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11. September, Köln
Z oe hatte ihre Mutter überzeugen können, sie nicht zu ihren Großeltern nach München zu schicken. Heute fühlte sie sich auch etwas besser, der gestrige Tag war sehr schlimm gewesen. Sie hatte die ganze Zeit nur geheult, vermutlich lag es daran, dass sie erst da so richtig realisiert hatte, dass sie ihren Vater nie wiedersehen würde.
Ihre Mutter hatte Trost im Alkohol gefunden. Zoe hatte sich gegen diese einfache Lösung gewehrt. Am vergangenen Tag hatten ein paar Fahrzeuge der Presse in der Nähe ihres Hauses gestanden, sie hatte das vom Fenster ihres Zimmers aus beobachtet. Jetzt waren sie verschwunden. Zoe vermutete, dass ihre Mutter ihre Kontakte hatte spielen lassen.
Gerade saß sie an ihrem Laptop und versuchte sich ein wenig abzulenken, was ihr aber mehr schlecht als recht gelang. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab.
»Wie konnte der Täter in mein Zimmer gelangen, ohne dass ich es bemerkt habe«, fragte sie sich und machte sich gleichzeitig Vorwürfe. »Wenn ich nicht entführt worden wäre, würde Papa noch leben.«
Sie fror plötzlich, dabei waren die Fenster zu, draußen schien die Sonne und es waren mindestens 26 Grad. Zudem trug sie einen Hoodie, es gab also keinen Grund, zu frieren.
Sie fuhr sich mit den Händen über die Arme, aber es half nicht. Sie fror noch immer und der Gedanke, dass sie für den Tod ihres Vaters verantwortlich war, ließ sie nicht los.
»Nein, das darfst du nicht denken. Wer immer das war, er wollte Papa tot sehen«, suchte sie einen Halt, um nicht noch tiefer in das finstere Loch zu stürzen.
Zoe schluckte. Es fühlte sich an, als hätte jemand einen tonnenschweren Stein in ihrem Magen versenkt. Dieses Gefühl der Schuld würde sie jeden Tag begleiten und ein vernünftiges Leben, das es erlaubte, die Trauer irgendwann zu überwinden, unmöglich machen.
»Außer du findest den Mörder und bringst ihn um«, dachte sie laut und knirschte mit den Zähnen. Sie rümpfte die Nase und überlegte, wie sie das anstellen könnte. Dass sie fähig wäre, den Mörder ihres Vaters zu erschießen, daran zweifelte sie keine Sekunde. Ihr Vater besaß eine Waffe, die im Safe deponiert war, den Mitteln stand also nichts im Wege, aber wie sollte sie den Mörder finden? Sie war doch nur eine junge Frau.
Ob ihr Traum am vergangenen Tag einen realen Ursprung hatte? Sie musste wieder an die Bilder denken. Das alles hatte sich so wirklich angefühlt, dass sie bis gestern mit dem Gedanken gespielt hatte, zu glauben, was sie geträumt hatte. Doch inzwischen überwogen die Zweifel. Sie war nicht im Kofferraum des Wagens aufgewacht, das war unmöglich, da sie erst in dem verlassenen Gebäude zu sich gekommen war, das stand außer Frage. Und das mit dem Tattoo hatte sie sich bestimmt auch nur eingebildet. Soweit sie wusste, gab es dafür einen Fachbegriff: Posttraumatischer Stress.
»Ich muss was tun, sonst drehe ich durch!«
Sich auf die Polizei zu verlassen, brachte ihr keine Ruhe. Das Problem war, sie hatte überhaupt keine Ahnung, wo sie anfangen sollte.
»Das Tattoo! Was, wenn es doch kein Traum war?« Sie schüttelte den Kopf. Tattoos waren heutzutage sehr verbreitet, nichts Besonderes, daher glich die Suche nach einem Mann mit einem Tattoo der berühmten Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Da hatte sie eine andere Idee: »Die Kameraaufzeichnung. Vielleicht sieht man da was. Und selbst wenn nicht, es könnte mir helfen, mich zu erinnern.«
Ihr Handy klingelte. Eigentlich klingelte es seit gestern ununterbrochen, deshalb hatte sie es auf lautlos gestellt. Auf dem Display sah sie, dass Nicole Zeller anrief. Sie war eine Kollegin aus der Zeitungsredaktion, wo Zoe ein Volontariat machte. Nicole war ein alter Hase und soweit Zoe wusste, dreiunddreißig Jahre alt. Sie mochte Nicole, sie war sehr gut in ihrem Beruf und ein wenig bewunderte Zoe sie, sie wollte später genauso erfolgreich sein.
»Hallo«, nahm Zoe das Gespräch an. Bisher hatte sie keinen der Anrufe angenommen, weil sie wusste, worum es ging. Um Beileidsbekundungen, aber dafür hatte sie keinen Nerv.
»Hallo, Zoe, ich hoffe, ich störe nicht.«
»Nein, aber mir ist gerade nicht so nach Reden.«
»Das kann ich sehr gut verstehen. Mir tut das ungemein leid mit deinem Vater. Mein herzlichstes Beileid.«
»Danke.« Zoe schluckte und versuchte die Tränen zurückzuhalten, aber sie merkte, wie sich ein fetter Kloß in ihrem Hals bildete.
»Nimm dir all die Zeit, die du brauchst. Denk ja nicht daran, zu früh zur Arbeit zu kommen, hörst du?«
»Danke.« Mehr brachte Zoe noch immer nicht heraus und sie bereute schon jetzt, das Gespräch angenommen zu haben. Sie war noch nicht bereit, mit anderen über ihren Schmerz und ihre Situation zu reden. Dabei gab es etwas in ihr, das sie genau dazu drängte, das ihr sagte, dass sie nur so den Schmerz überwinden und nach vorne schauen könnte. Sich einigeln war die schlechteste Option.
Wenn es doch so einfach wäre, auf diese Stimme zu hören.
Ablenkung, du brauchst Ablenkung!, ermahnte sie sich.
»Ich rufe noch wegen etwas anderem an.« Nicoles Stimme wurde leiser, sie wirkte vorsichtig, als würde es ihr schwerfallen, die nächsten Worte zu sagen.
»Weswegen?«
»Ich hoffe, du verstehst das jetzt nicht falsch. Aber dein Vater war ein bekannter Politiker und du hast doch von den anderen Politikermorden gehört. Als Zeitung müssen wir dem nachgehen, auch wenn ich da wirklich starkes Bauchweh habe, weil es dein Vater ist. Aber ich wollte dir das unbedingt persönlich erzählen.«
Diese Worte trafen Zoe schwer, sie rang nach Luft. Es war, als hätte Nicole sie mit der Faust in die Magengrube geschlagen. Es war ihr unmöglich, zu antworten.
»Zoe, bist du noch da?«, fragte Nicole.
»Ja, ja«, stammelte Zoe und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. »Ich verstehe das, aber irgendwie trifft mich das gerade doch unerwartet«, gestand sie.
Angriff ist die beste Verteidigung!
»Ich verstehe das, aber sei unbesorgt, ich werde sehr behutsam vorgehen. Das Ansehen deines Vaters wird keinen Schaden nehmen.«
»Warum tut jemand so etwas Schlimmes?«, brach es aus Zoe heraus. Tränen lösten sich aus ihren Augen und liefen ihre Wangen herunter.
»Das weiß ich nicht, aber ich werde es herausfinden, versprochen. Dein Vater war einflussreich, vielleicht hatte er Feinde.«
»Und was ist mit den anderen Politikermorden? Es kann doch kein Zufall sein, dass drei Politiker in so kurzer Zeit ermordet wurden.« Langsam bekam Zoe ihre Nerven in den Griff. Bereits vor dem Mord an ihrem Vater hatte sie über die anderen Morde gelesen, die Zeitung, für die sie arbeitete, hatte ausführlich darüber berichtet. Daran, dass ihr Vater die Nummer drei sein könnte, hatte sie damals keinen Gedanken verschwendet.
»Davon gehe ich auch aus. Vielleicht gelingt es uns, endlich eine Verbindung zu finden. Die Polizei ist leider keine echte Hilfe, da sie eine Informationssperre verhängt hat.«
»Eventuell kann ich helfen. Immerhin ist es mein Vater«, schlug Zoe vor. Es wirkte wie ein Befreiungsschlag. Raus aus dem mentalen Loch.
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Du bist die Tochter. Ich glaube, du würdest dir keinen Gefallen tun. Ich habe Ludwig vorgeschlagen, dass wir ein Detektivbüro einschalten. Ich kenne da jemanden, der ist verdammt gut. Aber vermutlich wird das unser Budget sprengen.«
»Von wem redest du? Und warum sollte Ludwig das nicht bewilligen?«, fragte Zoe. Ludwig Busche war der Chefredakteur der Zeitung und trotz seiner Position und obwohl er weit über fünfzig Jahre alt war, duzten sich Zoe und er. Das war bei ihnen in der Redaktion so üblich.
»Von Peter Walsh.«
»Peter Walsh? Muss man den kennen?«
»Nein, muss man nicht. Aber wenn du mich fragst, ist er die einzige Person, der ich zutraue, den Mörder zu finden.«
»Woher kennst du ihn?«, fragte Zoe. Der Name machte sie neugierig, vor allem, weil Nicole so viel von ihm hielt. Wenn er tatsächlich den Mörder ihres Vaters ausfindig machen könnte, musste man doch seine Dienste in Anspruch nehmen.
»Ich habe vor einigen Jahren eine Story über den Terroranschlag auf das Kölner Präsidium geschrieben und bei meinen Recherchen bin ich immer wieder auf Peter Walsh gestoßen. Er war nie offiziell in die Ermittlungen eingebunden, aber laut meinen Nachforschungen war er hauptverantwortlich dafür, dass die Terroristen und Hintermänner geschnappt oder getötet wurden. Leider durfte ich den Artikel nicht veröffentlichen, da angeblich keine echten Beweise vorlagen, die bestätigten, dass Walsh tatsächlich dieser Superheld war. Ich vermute, dass unser Herausgeber Angst vor einer Unterlassungsklage hatte, wahrscheinlich hat auch das Kölner Polizeipräsidium seine Finger mit im Spiel gehabt. Das wurmt mich noch immer. Dass ausgerechnet dieser Walsh uns mal helfen könnte, hätte ich niemals für möglich gehalten. Aber es sieht ganz danach aus, als würde sich dieser Wunsch genauso in Luft auflösen, wie mein Artikel von damals.«
»Warum?«
»Ich sagte ja, er ist teuer. Das sprengt garantiert unser Budget.«
»Hast du seine Kontaktdaten?«
»Klar, der betreibt ja eine Detektei. Warum?«
»Gib mir die Daten. Mein Vater war vermögend, ich buche Walsh. Koste es, was es wolle.«
»Bist du sicher?«
»Ich war nie sicherer. Ich will das Schwein haben, das mich entführt und meinen Vater ermordet hat.«
»Du wurdest entführt?«
»Ja, aber an das meiste erinnere ich mich nicht. Die Polizei glaubt, dass ich betäubt wurde.«
»Hängt das mit dem Attentat auf deinen Vater zusammen?« Zoe konnte Nicoles journalistische Neugierde deutlich heraushören. Ihre Kollegin hatte den Ruf, für ihren Job schon mal moralische Grenzen zu überschreiten und nicht besonders feinfühlig zu sein. Genau dieses Gefühl drängte sich bei Zoe in diesem Moment auf, aber sie sprach es nicht an. Sie brauchte ihre Kollegin.
»Ich erzähl dir das in Ruhe, wenn wir uns treffen. Gerade habe ich keinen Kopf für so etwas. Behalte das bitte für dich.«
»Klar, meine Lippen sind versiegelt. Das Wichtigste ist, dass du dir Zeit nimmst. Sobald du glaubst, reden zu müssen, meld dich einfach. Jeder Mensch verarbeitet Trauer anders. Als meine Oma gestorben ist, habe ich mich in die Arbeit gestürzt, das hat mir geholfen. Aber ich denke nicht, dass ich ein guter Maßstab bin.«
Zoe lag ein böser Spruch auf der Zunge, weil sie es schon frech fand, den Tod ihrer Großmutter, die sicher in hohem Alter verstorben war, mit dem Mord an ihrem Vater zu vergleichen. Zoe hatte keine Gelegenheit gehabt, sich vorab mit dem Tod ihres Vaters auseinanderzusetzen, weil der Abschied von ihm auf die für sie brutalstmögliche Weise geschehen war.
»Schickst du mir bitte die Kontaktdaten von Peter Walsh? Bitte«, sagte Zoe, sie ging auf Nicoles Bemerkung zur Trauerarbeit nicht ein.
Wie es schien, hatte niemand von der Presse darüber berichtet, dass sie entführt worden war, sonst hätte Nicole das sicher gewusst. Gut möglich, dass die Polizei diese Information nicht geteilt hatte, um Zoe zu schützen, das jedenfalls nahm sie an. Aber das war gerade zweitrangig. Sie brauchte den Kontakt zu Peter Walsh.
»Gut. Aber wenn du einen Termin organisierst, will ich dabei sein, okay?«
»Okay«, antwortete Zoe. Insgeheim hatte sie längst entschieden, dass sie das von dem Gespräch abhängig machen würde. Schließlich konnte sie nicht wissen, was Walsh von Nicole hielt und ob er überhaupt mit der Presse zusammenarbeiten würde.
Zoe hingegen würde sich ausschließlich als die Tochter vorstellen. Welcher Detektiv würde seine Dienste nicht der Tochter, deren Vater gerade ermordet wurde, anbieten, vor allem, wenn sie ihn großzügig bezahlte.
»Es ist zwar schade und traurig, Zoe, aber mit Geld kannst du alles kaufen«, hatte ihr Vater immer gesagt. »Und wenn jemand nicht verkauft oder dir seine Dienste verweigert, biete einfach mehr. Jeder Mensch verlangt seinen Preis.«
Und dass Walsh seinen Preis hatte, daran zweifelte sie keinen Augenblick. Sie würde diesen Preis herausfinden. Endlich ein Hoffnungsschimmer.
Nicole nannte ihr die Nummer, dann fügte sie noch hinzu: »Versuch die schwache und verzweifelte Tochter zu geben, die sich nichts sehnlicher wünscht als Gerechtigkeit. Das zieht bei Männern immer.«
»Danke für den Rat.« Zoe schüttelte den Kopf, Nicoles Handeln entpuppte sich als immer berechnender.
»Gerne. Und denk an unsere Abmachung, ich will bei dem Termin dabei sein.«
»Wie könnte ich das vergessen«, reagierte Zoe etwas gereizt, so allmählich war es zu viel des Guten. »Ich versuche noch etwas zu schlafen, ich fühle mich sehr schlapp.«
»Mach das und melde dich, wenn du etwas brauchst oder News hast.«
»Mach ich und grüß mir alle. Sag ihnen, dass es mir leidtut, dass ich bisher nicht auf die Anrufe und Nachrichten geantwortet habe.«
»Wird erledigt. Ich glaube, die haben größtes Verständnis dafür. Wir hören uns.«
»Ja.« Zoe beendete das Gespräch, dann wählte sie die Nummer von Peter Walsh. Ihr Herzschlag erhöhte sich und die Anspannung stieg. Sollte Walsh tatsächlich der Mann sein, der den Mörder ihres Vaters finden und ausschalten würde?
Sie wollte den Mörder tot sehen, das stand für sie fest, aber das konnte sie unmöglich Nicole verraten.
»Jeder hat seinen Preis, auch Walsh«, flüsterte Zoe, als sie das Freizeichen hörte und darauf wartete, dass Walsh den Anruf annahm.