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Köln
B
randt hatte Bender überreden können, die verstörte junge Frau nicht sofort ins Krankenhaus zu fahren, sondern die Unterstützung der Rettungssanitäter vor Ort in Anspruch zu nehmen, um sie zu beruhigen, damit sie sich gleich mit ihr unterhalten konnten.
Das mochte sich herzlos anhören, aber nur so konnten sie sicherstellen, dass sie möglichst viele Informationen über den Tatvorgang erhielten. Wenn die junge Frau erst einmal im Krankenhaus wäre und der behandelnde Arzt keine Vernehmung erlaubte, riskierten sie, dass wichtige Informationen verloren gingen. Das wollte Brandt um jeden Preis verhindern.
»Ist sie vernehmbar?«, fragte Brandt einen der Rettungssanitäter, die sich um die junge Frau kümmerten.
»Ja, aber nur ein paar Minuten. Sie sollte ins Krankenhaus.«
»Nach unserem Gespräch.« Brandt warf Aydin einen kurzen Blick zu, damit er ihm folgte.
»Guten Abend«, sprach Aydin die junge Frau an. Sie war höchstens zwanzig, nach Brandts erstem Eindruck, und trug eine Jogginghose und ein T-Shirt.
Brandt hielt sich bewusst zurück, da Aydin der Einfühlsamere von ihnen war und genau dieses Talent war jetzt gefordert. Noch wussten sie nicht, wer die junge Frau war, aber dass sie hier zufällig gefangen gehalten wurde, wollte Brandt nicht glauben.
Die junge Frau schaute erst zu Aydin, dann zu Brandt.
»Ist das mein Vater?«, fragte sie. Ihre Augen glänzten feucht, aber sie wirkte gefasst. Sie hatte also bereits das weiße Leichentuch auf dem Boden gesehen, das den Leichnam inzwischen bedeckte.
»Wer ist Ihr Vater?«, fragte Aydin.
»Klaus Lau.«
Das ergibt Sinn
, befand Brandt, aber gleichzeitig stellte sich ihm die Frage, warum man Laus Tochter entführt und dann freigelassen hatte. Dass sie entführt worden war, um Druck auf den Vater auszuüben, war naheliegend. Vermutlich war das auch der Grund, warum Lau diesen einsamen Ort aufgesucht und nicht die Polizei gerufen hatte.
»Ist das mein Vater?«, fragte die Tochter erneut. Ihre Blicke wanderten zwischen Brandt und Aydin hin und her und blieben dann bei Aydin hängen.
Der presste die Lippen zusammen und fast wirkte es auf Brandt, als hätte er einen Kloß im Hals, als er antwortete: »Ja. Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Vater ermordet wurde.«
Der Blick der Tochter wurde starr und schien ins Nichts zu gehen, sie sagte nichts, sie wirkte wie versteinert. Dann schluckte sie und eine Träne löste sich aus ihrem rechten Auge und wanderte ihre Wange herunter. »Er ist meinetwegen gestorben«, sagte sie, dann schluchzte sie auf. Weitere Tränen flossen.
Aydin nahm ein Taschentuch und reichte es der jungen Frau – eine Geste, die Brandt oft bei seinem Kollegen beobachtet hatte und die diesmal überhaupt nicht so kitschig anmutete wie in manch anderer Situation.
Die Tochter tupfte sich die Tränen aus den Augen. »Er ist meinetwegen gestorben«, wiederholte sie.
»Das dürfen Sie nicht denken«, versuchte Aydin ihr diesen furchtbaren Gedanken zu nehmen. Er war in Brandts Augen auch völlig unbegründet.
»Warum sonst? Ich wurde entführt und dann haben sie ihn hierhergelockt, um ihn zu töten.«
»Können Sie sich an die Entführung erinnern?«, fragte Brandt. Er wollte der jungen Frau Glauben schenken. Dass man sie als Köder benutzt hatte, um Lau in den Hinterhalt zu locken, klang absolut plausibel.
Die junge Frau antwortete nicht sofort, ihr Blick war in die Ferne gerichtet. »Ich will meinen Vater sehen«, sagte sie dann.
»Das ist ausgeschlossen«, erklärte Brandt und kam damit Aydin zuvor, der es ihr vielleicht ermöglicht hätte. Er war manchmal zu freundlich und zuvorkommend. Der Tochter in diesem Moment die Leiche ihres Vaters zu zeigen, hätte sie womöglich traumatisiert.
»Er ist mein Vater, ich muss ihn sehen«, blieb sie hartnäckig. Diesmal warf sie Brandt einen Blick zu, der geradezu wütend wirkte.
Eine Tochter, die vermutlich immer bekommt, was sie will, und ihren Vater um den kleinen Finger wickelt, weil sein Beruf es ihm nicht erlaubt, viel Zeit mit ihr zu verbringen
, dachte Brandt unwillkürlich. Doch so vorschnell durfte er nicht urteilen, schließlich kannte er sie nicht und in diesem Augenblick war sie zu aufgewühlt. Sie war entführt und ihr Vater auf brutale Weise ermordet worden, dafür hielt sie sich ganz schön tapfer. Brandt hatte da schon ganz andere Szenen erlebt.
»Frau Lau, in Ihrem eigenen Interesse können wir das nicht erlauben. Sie werden noch Gelegenheit bekommen, sich von Ihrem Vater zu verabschieden. Bitte versuchen Sie sich an die Entführung zu erinnern, jeder noch so kleine und unbedeutende Hinweis kann uns helfen, dem Täter auf die Spur zu kommen. Haben Sie vielleicht etwas Ungewöhnliches gehört? Eine Stimme, mehrere Stimmen, oder haben Sie etwas gesehen?«
»Ich weiß nichts. Ich lag in meinem Bett, und als ich aufwachte, war ich hier.«
Betäubt!,
schoss es Brandt durch den Kopf.
»Wann sind Sie ins Bett gegangen?«, erkundigte er sich. Er wollte rekonstruieren, wann sie entführt worden war. Immerhin musste sich der Täter Zutritt zum Anwesen der Familie verschafft haben, eventuell war er dabei beobachtet worden.
»Ich war schon kurz nach 21 Uhr im Bett. Eigentlich wollte ich mich mit einer Freundin treffen, aber sie hat abgesagt. Ich habe im Bett ferngesehen und gedöst. Als ich zu mir kam, war ich hier.«
»Schlafen Sie bei offenem Fenster?«
»Ja, warum?«
Brandt antwortete nicht, er hielt es für möglich, dass sich der Täter über das Fenster Zugang zu ihrem Zimmer verschafft hatte. Wenn die Tochter geschlafen hatte, war es sehr gut möglich, dass sie nichts mitbekommen hatte. Dennoch war ein solches Vorgehen für den Täter nicht ohne Risiko. Brandt musste sich unbedingt das Haus der Familie anschauen.
»Können Sie uns die Stelle zeigen, wo Sie aufgewacht sind?«
»Ich denke schon«, sie nickte.
»Danke«, antwortete Aydin. Brandt winkte derweil ein paar Kollegen von der Spurensicherung zu ihnen.
Die beiden Beamten, einschließlich eines Sanitäters und der Spurensicherung, folgten der jungen Frau in das verlassene Fabrikgebäude.
»Hier war es«, sagte die Tochter. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, ihre Augen waren weit aufgerissen, als würde sie sich vor etwas ekeln.
Erstaunlicherweise erweckte sie ansonsten keinen ängstlichen Eindruck, sie wirkte noch immer gefasst. Entweder war sie viel stärker, als Brandt annahm, oder sie stand unter Schock und es dauerte noch, bis sie die ganze Tragweite dieser Tragödie realisieren würde.
»Vielen lieben Dank, das haben Sie sehr gut gemacht«, sagte Aydin freundlich, dann wandte er sich an den Sanitäter. »Sie können die Dame ins Krankenhaus fahren.«
»Mach ich.«
»Nein, ich will nach Hause zu meiner Mutter«, erwiderte die Tochter.
»Sie stehen unter Schock. Sie sollten sich unbedingt untersuchen lassen. Wir werden Ihre Mutter informieren, versprochen«, antwortete Aydin.
»Nein, ich will zu meiner Mutter«, beharrte sie.
»Wir können Sie gut verstehen, aber glauben Sie uns, Sie tun weder sich noch Ihrer Mutter damit einen Gefallen. Mein Kollege und ich werden gleich zu ihr fahren und sie informieren. Sie wird Sie im Krankenhaus aufsuchen.«
»Sie verstehen gar nichts«, wurde die Tochter laut. »Ich bin volljährig, mir geht es gut und ich will zu meiner Mutter. Sie können mir das nicht verbieten.«
Brandt überlegte kurz, aber die Tochter hatte recht. Er hätte sie natürlich zwangseinweisen können, aber mit welcher Begründung?
»Gut, fahren wir gemeinsam zu Ihrer Mutter«, schlug er dann vor.
Die Tochter nickte nur. Der Sanitäter schien nicht besonders glücklich über diese Antwort zu sein, schwieg aber.
Knapp vierzig Minuten später erreichten die beiden Beamten mit der Tochter die Wolfgang-Müller-Straße in Marienburg. Es hatte Brandt einiges an Überredungskunst gekostet, bis Bender ihrem Vorgehen zugestimmt hatte.
Natürlich wäre es besser gewesen, die beiden hätten sich alleine mit der Mutter unterhalten, weil die Gefahr bestand, dass die Schilderungen der Tochter sie komplett aus der Bahn werfen würden. Doch sie hatten keine andere Wahl, selbst Bender hatte die Tochter nicht davon überzeugen können, sich im Krankenhaus behandeln zu lassen.
Die Tochter betätigte die Türklingel, da ihre Hausschlüssel in ihrem Zimmer lagen.
Das Haus war sehr modern, es zeigte, dass hier jemand wohnte, dem es finanziell sehr gut ging, der aber nicht unbedingt zu den ganz Reichen der Stadt zählte. Gerade der Kölner Stadtteil Marienburg war über die Stadtgrenzen hinaus für seine Villenkolonien bekannt.
Ein Zaun schützte das Anwesen vor neugierigen Blicken, vor der Haustür war eine Kamera angebracht. Andere Kameras hatte Brandt nicht gesehen, aber das musste in der Dunkelheit nichts bedeuten. Wenn sie Glück hatten, gab es noch weitere Kameras, die womöglich etwas aufgezeichnet hatten.
Nur wenige Sekunden nach dem Klingeln wurde die Tür geöffnet.
»Zoe, warum hast du keinen Schlüssel?«, fragte eine sichtlich verschlafene Frau, es konnte nur die Mutter sein. Noch schien sie nichts zu ahnen, da ihre Worte eher vorwurfsvoll als besorgt klangen.
»Mama …«, brachte Zoe nur heraus, dann fing sie an zu weinen. Ihre Mutter nahm sie in die Arme.
»Was ist los?« Nun schwang deutliche Sorge in ihrer Stimme mit.
»Frau Lau, wir sind von der Kölner Kriminalpolizei. Dürfen wir kurz eintreten?«, antwortete Aydin.
»Ja, bitte. Was ist denn passiert? Hat meine Tochter etwas angestellt?« Die Mutter schien noch immer nicht das Ausmaß der Tragödie zu ahnen. Ein Blick ins Internet hätte gereicht, um zu wissen, was sich abgespielt hatte.
Auf dem Weg zum Wohnort der Laus hatte Brandt einige Online-Auftritte der Zeitungen aufgerufen, weil er in Erfahrung bringen wollte, was die Presse wusste. Deswegen hatte er Aydin gebeten zu fahren, sonst fuhr er. Doch die Medien hatten ebenso wenig echte Hinweise auf den aktuellen Fall wie sie. Offensichtlich hatte der Täter der Öffentlichkeit noch keine Gründe für seine brutale Tat geliefert.
Die Beamten folgten der Mutter und Zoe ins Haus bis ins Wohnzimmer. Das moderne Ambiente der Außenansicht setzte sich im Inneren fort. Eine klare, zeitgenössische Linie. Hier hatte sich jemand Gedanken gemacht.
»Möchten Sie mir jetzt verraten, was los ist?« Die Mutter warf Brandt einen prüfenden Blick zu, ihre Stirn war in Falten gelegt und sie massierte sich kurz die linke Stirnhälfte. Für Brandt sah es so aus, als wäre sie nervös oder litte unter Spannungskopfschmerz.
Aydin schaute zur Seite, damit war für Brandt klar, dass ihm die unrühmliche Rolle als Überbringer der furchtbaren Nachricht zuteilwürde. Er überlegte kurz, ob er die Mutter bitten sollte, Zoe in ihr Zimmer zu bringen, um ungestört mit ihr reden zu können, aber so, wie er die Tochter einschätzte, würde sie daran etwas auszusetzen haben, was dem weiteren Gespräch sicherlich geschadet hätte.
»Frau Lau, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann heute Nacht ermordet wurde.«
»Wie bitte? Das kann unmöglich sein, er ist …«, antwortete die Mutter, dann unterbrach sie sich und schwieg.
»Sie haben Papa ermordet«, sagte Zoe schließlich und drückte sich noch enger an ihre Mutter.
Die war wie versteinert, als könnte sie nicht glauben, was sie gerade gehört hatte, als wäre das alles ein böser Scherz.
»Wir können verstehen, wie schwer das in diesem Moment für Sie ist, aber leider müssen wir Ihnen ein paar Fragen stellen«, versuchte Brandt, die Frau aus ihrer Lethargie zu holen.
Solche Gespräche gehörten zu den Dingen, die er an seinem Beruf hasste, aber das bedeutete nicht, dass er deswegen nicht im Interesse der Ermittlungen vorgehen würde. Je schneller sie nach einer Tat Informationen und Hinweise sammelten, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie für den Fall verwertbar waren.
Die Mutter schluckte, dann schaute sie Brandt an und er erkannte, dass sie realisiert hatte, was geschehen war. Dennoch wirkte ihr Blick seltsam ruhig, als wäre ihr selbst in dieser schweren Stunde ihre Würde sehr wichtig.
»Schatz, magst du auf dein Zimmer gehen?«
Zoe nickte nur, dann löste sie die Umklammerung und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, entfernte sie sich.
»Warum mein Mann? Er hat doch so viel Gutes getan.«
»Genau das versuchen wir herauszufinden, dafür benötigen wir Ihre Hilfe.«
»Glauben Sie, dass es etwas mit den anderen Morden zu tun hat, mit den anderen beiden Politikern?« Die Frau wirkte nun deutlich gefasster, ihr Blick strahlte noch immer diese Würde aus, obwohl es in ihrem Inneren vermutlich gerade ganz anders aussah. Aber wer konnte schon in die Seele eines Menschen schauen?
»Das wissen wir noch nicht. Ist Ihnen bekannt, ob Ihr Mann in letzter Zeit Probleme hatte?«, fragte Brandt.
»Probleme?«
»Nun, gab es Personen, die ihn angegriffen haben? Nicht körperlich, verbal«, führte Aydin Brandts Gedanken weiter. Sie waren ein perfekt eingespieltes Team, stellte Brandt wieder einmal fest.
»Welcher Politiker mit Ambitionen hat keine Feinde?«
»Gab es nicht vielleicht ungewöhnliche Drohungen? Manchmal werden solche schlimmen Taten angekündigt.«
»Nein, und wenn, mein Mann hatte die Angewohnheit, nie über solche Dinge mit uns zu reden. Er wollte uns nicht ängstigen.«
Brandt verstand. Wie es schien, hatte sich die Frau nie wirklich für die Karriere ihres Mannes interessiert. Das Haus und die Einrichtung sagten ihm jedoch, dass Lau sein Vermögen sicherlich nicht in der Politik gemacht hatte.
»Ist Ihr Mann Unternehmer?«, fragte er daher.
»Ja, es ist ein Familienunternehmen. Er hat es von seinem Vater übernommen, der vor einigen Jahren die Geschäftsführung abgegeben hat. Aber auch hier muss ich Sie enttäuschen. Ich war nie in die Geschäfte meines Mannes involviert, trotzdem kann ich mir schwer vorstellen, dass ein Konkurrent ihn töten würde.«
Ehefrau von Beruf,
dachte Brandt unwillkürlich.
»Sind auf dem Grundstück Kameras angebracht?«
»Ja, vor der Eingangstür.«
»Nirgendwo anders?«
»Nein. Hier wohnt man recht sicher. Warum?«
Wie es schien, ahnte die Mutter noch immer nicht, dass ihre Tochter entführt worden war. Sie hatten es ihr zwar auch nicht deutlich gesagt, aber es war naheliegend, denn wer ging schon in Jogginghose und T-Shirt zu einer Party. Lag ihre Ahnungslosigkeit also am Schock, weil der Schmerz über den Verlust ihres Mannes zu tief saß, oder ging sie tatsächlich davon aus, dass ihre Tochter das Haus aus freien Stücken verlassen hatte?
»Dürfen wir uns die Aufzeichnungen der Überwachungskamera anschauen?«
»Das läuft über eine externe Sicherheitsfirma. Ich kann Ihnen gerne die Kontaktdaten schicken.«
»Danke.«
»Aber wofür brauchen Sie das? Glauben Sie … Wurde Zoe entführt?« Die Mutter unterbrach sich und schlug die Hand vor den Mund, offensichtlich hatte sie das Naheliegende realisiert. »Oh mein Gott.« Der Schreck stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Dann habe ich es mir also nicht eingebildet.«
»Was?«, fragte Aydin.
»Die Gestalt am Fenster.«