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»J ungs, ihr werdet nicht glauben, wer vor zwei Tagen in den heiligen Hallen dieses Imbisses war«, begann Walter nicht ohne Stolz zu erzählen. Inzwischen war es weit nach Mitternacht und die Polizeibeamten Lasse Brandt und Emre Aydin saßen noch immer im Imbiss ihres Freundes Walter und unterhielten sich angeregt.
»Elton John?«, scherzte Brandt.
»Ist nicht gerade Ed Sheeran auf Tournee? War der echt hier?«, fragte Aydin. Er war der jüngere Partner von Brandt bei der Kölner Kriminalpolizei.
»Nein, aber warum sollte er nicht?«, reagierte Walter schnippisch, es war ihm deutlich anzusehen, dass er eine andere Reaktion erwartet hatte.
»Na, dann spann uns nicht länger auf die Folter.« Brandt konnte sein Grinsen kaum mehr unterdrücken, es machte ihm immer wieder Spaß, den hünenhaften Imbissbudenbesitzer auf die Schippe zu nehmen.
»Mit euch kann man echt keine ernsten Gespräche führen. Egal, ihr wärt eh nie drauf gekommen. Peter Walsh war hier.«
»Echt?«, fragte Aydin. Brandt sah, wie Bewunderung in Aydins Augen aufblitzte. Er selbst nahm die Nennung dieses Namens viel nüchterner hin. Sie beide kannten Peter Walsh und am Ende war er auch nur ein Mensch, selbst wenn er früher ein Top-Geheimdienstagent gewesen war.
»Ja, mit seinem Schwager Marc, der unbedingt Walters berühmte Currywurst essen wollte. Ihr kennt doch Marc?«
»Klar, der hat doch wie Tolga Trisomie 21, das Downsyndrom. Ein ganz lieber Kerl, ich durfte ihn letztes Jahr kennenlernen. War Joe dabei?«
»Logisch, ich habe die beiden auch noch nie getrennt voneinander gesehen. Ich muss gestehen, dieser Walsh ist schon beeindruckend, allein seine Aura ist was Besonderes.«
»Wieso bist du ihm nicht gleich um den Hals gefallen?«, scherzte Brandt.
»Nur kein Neid. Er hat es einfach drauf. Ich wünschte, es gäbe mehr Helden wie ihn auf der Welt. In der heutigen Zeit können wir nicht genug von Menschen wie ihm haben«, entgegnete Walter und das Strahlen in seinen Augen verriet Brandt, dass er seine Worte ernst meinte.
»Immerhin hat Walsh Lasse und mir das Leben gerettet. Wie er damals auf diesen Helikopter gesprungen ist, das war schon ganz großes Kino«, pflichtete Aydin Walter bei und fuhr an Brandt gerichtet fort: »Da kannst du noch so oft ins Gym gehen, aber so was schaffst du niemals.«
»Woher willst du das wissen? Ja, er hat unser Leben gerettet, dafür bin ich ihm sehr dankbar, aber das gehört zu seinem Beruf, so wie es unser Beruf ist, anderen den Arsch zu retten.«
»Lasse ist doch nur neidisch«, scherzte Walter und stützte seine beiden Hände auf seine umfangreiche Hüfte.
»Was hat er denn hier gewollt? Ich würde ihn gerne mal wieder treffen. Irgendwie habe ich mich nie richtig bei ihm bedankt. So jemanden könnten wir bei der Kölner Polizei gut gebrauchen.« Aydin konnte das Schwärmen nicht lassen.
»Keine Ahnung. Er kam aus der Ukraine, davor war er in Osaka. Er ist ja sehr verschwiegen, was seine Arbeit anbelangt. Joe ist da viel gesprächiger. Der hat sich übrigens mit eurem Kollegen Fischer kurz getroffen.«
»Hacker unter sich«, lachte Aydin.
Lutz Fischer arbeitete in der Informationsbeschaffung der Kölner Kripo und war ein absoluter IT-Crack, womit er den beiden Beamten bei ihren Ermittlungen schon oft geholfen hatte. Es war für Brandt und Aydin ein offenes Geheimnis, dass er zudem ein exzellenter Hacker war.
»Macht doch einen Peter-Walsh-Fanclub auf, die Tutus spende ich.«
Bevor die beiden anderen etwas erwidern konnten, klingelte Brandts Handy, er nahm das Gespräch an. Das Telefonat war kurz.
»Lass mich raten, ein Toter?« Aydin presste die Lippen zusammen, seine Mimik verriet, dass er gerade gar nicht in der Laune war, den kleinen Currywurstimbiss zu verlassen.
»Leider. Wir müssen los.«
»Wenn die Pflicht ruft, ruft die Pflicht«, sagte Walter und die beiden Beamten verabschiedeten sich von ihm.
»Wissen wir schon, wer das Opfer ist?«, fragte Aydin, als sie im Wagen saßen.
»Einige Kollegen und die Spurensicherung sind vor Ort. Das Opfer heißt Klaus Lau.«
»Lau? Der CDU-Politiker?«, unterbrach Aydin seinen Kollegen.
»Genau der.«
»Mist, glaubst du, das hat etwas mit den beiden Politikermorden zu tun?«
»Woher soll ich das wissen? Lass uns erst mal zum Tatort.«
»Wo wurde er denn ermordet?«
»Auf einem verlassenen Fabrikgelände in Longerich.«
»Was, wenn Walsh deswegen zurück ist?«
»Wegen Morden an Politikern? Kann ich mir bei seinem Lebenslauf schwer vorstellen. Du hast doch gehört, was Walter gesagt hat, er war in der Ukraine und in Japan. Jede Wette, dass er in einem länderübergreifenden Fall oder so ermittelt.« Auch wenn Brandt den Hype um Walsh nicht verstehen konnte, schätzte er ihn und zollte dem, was er tat, höchsten Respekt. Zumal es schien, dass Walsh hohe moralische Ansprüche an sich selbst und seine Aufträge stellte.
»Vermutlich hast du recht.«
»Der erste vernünftige Satz, den du von dir gibst.«
»Ganz schön arrogant«, moserte Aydin.
»Quatsch, aber ich habe kein Problem damit, meinen Kollegen zu loben, wenn er etwas Richtiges sagt.«
»Vor allem dann, wenn es dich betrifft. Du bist schon ein Narzisst.«
»So ein Quatsch.«
»Doch.«
»Nein!«
»Siehste. Du weißt, dass ich recht habe und deswegen echauffierst du dich gerade so.«
»Seit wann kennst du denn so ein Wort?«
»Witzig.«
Brandt lachte, auch Aydin musste schmunzeln. So oft die beiden auch aneckten oder sich stritten, am Ende waren sie die besten Freunde, was zu Beginn ihrer Zusammenarbeit nicht der Fall gewesen war. Brandt hatte lange gebraucht, bis er sich Aydin gegenüber geöffnet hatte.
Nur wenig später erreichten sie das verlassene Fabrikgelände. Jede Menge Dienstfahrzeuge standen bereits dort.
»Was hast du für uns?«, fragte Aydin Alexander Rech, den Leiter der Spurensicherung.
»Eine Leiche«, war Rechs trockene Antwort. »Das Opfer wurde aus nächster Nähe erschossen.«
»Der Tatort lässt nicht unbedingt auf eine Zufallstat schließen«, kommentierte Brandt. Er ließ seinen Blick über die Umgebung wandern. Dass Lau zufällig hier aufgekreuzt war, war sehr unwahrscheinlich.
»Davon gehe ich auch aus. Gut möglich, dass er seinen Mörder kannte.«
»Habt ihr ein Handy gefunden?«
»Leider nicht, was aber nicht heißt, dass wir es nicht finden. Vielleicht liegt es hier noch irgendwo.«
»Das glaubst du doch selbst nicht, oder? Der Mörder wird es mitgenommen haben.«
»Wahrscheinlich. Wollt ihr mich noch weiter mit sinnlosen Fragen löchern oder darf ich meine Arbeit weitermachen?«
»Lass dich von uns nicht abhalten«, nickte Brandt und trat mit Aydin ein paar Schritte zurück. Rech schien keine gute Laune zu haben, was eigentlich selten der Fall war, denn er gehörte zu den lockeren Kollegen im Team. Für Brandt, der wie Aydin ursprünglich aus Hamburg kam, war Rech der typische Kölner. Immer für einen Spruch zu haben und wegen seiner guten Laune geschätzt. Aber heute erinnerte er ihn eher an einen Berliner Muffel.
Die Leiche lag nur wenige Meter von ihnen entfernt, einige Kollegen von der Spurensicherung waren dort beschäftigt. Brandt trat hinzu und beugte sich herunter, um sich den Toten etwas genauer anzuschauen.
»Sieht nach einem Streit aus«, hörte er eine Stimme, die er gerade am wenigsten hören wollte. Es war Eugen Kramer, der Fallanalytiker der Kölner Polizei und eine Person, mit der Brandt so gar nicht konnte, weil Kramer keine Gelegenheit ausließ, alle Welt durch seine Kompetenz zu beeindrucken.
»Gut möglich«, antwortete Brandt dennoch, ihm war eben derselbe Gedanke gekommen.
»Einen Auftragsmord schließe ich aus. Das Opfer wird diesen Ort bewusst angesteuert haben, sicherlich war er mit dem Mörder hier verabredet. Vielleicht Schwarzgeld, organisiertes Verbrechen.«
»Was ist mit den Parallelen zu den anderen beiden Politikermorden?«, fragte Aydin, er wirkte deutlich skeptischer als Brandt.
»Eher unwahrscheinlich. Ich kenne zwar die Akten nicht, aber soweit ich das in den Medien verfolgt habe, kann man ausschließen, dass sich Täter und Opfer kannten.«
»Mag sein, aber ich finde es etwas verfrüht, das auszuschließen«, blieb Aydin bei seinem Standpunkt.
»Das sowieso«, kam Brandt Kramer zuvor, dem sichtlich ein Satz auf den Lippen lag, den er aber für sich behielt.
»Wer hat es der Polizei gemeldet?«, fragte Brandt, er wollte sich mit dem Zeugen unterhalten. Es war schon befremdlich, dass sich jemand um diese Zeit in der Gegend aufhielt, was den Zeugen jedoch nicht zwangsläufig verdächtig machte.
»Es war ein anonymer Anrufer«, antwortete Kramer.
»Ich bin mir nicht sicher, aber war das nicht bei den anderen Morden auch der Fall?«, fragte Aydin.
»Da liegst du richtig.«
»Vielleicht steht der Mord ja doch in einem Zusammenhang mit den Politikermorden«, überlegte Aydin laut. Brandt sah ihm an, dass er versuchte, eine Verbindung zwischen den Taten herzustellen.
»Wir sollten unbedingt weitere Informationen über die anderen Fälle einholen«, schlug Brandt vor und Aydin nickte. »Komm, schauen wir uns etwas um.«
»Findest du es nicht seltsam, dass jemand einen bekannten Politiker ermordet, dann die Polizei anruft, aber keine Botschaft hinterlässt? Man tötet doch nicht aus purer Mordlust gerade Politiker?«
»Bei deren schlechtem Image würde mich das nicht einmal wundern«, konnte sich Brandt einen bissigen Kommentar nicht verkneifen, aber er dachte wie Aydin. Trotzdem war es zu früh, um auf irgendetwas zu schließen. Die Tat lag noch nicht lange zurück, es war also durchaus denkbar, dass der Mörder seine Motive noch kundtun würde, vermutlich zuerst bei der Presse.
So oder so, dieser weitere Mord würde nicht dazu dienen, Deutschland in den nächsten Wochen friedlicher werden zu lassen.
Brandts Blick blieb auf dem sandigen Boden, der mit wildem Gras bewachsen war, hängen. »Reifenspuren«, sagte er mehr zu sich als zu Aydin.
»Davon muss man ausgehen, Kollege. Der Täter wird schon mit einem Wagen hergekommen sein, das Beamen wurde noch nicht erfunden.«
»Witzig.« Brandt schüttelte den Kopf. »Warum hat sich Lau darauf eingelassen, sich mit dem Mörder hier zu treffen?«
»Er muss ihn gekannt haben.«
»Oder er wurde erpresst. So oder so, wir brauchen unbedingt die Akten der anderen Fälle. Ich habe das nur am Rande verfolgt, da du aber tiefer in der Materie drin bist, würde ich vorschlagen, dass du dich darum kümmerst.«
»Witzig. Gib doch einfach zu, dass du keine Lust auf den Schreibkram hast.«
»So ein Quatsch.« Brandt versuchte ein Lächeln zu unterdrücken. Selbstverständlich hatte er keine Lust auf den Schreibkram, aber so offensichtlich wollte er das seinem Kollegen nicht auf die Nase binden. Die Anforderung von Akten aus anderen Polizeidienststellen, vor allem, wenn sie nicht im selben Bundesland waren, konnte je nach Dienststelle ziemlich nervig sein.
»Ich machs, keine Angst, aber es wäre schön, wenn du einfach mal ehrlich zugeben würdest, dass du keine Lust auf den Papierkram hast.«
»Warum sollte ich? Lass uns noch etwas rumschauen. Ich frag mich, ob diese Einfahrt auf das Gelände die einzige ist.«
Brandt hatte eine Taschenlampe aus dem Dienstfahrzeug mitgenommen, und obwohl die Polizei mobile Flutlichter aufgestellt hatte, war er froh, dass er seine Taschenlampe dabeihatte.
Das Fabrikgelände erweckte den Eindruck, als wäre es seit Jahren verlassen. Wenn sich Brandt nicht irrte, begann nicht weit von dem Grundstück entfernt das Longericher Wäldchen. Es war erstaunlich, wie weit die Natur sich ihr Hoheitsgebiet zurückgeholt hatte. Die Mauern waren von Pflanzen überwachsen und überall wuchsen wilde Sträucher und einige Bäume, die mit Sicherheit nicht von Menschenhand gepflanzt worden waren.
Die Natur holt sich alles zurück , dachte Brandt.
Aber es gab nichts, was ihnen hätte helfen können, in dem Mordfall weiterzukommen. Nur der Verdacht, dass sie es hier nicht mit einem Mord im Affekt zu tun hatten, wurde bestärkt. Der Mörder musste die Tat geplant und das Opfer bewusst hierhergelockt haben. Damit stellte sich erneut die dringende Frage: Warum hatte sich Klaus Lau darauf eingelassen?
Erpressung. Nichts anderes ergab für ihn derzeit Sinn und es konnte zudem ein starkes Motiv sein. Wenn es so war, würden sie nur herausfinden müssen, warum und von wem Lau erpresst worden war.
»Wir sollten die Ehefrau aufsuchen«, sagte Brandt.
»Um diese Zeit?«
Es war inzwischen schon weit nach Mitternacht.
»Spätestens morgen früh wird es ganz Deutschland wissen. Es wäre nicht verkehrt, vorher mit der Frau gesprochen zu haben.«
Aydin nickte. »Dann sollten wir uns die Anschrift besorgen. Ich rufe Fischer an.«
»Sehr gut. Es gefällt mir, wenn du mitdenkst, ich hatte schon die Befürchtung, dass du in deiner Zeit beim Innendienst eingerostet bist.«
Es war noch nicht lange her, dass Aydin für eine Weile im Innendienst gearbeitet hatte – aus verschiedenen Gründen. Doch seit Kurzem waren sie wieder als Partner auf Verbrecherjagd. Auf dem Weg zurück zum Wagen liefen sie ihrer Chefin Kristina Bender fast in die Arme.
»Hallo. Zu euch wollte ich.«
Die beiden begrüßten die Chefin.
»Was ist los?«, fragte Brandt.
»Sicherlich habt ihr von den beiden anderen Politikermorden gehört.«
»Ich nur am Rande, Aydin weiß mehr als ich.«
»Auch wenn es verfrüht ist, von einem Zusammenhang zu sprechen, habe ich bereits angeordnet, dass wir die Fallakten bekommen.«
»Welche Dienststellen sind dafür zuständig?«
»Das weiß ich noch nicht. Sollte morgen früh vorliegen. Leider gibt es noch etwas, vielleicht wisst ihr es schon.«
»Das wäre?«
»Die Presse hat Wind davon bekommen. Ein anonymer Anrufer bei der BILD-Zeitung und dem Express.«
»Mist«, rutschte es Brandt heraus. »Wir wollten eben Laus Ehefrau aufsuchen. Würde mich nicht wundern, wenn die ersten Journalisten vor ihrem Haus lungern.«
»Davon müssen wir ausgehen. Im Präsidium gehen gerade jede Menge Anrufe und E-Mails ein, außerhalb der Absperrung hier habe ich auch schon Medienvertreter gesehen. Ich habe angeordnet, dass wir die Absperrung erweitern. Es dürfen keine Bilder vom Tatort an die Öffentlichkeit gelangen.«
»Dann sollten wir keine Zeit verlieren und Fischer um die Anschrift bitten.«
»Das braucht ihr nicht, ich kenne sie. Aber bitte geht sehr sensibel vor. Klaus Lau war ein Schwergewicht in der CDU von NRW und ihr wisst ja, welcher Partei unser Präsidium nahesteht.«
Bevor Brandt etwas erwidern konnte, hörte er eine Stimme. Es war eine Frauenstimme, sie klang ängstlich. Er drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Eine Frau näherte sich ihnen und endlich verstand er, was sie rief.
»Bitte helfen Sie mir!«