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Lübeck
»S ind wir startklar?«, fragte Willy Klausen, der Leiter der Lübecker Mordkommission.
»Sind wir. Wir warten nur noch auf ein Zeichen von den Kölner Kollegen«, antwortete Tim, der seit Kurzem die IT-Abteilung bei der Lübecker Kripo leitete.
»Sehr gut. Kristina Bender meinte, dass auch die Kollegen vom BKA in Köln dabei sind. Wollen wir hoffen, dass sie uns weitere Hinweise liefern.«
»Die?« Arndt Schumacher machte eine abwertende Geste. Er war der leitende Ermittler in diesem Fall, zusammen mit Elke Henschel. Bisher hatten die Kollegen vom BKA nicht gerade damit geglänzt, sich nützlich zu machen. Sie sogen bloß Informationen auf, teilten aber nur wenig ihres eigenen Wissens.
»Sei doch nicht immer so negativ«, erwiderte Ole, der die Leitung der Spurensicherung innehatte. »Vielleicht liegt es auch an deiner Art, dass die vom BKA Informationen zurückhalten.«
»Witzig«, bemerkte Arndt, er wusste, dass Ole sich nur einen kleinen Scherz erlaubte, da sich beide sehr gut verstanden. Ole war eben berüchtigt für seine trockenen Sprüche, die man einfach mit Humor nehmen musste, denn er meinte es nicht böse.
Willy holte Luft und wollte etwas sagen, als das Telefon klingelte. Tim nahm das Gespräch an.
»Alles klar, ich logge mich ein. Du kannst das Video remote an mich streamen, dann sehen wir das alle hier. Mein Laptop ist am Beamer angeschlossen«, sagte Tim und beendete das Gespräch.
»Gehts los?«, fragte Willy. Er wirkte angespannt, immerhin hatte dieser Fall inzwischen bundesweit für Aufsehen gesorgt und der öffentliche Druck wurde immer größer, die Presse klebte wie eine Zecke an ihrem Chef.
»Ja, die Kollegen haben eine Kameraaufzeichnung, die sie mit uns teilen wollen. Ich werde das remote streamen und auf den Beamer bringen.«
»Gut.«
Alle Blicke waren auf Tim gerichtet, der etwas in die Tastatur seines Laptops hämmerte. Dann erschien plötzlich ein Bild an der Wand, gleichzeitig hörten sie über die Lautsprecher der Spinne, so nannten sie intern die Telefonkonferenzanlage, eine Stimme.
»Lutz Fischer hier. Tim, hast du das Bild?«
»Ja, hat geklappt. Wir sind so weit.«
»Sehr gut. Erst mal herzlichen Dank, dass ihr es einrichten konntet, kurzfristig zur Telko zu erscheinen«, hörten sie Bender sagen.
»Wir danken für die Einladung. Schließlich liegt es in unser aller Interesse, dass wir uns so gut wie möglich abstimmen«, erwiderte Willy. »Wie wollen wir vorgehen?«
»Ich denke, es wäre optimal, wenn Fischer und Tim übernehmen. Vielleicht liefert die Kameraaufzeichnung wichtige Hinweise«, schlug Bender vor.
»Das hört sich gut an. Dann machen wir das so.«
»Eine Frage«, machte sich Arndt bemerkbar. »Wer leitet von eurer Seite die Ermittlungen? Arndt Schumacher hier. Elke und ich haben den Fall für die Lübecker Kripo übernommen.«
»Super. Das freut Emre und mich«, hörten sie nun eine bekannte Stimme. »Brandt hier. Mein Kollege und ich sind in Köln die leitenden Ermittler. Ich denke, dass wir mit unserer Abstimmung keine Schwierigkeiten haben werden.«
»Das denke ich auch«, lachte Arndt, Brandt stimmte ein. Arndt war beruhigt. Seit sie vor einigen Jahren schon einmal gemeinsam in einem Fall ermittelt hatten, war er mit Brandt und Aydin befreundet. Und nichts war für die Arbeit angenehmer, als wenn man die Kollegen der anderen Dienststelle kannte und gut mit ihnen stand, das erleichterte die Zusammenarbeit ungemein, gerade wenn Kompetenzrangeleien drohten.
Arndt war ein Polizist der alten Schule. Er hatte seinen Beruf von der Pike auf gelernt, er hatte auf der Straße im Streifendienst begonnen und dementsprechend dachte und handelte er noch heute. Er hasste Bürokratie und da Brandt in dieser Hinsicht ähnlich tickte, arbeitete er sehr gerne mit ihm und Aydin zusammen.
»Moin, Jungs, und auch ein Moin an alle anderen Kollegen«, sagte Elke Henschel.
»Hallo, Elke«, hörte Arndt, wie mehrere antworteten.
»Ein Hallo an alle«, gab Bender zurück. »Ich denke, wir sollten anfangen.«
»Dem ist nichts hinzuzufügen«, nickte Willy und nahm einen Schluck aus seinem Becher.
»Tim, bist du so weit?«, fragte Fischer.
»Ja, du kannst starten.«
»Ich werde langsam vorspulen und nur die relevanten Szenen, die für die Tatzeit infrage kommen, abspielen.«
»Okay.«
Arndts Blick war auf die weiße Leinwand gerichtet, wohin der Beamer die Kameraaufzeichnung projizierte.
Aufmerksam verfolgten er und die Kollegen die Aufzeichnung.
»Stopp«, sagte Arndt.
»Hast du was gesehen?«, fragte Tim und die Aufzeichnung stoppte.
»Vielleicht. Was war da hinten rechts?«
»Lutz, kannst du ein paar Sekunden zurückspulen und den Filmausschnitt hinten rechts vergrößern?«
»Das sollten wir hinkriegen. Gib mir ein paar Sekunden.«
Arndt hasste es, zu warten, aber welche Wahl hatte er. Ob da tatsächlich etwas war oder ob er sich geirrt hatte, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, aber einen Versuch war es allemal wert.
Die Aufzeichnung lief diesmal noch langsamer ab und da sah er es wieder. Da war etwas.
»Das ist doch ein Mann«, hörte er Brandt sagen, der ihm damit zuvorkam. »Kannst du es bitte noch weiter heranzoomen und die Qualität erhöhen?«
»Ich bin dran.«
Und wieder war Warten angesagt. Arndts Blick wanderte zu Willy, der nicht minder angespannt war als er. Auch Elke, die zu seiner Rechten saß, wirkte hoch konzentriert. Bisher hatten sie nur im Dunkeln gestochert. Der Täter hatte ihnen keine Hinweise geliefert, was darauf schließen ließ, dass sie es mit einem Profi zu tun hatten. Aber für einen terroristischen Anschlag fehlte das Bekennerschreiben, sodass das Lübecker Team auch einen Auftragsmord in Betracht zog.
»Schärfer kriege ich es auf die Schnelle nicht hin. Aber ich werde mich nachher noch mal dransetzen, vielleicht kann mir Tim helfen.«
»Klar.« Tims Freude war nicht zu übersehen. Auch zwischen den beiden IT-lern war eine Freundschaft entstanden.
»Das wäre sehr gut. Ich denke, wir stimmen darin überein, dass es sich bei dem Täter um einen Mann handelt, der vermutlich größer als einen Meter achtzig ist«, kommentierte Brandt das Standbild, auf dem man allerdings nur den schmalen Ausschnitt einer Person von hinten erkannte. Zu Identifikationszwecken war das Bild unbrauchbar.
»Davon gehe ich auch aus. Vielleicht kriegen das Lutz und Tim schärfer. Außerdem haben wir noch nicht die restliche Aufzeichnung gesehen«, hörten sie Aydin sagen.
»Dann spule ich weiter, wenn keine weiteren Fragen sind. Das Bild und die Szene habe ich gesichert.«
»Dann geht es weiter, oder, Willy?«, schaltete sich Bender ein.
»Von unserer Seite aus geht das in Ordnung.« Willy nickte.
Die Aufzeichnung wurde langsam vorgespult, aber sie zeigte keinen weiteren Hinweis auf den Täter. Für Arndt war damit klar, dass der Mann vermutlich Kenntnis von der Kamera gehabt und sich außerhalb ihres Aufzeichnungsradius bewegt hatte. Dass sie dennoch ein Stück seines Körpers auf der Aufzeichnung hatten, war somit ein glücklicher Zufall. Und noch etwas anderes war nun klar: Sie hatten es mit einem Profi zu tun, daran zweifelte Arndt immer weniger. Drei Morde an drei Politikern in so kurzer Zeit, wer da keinen Zusammenhang sah, war einfach naiv.
»Das wars. Ich glaube, wir haben nichts übersehen. Aber ich werde die Aufzeichnung noch durch eine spezielle Software jagen, vielleicht ist uns doch etwas entgangen.«
»Mach das. Danke«, hörten sie Bender sagen.
»Auch von unserer Seite besten Dank. Gute Arbeit. Alles andere solltest du mit Tim abstimmen«, schlug Willy vor.
»Das machen wir. Ich ruf dich nachher an.«
»Mach das«, antwortete Tim.
»Nach der Besprechung schicke ich euch einen Bericht über den aktuellen Stand unserer Ermittlungen, wäre super, wenn du mir auch einen Bericht über euren Stand der Ermittlungen schicken könntest. Und ich würde vorschlagen, dass wir jetzt den Kollegen vom BKA das Wort übergeben«, übernahm wieder Bender.
»Das können wir so machen.« Willy nickte wieder, was Arndt insgeheim zum Schmunzeln brachte, schließlich hatten sie nur eine Telefon- und keine Videokonferenz und Bender konnte sie nicht sehen.
»Auch seitens des BKA herzlichen Dank für die Einladung zur Besprechung. Darf ich kurz meine beiden Kollegen und mich vorstellen? Einige hier kennen uns noch nicht«, meldete sich ein BKA-Beamter zu Wort, dessen Stimme Arndt bekannt vorkam, er glaubte auch zu wissen, wer es war.
»Zu meiner Rechten sitzt Fabio Fox«, fuhr der Mann fort. »Und zu meiner linken Clemens Schaar. Mein Name ist Tamme Sowa.«
Arndt fühlte sich in seiner Annahme bestätigt, er hatte bereits auf Sowa getippt, mit dem er bisher zweimal telefonisch und einmal persönlich Kontakt gehabt hatte. Sowa war kleiner als er, vermutlich um die ein Meter fünfundsiebzig, aber sein Ego hielt locker mit der Größe eines Basketballspielers mit. Seine Arroganz hatte Arndt schon das ein oder andere Mal zur Weißglut gebracht und es war nur Elke zu verdanken, dass er sich nicht vergessen hatte.
Jede Wette, der trägt wieder Anzug, dachte er, weil er bei ihrer ersten Begegnung schon durch seine schicke Kleidung aufgefallen war. Arndt hingegen war eher der T-Shirt-und-Jeans-Typ.
»Dann klären Sie uns doch bitte auf, was das BKA weiß«, hörten sie Bender sagen.
»Ich fürchte, dass ich Sie enttäuschen werde, da wir nicht viel mehr Informationen haben. Was wir …«
»Haben oder nicht teilen wollen?«, unterbrach Brandt ihn scharf. »Wir haben drei tote Politiker und wie es ausschaut keine wirklichen Hinweise. Sie sind doch eng mit den Nachrichtendiensten vernetzt, ich kann mir kaum vorstellen, dass man in Deutschland drei Politiker töten kann, ohne dass das BKA oder die Geheimdienste davon Wind bekommen.«
»Wir brauchen Ihre Unterstützung, deswegen sind wir hier. Dass wir keine Informationen teilen wollen, entbehrt jeder Grundlage.«
»Dann teilen Sie uns doch Ihren aktuellen Informationsstand mit«, unterstützte Arndt Brandts Worte.
»Das wollen wir, wenn wir aussprechen dürfen«, reagierte Sowa gereizt. »Es wäre natürlich gut, wenn die Kollegen aus Frankfurt bei dieser Schalte dabei wären, oder wird das heute nichts mehr?«
Jetzt, wo Sowa es ansprach, wunderte das auch Arndt. Immerhin hatte Willy ihnen vor der Besprechung mitgeteilt, dass sich auch ein Team der Kollegen aus Frankfurt in die Telko einwählen würde, weil der zweite Mord in deren Zuständigkeitsgebiet fiel. Welche Beamten in dem Fall ermittelten, wusste Arndt nicht.
»Die Kollegen sind noch immer unterwegs, in einer dringenden Angelegenheit. Gerade eben kam die Nachricht, dass sie sich nicht in die Telko einklinken können«, hörten sie Fischer erklären. »Aber ich werde ihnen das Gesprächsprotokoll senden und bei Bedarf können wir jederzeit eine weitere Telko vereinbaren.«
»Das ist nicht optimal, aber gut.« Sowa schien tief Luft zu holen, so jedenfalls hörte es sich an.
»Was wir gesichert teilen können, ist, dass alle drei Politiker erschossen wurden. Beim Mord in Lübeck und Köln fand die Exekution aus nächster Nähe statt und das Projektil traf das Herz, was zum sofortigen Tod führte. Beim zweiten Mord, dem in Frankfurt, wurde die Lunge getroffen. Das Opfer starb, kurz nachdem das Projektil die Lunge durchbohrt hatte.«
»Glauben Sie, es war Zufall, dass beim zweiten Opfer die Lunge getroffen wurde?«, fragte Aydin.
»Das wissen wir nicht. Es wäre möglich. Ebenso kann es sein, dass der Täter von seiner ersten Tat ablenken wollte.«
»Warum sollte er das? Soweit ich es Willys Bericht entnommen habe, wurde auch beim Opfer in Lübeck eine Neun-Millimeter-Waffe benutzt, sodass wir davon ausgehen müssen, dass mit derselben Waffe geschossen wurde. Ich vermute, dass auch das Opfer in Frankfurt mit einer Neun-Millimeter-Waffe erschossen wurde«, hakte Bender nach. Etwas schien sie zu wurmen, Arndt hörte das deutlich an ihrer Stimme.
»Es sieht danach aus. Wir haben erst heute Morgen den vorläufigen Bericht der Spurensicherung von dort erhalten. Aber vieles deutet darauf hin, dass bei dem ersten und dem dritten Mord dieselbe Waffe und die gleiche Munition mit der gleichen Geschossform genutzt wurden.«
»Und was ist mit dem zweiten Mord?«, erkundigte sich Willy.
»Die Auswertung hat ergeben, dass zwar eine Neun-Millimeter-Waffe, aber eine andere Geschossform als bei den anderen beiden Morden genutzt wurde.«
Arndt wollte seinen Ohren nicht trauen.
»Warum sollte der Täter eine andere Geschossform nutzen?«, fragte er daher.
»Vielleicht haben wir es mit zwei Tätern zu tun«, meldete sich Brandt, Arndt schoss im selben Moment der gleiche Gedanke durch den Kopf.