraus und sah, dass der Unbekannte ihm erneut geschrieben hatte. Doch statt die Nachricht zu lesen, steckte er das Handy zurück in die Jackentasche.
Vier Stunden später saß er zufrieden in seinem Wagen. Die Veranstaltung, seine Rede war ein voller Erfolg gewesen. Er hatte reichlich Hände geschüttelt und nicht wenige hatten ihm mitgeteilt, dass sie ihn gerne auf Bundesebene in der Partei sehen würden. Ein Gedanke, der Klaus sehr gefiel, sah er sich doch zu Höherem berufen.
»Langsam zahlt sich das Ganze aus«, sagte er zu sich, während er den Gurt anlegte und den Motor startete. »Warum sollte ich nicht ein Ministeramt bekleiden?«
Er nickte und versuchte den Gedanken zu visualisieren, etwas, was er schon früh gelernt hatte.
»Sie müssen sich Ihre Gedanken, Ideen und Ziele bildlich vorstellen und verinnerlichen, dann können Sie jedes Ziel erreichen. Vergessen Sie nicht, am Ende sind es auch nur Menschen, die ähnliche Ziele bereits erreicht haben. Warum nicht auch Sie?«, hatte sein BWL-Professor ihm vor Jahrzehnten gesagt. Etwas, woran sich Klaus bis heute hielt, er glaubte fest daran.
Er nahm sein Handy aus der Jackentasche und sah, dass Zoe ihm eine Nachricht geschrieben hatte. Die Gesichtserkennung seines Mobiltelefons entsperrte das Gerät, aber statt Zoes Nachricht erschien eine neue SMS von dem Unbekannten. Klaus musste schlucken und seine gute Laune war wie weggefegt, als hätte ein Wirbelsturm sie fortgerissen.
Die SMS enthielt einen Anhang, es war ein Foto von Zoe.
»Du Mistkerl«, rief er.
Die Nachricht dazu umfasste nur fünf Wörter:
Das war ein großer Fehler!
»Zoe!« Seine Tochter hatte ihm doch vorhin erst eine Nachricht geschickt. Er öffnete WhatsApp, aber die Nachricht war schon über drei Stunden alt. Es war die Bestätigung, dass sie das Wellnesshotel gebucht hatte.
Klaus zögerte keine Sekunde und rief Zoe an. Das Freizeichen ertönte, aber seine Tochter nahm das Gespräch nicht an.
Panik überfiel ihn. War es doch ein Fehler gewesen, nicht auf den Erpresser zu hören? Denn nichts anderes als Erpressung war es gewesen, was der Anrufer da veranstaltet hatte.
Klaus wollte sich gar nicht ausmalen, was wäre, wenn dieser Mann seiner Tochter etwas angetan hätte.
»Geh doch ran«, sagte er voller Sorge. Seine Handflächen begannen zu schwitzen.
Inzwischen hatte es bestimmt mehr als zwanzigmal geklingelt.
Er überlegte, ob er seine Frau anrufen sollte, aber vermutlich schlief sie, und wenn sie einen Migräneanfall hatte, wollte er sie nicht wecken. Ganz davon zu schweigen, ihr unnötig Sorgen zu machen, also wählte er erneut Zoes Nummer.
»Geh ran«, murmelte er, während die schlimmsten Ängste in ihm heraufkrochen und seinem Verstand die übelsten Streiche spielten.
Aber Zoe nahm den Anruf nicht entgegen.
»Wollte sie sich nicht mit einer Freundin treffen?«, überlegte er laut. Es war jetzt kurz nach Mitternacht, also durchaus möglich, dass sie noch in irgendeiner Bar abhing.
Aber in welcher? Und vor allem mit welcher Freundin?
Verdammt, du weißt so wenig über ihre Freunde! , machte er sich Vorwürfe. Natürlich wusste er, warum das so war. Seine Karriere, sein Unternehmen und die Partei nahmen viel zu viel Zeit in Anspruch, da blieb kaum Gelegenheit, sich auch noch mit den Freunden seiner Tochter zu beschäftigen.
»Instagram!« Das war eine Idee. Er hatte einen Instagramaccount, weil er ihn für seine politische Karriere benötigte. Dass er von diesen sozialen Netzwerken an sich nichts hielt, war eine andere Sache, aber als Politiker kam er um diese Medien, die seinem Empfinden nach voller Fakenews, Hass und Vorurteile war, leider nicht herum.
Er öffnete das Profil seiner Tochter und schaute in ihren Storys nach, aber die letzte Story hatte sie vor vier Stunden gepostet.
Aus ihrem Zimmer!
Sein Magen zog sich zusammen, er presste den rechten Arm auf den Bauch.
Noch immer wollte er seine Frau nicht anrufen, sondern wählte ein weiteres Mal die Nummer seiner Tochter, jedoch mit dem gleichen vernichtenden Ergebnis. Zoe nahm den Anruf nicht an.
Seine Stirn war inzwischen von kalten Schweißperlen bedeckt.
Klaus überlegte, ob er die Polizei anrufen oder lieber doch erst nach Hause fahren sollte, immerhin war es möglich, dass sie das Handy auf lautlos gestellt hatte und schon schlief.
»Sie schläft bestimmt«, sprach er sich Mut zu und startete den Motor, aber die Schwere, die wie Blei auf ihm lastete, verdrängte den tröstlichen Gedanken. Er fuhr los und kurz darauf klingelte sein Handy.
»Verdammt, Zoe, warum gehst du nicht ans Handy«, nahm er das Gespräch mit einem Mix aus Erleichterung und Wut an.
»Sie hätten auf mich hören sollen«, sagte eine Stimme, die ganz klar nicht zu Zoe gehörte.
»Was haben Sie mit meiner Tochter gemacht?«, platzte Klaus heraus. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, als würde jemand seinen Hals langsam zudrücken.
»Sie sind nicht in der Position, Forderungen zu stellen«, antwortete die Stimme. Sie klang tief und kalt.
Gnadenlos.
»Was wollen Sie von mir?«
»Ihnen eine zweite Chance geben, Ihren Fehler wiedergutzumachen.«
»Was für einen Fehler?« Klaus verstand nicht, vielmehr wollte er nicht verstehen. Wie konnte dieser Tag, der so erfolgreich verlaufen war, in solch einem Desaster enden?
»Sie hören mir nicht zu«, wurde die Stimme ungehalten.
»Bitte, geht es meiner Tochter gut?«
»Wenn Sie Ihre Tochter lebendig sehen wollen, folgen Sie meinen Anweisungen.«
»Ja, ja. Aber bitte tun Sie ihr nichts. Sie hat mit all dem nichts zu tun«, flehte Klaus. Dabei wusste er nicht einmal, was der Entführer überhaupt von ihm wollte.
Natürlich weißt du das! Denk an die beiden anderen Politikermorde. Er will dich töten!
»Es ist allein Ihre Schuld. Das Leben Ihrer Tochter liegt in Ihren Händen. Sie haben genau vierzig Minuten.«
»Wofür?«
»Um das zu tun, worum ich Sie gebeten habe.«
Ein Klacken verriet Klaus, dass der Anrufer aufgelegt hatte. Das Hemd unter seinem Jackett war komplett durchgeschwitzt, fieberhaft überlegte er, was er tun sollte.
»Du solltest zur Polizei gehen.« Aber das war leichter gesagt als getan, aus den unterschiedlichsten Gründen, vor allem aber, weil er Angst um das Leben von Zoe hatte. Er bemerkte nicht, dass er sich schon eine ganze Weile mit dem Zeigefinger gegen die Stirn tippte, immer wieder, wie ein Specht am Baumstamm.
»Du kannst nicht zur Polizei gehen. Wer immer dieser Psycho ist, er wird Zoe töten. Du hast nur vierzig Minuten!«
Aber würde er Zoe wirklich gehen lassen, wenn sich Klaus auf einen Deal einließe?
Sein Handy blinkte und er sah, dass er eine SMS von dem Erpresser bekommen hatte.
Wenn Sie in vierzig Minuten nicht am vereinbarten Ort sind, alleine, dann verspreche ich Ihnen, dass ich Ihre Tochter töten werde! Ein Einsatz der Polizei wäre das Todesurteil für Ihre Tochter!
Klaus schluckte. Er konnte unmöglich die Polizei rufen, also blieb ihm nichts anderes übrig, als loszufahren und das Beste zu hoffen.
Dreißig Minuten später erreichte er sein Ziel, er verlangsamte das Tempo. Sein Herzschlag hätte jeden Technobeat in den Schatten gestellt und seine Gedanken kreisten noch immer um die eine Frage: Was war diesem Mann widerfahren, dass er einen solchen Hass auf Politiker hatte, dass er bereit war, sie zu töten?
Eine Antwort darauf hatte er nicht, obwohl es da ein paar Dinge gab, die es vielleicht erklärt hätten, aber er wollte sich mit diesen Möglichkeiten nicht näher beschäftigen.
In kurzer Distanz sah er das verlassene Gebäude, eine alte Industrieanlage. Laut Navigationsgerät war er am Ziel. Er stoppte den Wagen, stieg aber noch nicht aus.
Plötzlich blendeten ihn Scheinwerfer, es waren die Frontlichter eines Fahrzeugs.
Klaus dachte an seine Waffe, die leider sicher verwahrt zu Hause im Safe lag. Das Einzige, was er zu seiner Verteidigung hätte benutzen können, war ein Taschenmesser.
»Rede mit ihm«, versuchte er sich Mut zu machen, während er ausstieg.
Fast gleichzeitig mit ihm stieg ein Mann aus dem anderen Fahrzeug aus. Er kam auf ihn zu.
»Wo ist meine Tochter?«, fragte Klaus. Er zitterte am ganzen Körper, doch das war nebensächlich, seine Sorge galt allein seiner Tochter.
»Sie ist in Sicherheit und sie wird leben«, antwortete der Mann, der nun etwa fünf Meter vor ihm stand. Klaus konnte sein Gesicht sehen, aber er erkannte den anderen nicht, daher schloss er aus, dass es sich um eine persönliche Fehde handelte.
»Danke«, versuchte Klaus freundlich und besonnen zu erscheinen. Es war ein einfaches Wort, das manchmal Großes bewirken konnte. Gleichzeitig überlegte er fieberhaft, was er sagen könnte, um sein eigenes Leben zu retten, diesen Psychopathen davon abzubringen, ihn zu töten. »Wenn Sie wollen, können wir in Ruhe über alles reden, ich …«, versuchte Klaus an das Gewissen des Mannes zu appellieren.
Der andere antwortete jedoch nicht, sein Blick wirkte ernst, seine Augen strahlten tödliche Entschlossenheit aus.
»Was …«, konnte Klaus noch irritiert sagen, bevor er einen Schuss hörte und ein nie da gewesener Schmerz durch seinen Körper jagte. Er brach zusammen und alles um ihm herum wurde schwarz.