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Mannheim
S chicksal!
Was für ein hässliches Wort. Ich glaube, Feiglinge benutzen dieses Wort am liebsten. Und Versager.
Ich habe nie an die Macht des Schicksals geglaubt, glücklicherweise, ansonsten würde ich heute nicht da stehen, wo ich stehe. Zunächst hatte es das Leben nämlich nicht gut mit mir gemeint. Dabei ist dieses »Nicht-gut-Gemeint« reine Definitionssache.
Sicherlich gibt es Menschen, die hat das Leben noch heftiger gefickt als mich. »Das Leben« – am Ende ist es doch gleichbedeutend mit diesem dummen Wort »Schicksal«. Es gibt Menschen, die hat das Leben heftig gefickt. In allen Stellungen, ohne Gleitcreme.
In den Kreisen, aus denen ich komme, ist dein Leben längst vorgeschrieben, ehe du überhaupt zur Welt kommst. Meine Eltern haben zur untersten sozialen Schicht gehört. Ich will nicht jammern, weil ich glaube, dass ich trotzdem eine gute Kindheit hatte. Meine Eltern waren jedenfalls keine Arschlöcher, nicht so, wie die von vielen anderen. Meine waren einfach nur arm und damit war auch ich arm.
Was Armut bedeutet, habe ich allerdings erst auf dem Gymnasium gemerkt, als ich dreizehn Jahre alt war und in der Klasse immer mehr Wert auf Markenkleidung gelegt wurde. Natürlich konnte ich da nicht mithalten und das war Grund genug, mich zu mobben. »Resterampe« war noch einer der freundlicheren Spitznamen, die man mir zurief. Aber ich habe versucht, das nicht an mich heranzulassen, habe auf cool gemacht oder auch mal mitgelacht. Dabei habe ich mich überhaupt nicht nach Lachen gefühlt. Am liebsten hätte ich mich irgendwohin verkrochen und geweint. Das habe ich mir aber verboten, diese Mobber sollten nicht gewinnen. Ich wollte es ihnen heimzahlen, indem ich schwor, nie mehr arm zu sein, wenn ich erwachsen wäre. Und das ging nur über Bildung, so weit hatte ich das schon in jungen Jahren begriffen. Also lernte ich und war fleißig, da war es kein Wunder, dass ich in der Schule zu den Klassenbesten gehörte und Einser-Noten mein Zeugnis durchzogen.
Es war ein langer Weg mit bösen und niederschmetternden Überraschungen. Wehmütig denke ich an diese Zeit zurück. Ich vermisse die kleine, naive Person, die sich gegen alle gestellt hat, vor allem gegen das Establishment und die Einstellung, dass jemand aus der untersten Schicht für immer dazu verdammt sein muss, in der Unterschicht zu schmoren. Doch irgendwann wurde diese kleine Person ihrer Naivität beraubt.
Mit Fleiß kann man vermutlich alles erreichen, wenn einen das Schicksal, nein, das Leben, nicht fickt. Unerwartet!
Mein Leben ist nie linear verlaufen, es gab Momente, da war ich voller Glück und positiver Energie, voller Hoffnung. Und dann gab es Momente, in denen ich alles infrage gestellt habe, aber dank der Hilfe anderer bin ich endlich an dem Punkt angelangt, dass ich weiß, was Leben wirklich bedeutet: Sich in den Dienst einer höheren, einer gerechten Sache zu stellen.
Seitdem habe ich auch meine Einstellung zu Geld, Karriere und allem Weltlichen verändert. Geld kann einen Menschen nicht glücklich machen. Niemals. Aber es kann helfen, bestimmte Ziele zu erreichen. Wichtig ist, dass nicht das Geld einen beherrscht, sondern dass man selbst das Geld beherrscht. Klingt hochtrabend, ist es aber nicht. In meinem Fall nutze ich meine finanziellen Möglichkeiten, um meine Mission zu erfüllen, denn es gibt noch einige auf meiner Liste, die das Zeitliche segnen müssen, weil sie jedes Recht auf Leben verwirkt haben.
Dass ich einmal Menschen töten würde, hätte ich nie für möglich gehalten. Wobei – es sind Politiker und die sind keine Menschen. Sie sind die Ausgeburt der Hölle. Wegen ihrer Machtbesessenheit, ihres Egoismus und ihrer Gier geht es den Menschen überall auf der Welt schlecht. Für mich sind Politiker wie Ratten, man muss sie auslöschen, aber leider vermehren sie sich unaufhörlich. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr ich diese ekelhafte Gattung von Menschen, diese elenden Hunde, hasse. Und genau deswegen bin ich entschlossen, jeden auf meiner Liste zu töten. Ausnahmslos.
In den letzten Tagen habe ich viel recherchiert und eine Menge über Alwin Vogel in Erfahrung gebracht. Ich weiß, dass er seit seinem sechzehnten Lebensjahr Mitglied der FDP ist, dass er zwei Kinder hat und seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet ist. Nach außen hin scheint er eine Bilderbuchehe zu führen, aber ich weiß, dass dem nicht so ist.
Alwin, der Schlingel, hat eine Geliebte und das seit gut zehn Jahren. Sie wohnt in Ludwigshafen und weiß, dass er verheiratet ist. Das scheint sie aber nicht die Bohne zu interessieren. Ich frage mich, wer hier das wahre Miststück ist, Alwin oder diese Schlampe von Frau, die einen verheirateten Mann verführt. Ich denke, irgendwie sind beide schlechte Menschen, aber nur Alwin steht auf meiner Liste, da muss ich genau sein.
Es ist schon Wahnsinn, was das Internet alles über uns weiß. Über den FDP-Server bin ich nicht nur an Alwins Privatdaten gekommen, sondern auch an seine E-Mail-Anschriften. Eine kleine Spammail hat gereicht und ich konnte mich problemlos in seinen E-Mail-Account hacken, danach habe ich die Kontrolle über seine Profile in den sozialen Medien übernommen und da Alwin ein Androidhandy besitzt, war es ein Leichtes, mich auch in sein Smartphone einzuhacken.
Alwin hat es mir aber auch zu leicht gemacht. Seine Passwörter begannen alle mit den Vornamen seiner Kinder und den Zahlen 1234 gefolgt von dem Sonderzeichen %.
Die Menschen behaupten immer, dass sie sehr viel Wert auf ihre Privatsphäre legen würden, aber lustigerweise ist 123456 das meistgenutzte Passwort und jeder postet auf Facebook oder Instagram allen möglichen Scheiß über sich. Seelenpornografie frei Haus! Die Leute machen es einem heutzutage sehr leicht, sie auszuspionieren und in ihre Privatsphäre einzudringen. Mich jedenfalls freut das.
Gestern war ich bei ihm zu Hause, habe mir das Haus, das Grundstück und die Nachbarschaft angeschaut. Einen weiteren Fehler wie bei Lau darf ich mir nicht erlauben, das würde mich sehr ungehalten machen. Und keiner will mich derart ungehalten erleben.
Diesmal muss, nein, diesmal wird alles glattgehen! Dass die Tochter von Lau, diesem dreckigen Feigling, entführt werden musste, war so nicht geplant, es war Plan B, nein, Plan C, weil es nie einen Plan B gab. Wofür auch?
War ja nicht notwendig, dennoch hatte ich die Tochter natürlich in meinem Plan berücksichtigt, aber eher als Fußnote. Wie gesagt, sie sollte an sich nie entführt werden. Ich bin schließlich keine Bestie, ich töte und entführe nicht wahllos. Aber ich hoffe, dass Zoe das Ganze schnell verarbeiten wird. Jedenfalls hat sie einen gefestigten und starken Eindruck auf mich gemacht, als ich während meiner Recherchen auch sie zwangsläufig beobachten musste.
Ich glaube, bei Alwin wird es nicht nötig sein, eines der Kinder zu entführen. Ihn muss ich nicht zu einem verlassenen Fabrikgelände führen. Er wird an einem anderen Ort sterben. Ich habe Alwin so heftig an den Eiern, der weiß das gar nicht. Und das Beste ist, er ist selbst schuld daran! Er kann nicht anders, als mich da zu treffen, wo ich es mir wünsche, und genau dort wird er sterben. Denn ich habe Zugriff auf sein Handy und darauf sind jede Menge Fotos von dieser Schlampe. Ich kann mir schwer vorstellen, dass Alwin will, dass seine liebe Frau davon erfährt.
Es ist mir unbegreiflich, wie schwanzgesteuert manche Männer sein können. Aber auch für die Ehefrau habe ich kein Verständnis. Warum schaut sie nicht mal in das Handy ihres Mannes? Wie kann man einem Menschen so blind vertrauen? Aber ich habe schon öfter beobachtet, dass Menschen sich nicht an das Handy ihres Partners trauen, weil es ein Vertrauensbruch wäre.
So ein Quatsch! Dann darf man sich auch nicht wundern, wenn der Partner einen hinterm Rücken verarscht, so wie Alwin es seit zehn Jahren mit seiner treudoofen Frau tut. Müsste ich Alwin nicht erschießen, hätte ich der Frau die Fotos längst gemailt, aber so gibt es für mich keinen Grund dafür. Wie gesagt, ich bin kein Arschloch, warum sollte ich die Frau leiden lassen?
Auf der anderen Seite könnte ich ihr nach erfolgreicher Durchführung meines Plans die Fotos trotzdem schicken, damit sie ihre Trauer besser bewältigen kann. Einem toten Ehemann, der einen jahrelang betrogen hat, weint man doch keine Träne nach, oder?
Irgendwie traue ich das seiner Ehefrau aber zu. Sie macht auf mich nicht gerade einen selbstständigen Eindruck. Ganz anders als die beiden Kinder, die wirken taff, vor allem das eine. Aber genug philosophiert und spekuliert, weder die Ehefrau noch die Kinder sollen mich interessieren. Ich bin in Mannheim, um jemanden zu töten, der es absolut verdient hat. Und der Plan kann nicht schiefgehen.
Ich schmunzle, mein Plan ist wirklich genial. Ich klappe den Laptop zu, stehe vom Schreibtisch auf, ziehe mich an und verlasse mein Hotelzimmer, schließlich möchte ich ins Café am Marktplatz, weil ich dort erwartet werde.
Von meinem Hotel zum Marktplatz sind es nur wenige Gehminuten, das gefällt mir an Mannheim. Es ist zwar eine Großstadt, aber gefühlt spielt sich das eigentliche Leben nur in einem kleinen Radius ab. Man erreicht die Hotspots bequem zu Fuß. Ob gebürtige Mannheimer, vor allem aus der Oststadt, den Marktplatz als Hotspot bezeichnen würden, darf vielleicht bezweifelt werden, aber für mich ist er einer. Nirgends macht es mehr Freude, Menschen zu beobachten.
Als ich das Café erreiche, sitzt Natalie bereits an einem Tisch auf der Terrasse und winkt mir zu. Ich lächle, winke aber nicht.
»Hallo«, begrüßt sie mich mit einem breiten Lächeln, ihre Augen strahlen und ich deute ihre Körpersprache dahingehend, dass sie sich wirklich freut, mich zu sehen.
»Hallo. Möchtest du etwas trinken?«, frage ich, schließlich weiß ich, was sich gehört. Ich bin deutlich älter und als Student ist man eh immer pleite.
»Ich kann mir selbst was holen, danke«, sagt sie und will aufstehen.
Aber ich mache eine Handbewegung. »Bitte, bleib sitzen. Du musst den Platz freihalten. Was möchtest du?«
Sie lächelt und gibt ihre Bestellung auf. Und ich glaube ihr, dass es nicht gespielt ist, dass sie ein wenig peinlich berührt ist. Sie scheint nicht viel Erfahrung damit zu haben, eingeladen zu werden. Was ich mir bei ihrem Aussehen kaum vorstellen kann. Hübsche Frauen werden doch ständig eingeladen. Meine Gedanken sind bei Cosmo, der sie längst in ein sündhaft teures Restaurant wie den Kleinen Rosengarten oder das Opus ausgeführt hätte, um ihr zu imponieren. Ich bin und war nie so ein Mensch. Und mein Gefühl sagt mir, dass Natalie keine Frau ist, die es darauf anlegt, eingeladen zu werden, weil sie sich von materiellen Dingen beeindrucken lässt. Ich hoffe, ich irre mich nicht, weil ich gerne das Gefühl zulassen würde, dass ich sie nett finde, wäre da nicht die Sorge, dass ich allem, was meinen großen Plan behindern könnte, aus dem Weg gehen muss. Gefühle wären ein großes Problem. Wobei es naiv ist, zu glauben, dass diese junge hübsche Frau Gefühle für mich hätte, ich fühle mich vielmehr geschmeichelt, dass sie mich offensichtlich nett oder interessant findet.
Mit zwei Getränken in der Hand stoße ich zu ihr und reiche ihr ihren Cappuccino.
»Danke, das ist sehr lieb von dir. Ich hoffe, du weißt, dass das nicht nötig gewesen wäre. Die nächste Runde geht auf mich.«
»Alles gut. Habe ich gerne gemacht. Wie war dein Tag?«
»Ganz entspannt. Habe mich mit Freunden getroffen, vorher war ich noch mit meinem Vater bei Engelhorn. Der Gute hat in letzter Zeit zu viel gegessen und braucht neue Anzüge.« Sie lacht und ich muss zugeben, dass ich ihr Lächeln unheimlich süß finde.
»Da hat sich dein Papa bestimmt gefreut, dass du ihm geholfen hast.«
»Darauf kannst du wetten. Papa hat so gar keinen Geschmack, was Klamotten anbelangt. Ohne Mama und mich wäre er aufgeschmissen.«
»Verstehe.« Eigentlich ist mir das total egal, aber ich muss wenigstens so tun, als würde mich das interessieren.
»Und wie war dein Tag?«
»Auch ganz entspannt. Ich hatte heute Projektbesprechung«, antworte ich ihr. Je weniger sie über mich weiß, desto besser.
»Und weißt du schon, wie lange das Projekt noch dauern wird?«, will sie wissen und ich glaube, Sorge in ihrer Stimme zu hören, eventuell bilde ich mir das aber auch nur ein. Bereits gestern, als wir uns das erste Mal im Café trafen, hat sie mir diese Frage gestellt, und als ich ihr sagte, dass es noch etwas dauern könne, hat sie mich erwartungsvoll angestrahlt.
All das würde Cosmo reichen, um auf Angriff zu gehen, aber ich bin nicht Cosmo. Mein Aussehen mag es vielleicht nicht verraten, aber ich bin sehr schüchtern, wenn es um Gefühle geht. Ich bin da nicht so geübt, daher hoffe ich, dass sich das hier irgendwie von selbst löst oder weiterentwickelt.
»Leider nicht, am Stand von gestern hat sich nichts geändert.«
»Verstehe. Warst du noch in der Seckenheimer Straße?« Sie rührt mit dem Löffel in ihrem Cappuccino und mir fällt auf, dass sie noch keinen Schluck aus ihrer Tasse getrunken hat.
»Das habe ich nicht mehr geschafft. Möchtest du nicht deinen Cappuccino trinken, bevor er kalt wird?«
Sie fühlt sich ertappt, lächelt verlegen, schaut zur Seite und gönnt sich einen Schluck. Das sind die Momente, in denen ich merke, wie jung, naiv und unerfahren sie ist. Das Leben scheint sie noch nicht gefickt zu haben, sie scheint voller Hoffnungen zu sein. Ich möchte ihr diese rosarote Brille zwar nicht abnehmen, aber ich bin überzeugt, dass sie früher oder später auf jemanden treffen wird, der ihr das Herz brechen wird. Natalie, so schön sie ist – oder gerade weil sie so schön ist –, wird genau solche Personen anziehen und einer von ihnen verfallen.
»Hast du schon zu Abend gegessen?«
»Noch nicht.«
»Dann habe ich eine super Idee. Wieso gehen wir nicht nach unserem Kaffee zusammen zur Seckenheimer Straße? Ich kenne da ein süßes Restaurant, wo wir was essen können. Und du kannst dir endlich mal die Straße anschauen, sonst fürchte ich, wird das nie was.« Sie spricht so schnell, dass sie fast ihre Worte verschluckt.
»Warum nicht«, antworte ich, ärgere mich aber etwas, dass ich ihr eine solche Steilvorlage geliefert habe. Eigentlich hatte ich vor, heute Abend diesem schmierigen FDP-Politiker Alwin Vogel ein paar Nachrichten zu schreiben mit Bildern von ihm und seiner Schlampe, um ihn ins Schwitzen zu bringen. Morgen wollte ich ihn dann an einen bestimmten Ort bitten, wo er endlich ins verdammte Gras beißen kann.
Aber gerade ist es mir einfach nicht möglich, Natalies Vorschlag abzulehnen, weil ich ihre Gesellschaft mag. Auch jemand wie ich, der sich einer höheren Sache verschrieben hat, ist nicht gefeit gegen die Versuchungen des Herzens.
Das ist eine schöne Umschreibung, das Wort »Gefühle« möchte ich so früh nicht dafür verwenden.
»Super«, strahlt sie und gönnt sich einen großen Schluck aus ihrer Tasse, als würde sie das Café so schnell wie möglich verlassen wollen. Als sie die Tasse abstellt, streift ihre Hand wie zufällig meinen Oberarm.
Ich tue so, als hätte ich nichts bemerkt, aber mir entgeht nichts und jetzt mag ich auch nicht mehr an Zufall glauben. Ich bin sicher, dass sie mich mag!
Wäre da nicht diese verdammte Mauer, die ich selbst um mich herum aufgebaut habe, weil ich ein höheres Ziel habe. Und auf dem Weg zur Erlangung dieses Ziels haben Gefühle keinen Platz. Wie auch, wenn ich doch am Ende in der Selbsterlösung die Freiheit finden werde.
Echt schwierig gerade, vielleicht mache ich es mir aber auch nur selbst zu schwer. Ich habe keine ehrliche Antwort auf die Frage, was ich am besten tun sollte. Egal, ich werde mich einfach treiben lassen und nach dem Abendessen wird jeder seiner Wege gehen. Dann werde ich noch immer genug Zeit haben, Alwin, dem Schlawiner, die Schlinge um den Hals zu ziehen.
Das hört sich nach einem guten Plan an.
Nun ja, vielleicht ist es kein Plan, aber wenigstens eine annehmbare Kompromisslösung.
Ich bekomme einen Anruf auf dem Handy, jedenfalls sehe ich, dass das Display aufleuchtet, da ich den Ton abgestellt habe.
»Ein Kumpel?«, fragt Natalie, weil sie wohl den Namen auf dem Display gesehen hat.
»Nein, jemand vom Projekt. Die lernen das nie. Ich habe Feierabend, da gehe ich nicht ans Handy.« Ich drehe das Handy um, damit man das Display nicht mehr sieht. Den Anruf nehme ich nicht an.
»Das finde ich gut, dass du so konsequent bist.« Sie nimmt einen weiteren großen Schluck aus ihrer Tasse, ich tue es ihr gleich, weil ich das Café verlassen und mir diese angeblich so tolle Straße mit den urigen Cafés und den Restaurants anschauen möchte.
Die nächsten Minuten reden wir über Belangloses, aber ich bin nicht ganz bei der Sache, weil ich an den Anruf denken muss und mich mein schlechtes Gewissen plagt, dass ich ihn nicht angenommen habe.
Du darfst nicht immer so hart zu dir sein , ermahne ich mich, der Sache nicht mehr Gewicht zu verleihen als nötig.
»Wollen wir?«, frage ich Natalie. Wir haben ausgetrunken und es gibt keinen Grund, länger hierzubleiben. Außerdem, je früher wir zum Essen gehen, desto früher komme ich ins Hotel zurück, um doch noch eine Nachricht mit speziellem Inhalt zu verschicken.
»Klar. Wir müssen nur noch zum Parkhaus.«
»Parkhaus?«, frage ich.
»Mein Auto. Ich habe hier im Parkhaus geparkt.«
»Ah, verstehe. Dann los«, antworte ich. Für einen Moment bin ich überrascht, dass sie ein Auto hat, doch dann ärgere ich mich über meinen dummen Gedanken. Allein Natalies Äußeres lässt darauf schließen, dass sie nicht aus einfachen Verhältnissen kommt, da gehört es sicherlich auch dazu, dass sie ein Auto von ihren Eltern bekommen hat.
Ich schüttele insgeheim den Kopf über meine Naivität, schließlich müsste gerade ich es besser wissen, doch Natalie hat es für einen kurzen Augenblick geschafft, dass ich wirklich alles um mich herum vergessen habe. Eigentlich eine schöne Sache, wenn ein Mensch das möglich macht, oder?
Mir ist etwas unheimlich.
Vor mir selbst.
Keine fünfzehn Minuten später befinden wir uns schon auf der Seckenheimer Straße und spazieren an den Häusern entlang. Die meiste Zeit redet Natalie, ich beschränke mich auf das aufmerksame Zuhören. Ihre idealistische Art gefällt mir, sie ist frei von Sorgen, so wirkt es jedenfalls.
Ich frage mich, was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich in einem vermögenden Elternhaus groß geworden wäre, wenn einiges anders gelaufen wäre, als es ist. Ob aus mir ein anderer Mensch geworden wäre?
Ich weiß es nicht und es ist müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber korrigieren. Genau das ist seit Langem mein Ziel.
Wieder kommt mir dieses verdammte Wort in den Sinn: Schicksal!
War es Schicksal, dass ich ausgerechnet dieses Café aufgesucht habe, um Natalie zu begegnen?
»Was ist los?«, fragt sie mich und erst jetzt fällt mir auf, dass ich den Kopf schüttle, weil ich mich wieder so sehr in meine Gedanken hineingesteigert habe.
»Alles gut, ich musste gerade an einen langweiligen Witz denken«, versuche ich die Situation zu retten, dabei galt mein Kopfschütteln dem Schicksal.
Ich will nicht glauben, dass es das gibt. Die beste Alternative, die mir einfällt, ist, dass jeder sein Schicksal selbst in der Hand hat. Jemand, der daran glaubt, dem Schicksal hilflos ausgeliefert zu sein, ist für mich nach wie vor jemand, der zu feige ist, sich den Widerständen des Lebens zu stellen.
»Was für ein Witz?«, fragt Natalie.
»Hab ihn schon wieder vergessen. Ich bin echt schlecht im Witzeerzählen.«
»Ich auch«, kichert sie. »Dieses Restaurant meinte ich. Es wird dir gefallen. Komm.«
Wir betreten das Restaurant. Es ist ein Mix aus Café und Restaurant und wirkt sehr individuell, als würde es jemandem gehören, der viel auf Reisen war und sich in die Strände der Welt verliebt hat. Mir gefällt es. Wir nehmen Platz und schon kommt der Kellner. Er begrüßt Natalie mit Küsschen auf die Wangen, was mir sagt, dass sie hier nicht nur bekannt, sondern vermutlich Stammgast ist. Mir soll es recht sein, wenn das Essen so gut ist wie die Location, haben wir alles richtig gemacht.
Ich entschuldige mich, um kurz auszutreten. Mein Weg führt zur Toilette, ich muss meine Hände waschen, schließlich war ich draußen, habe Dinge angefasst und es ist eine Marotte von mir, dass ich mir immer die Hände waschen muss, bevor ich Essen anfasse.
Auf der Toilette nehme ich mein Handy und sehe, dass ich vier Anrufe in Abwesenheit und drei WhatsApp-Nachrichten habe. Ich tippe eine Antwort.
Mach dir keine Sorgen, alles läuft nach Plan. Ich melde mich. Schreib mir nicht mehr.
Danach wasche ich meine Hände und gehe zurück zu Natalie. Wir schauen uns die Speisekarte an, bestellen eine Vorspeise und eine Flasche Weißwein. Sie sucht den Wein aus. Da sie aus einer Weingegend kommt, kennt sie sich besser aus als ich, was mir auch überhaupt nicht unangenehm ist. Am Ende ist es nur Alkohol.
»Und, gefällt es dir hier?«, fragt sie und schaut mich mit großen Augen an.
»Ja, finde ich sehr nett. Man merkt, dass der Besitzer viel Wert auf das Innendesign legt.«
»Nicht nur das, vieles hat er von seinen Reisen mitgebracht. Ich bin sehr gerne hier, das Essen ich auch sehr lecker.«
Der Kellner bringt die Flasche Wein, öffnet sie und schenkt uns beiden ein Glas ein, dann stellt er sie auf den Tisch und fragt, ob wir wissen, was wir essen wollen.
»Ich schon, was ist mit dir?«, fragt Natalie.
»Was nimmst du?«, frage ich sie. Sie bestellt etwas Vegetarisches und spontan, wie ich bin, bestelle ich das Gleiche.
Wir stoßen an und nehmen einen Schluck aus dem Glas. Der Weißwein ist nicht schlecht, ich lobe sie für die Auswahl, sie freut sich merklich. Jetzt taut sie richtig auf, was mir sehr gefällt. Ich habe ja seit gestern den Verdacht, dass sie mich zu mögen scheint, aber sicher bin ich nicht. Ich hoffe, der Alkohol hilft ihr, mir Klarheit zu verschaffen. In solchen Dingen bin ich nicht so bewandert wie Cosmo. Ich muss mich langsam herantasten, das mit dem Vertrauen ist eine meiner Schwächen, muss ich gestehen.
Kurz bevor das zweite Glas geleert ist, kommt unser Hauptgericht. Es riecht vielversprechend, was daran liegen mag, dass ich wirklich Hunger habe. Es ist irgendetwas mit Hummus. Dass ich gerne Fleisch esse, muss ich Natalie ja nicht auf die Nase binden, wofür auch?
Sie wartet darauf, dass ich davon koste, und da ich sie nicht enttäuschen will, probiere ich. »Echt lecker«, stelle ich ehrlich fest.
Sie lächelt und nimmt ebenfalls einen Bissen von der Hauptspeise, währenddessen schenke ich nach und wir reden wieder über Belanglosigkeiten.
»Darf ich dich was fragen?«
»Klar, schieß los.«
»Bist du schon vergeben?« Das war direkt, aber eine Frage in der Art hatte ich erwartet, jetzt wird es endlich interessant. Wie gesagt, ich bin schüchtern, aber wenn mir jemand eine Steilvorlage serviert, nehme ich dankbar an, dann schwindet meine Schüchternheit. Es ist eben der Einstieg, der mir oftmals schwerfällt. Aber diesen Part hat Natalie mit Bravour übernommen.
»Glücklicher Single«, antworte ich ihr. »Und du?«
»Ich bin auch Single, aber eigentlich eher der Beziehungsmensch. Es ist einfach schöner zu zweit. Findest du nicht?«
Ich muss insgeheim schmunzeln, sie ist noch so jung und erzählt mir, dass sie ein Beziehungsmensch sei. Was weiß sie denn vom Leben?
»Ich bin da sehr entspannt, wenn es passiert, dann passiert es. Ich glaube, Liebe kann man nicht erzwingen.«
Sie nickt und gibt mir recht. Wie zufällig will sie genau im selben Moment zur Weinflasche greifen wie ich, um nachzuschenken. Unsere Hände berühren sich für den Bruchteil einer Sekunde. Das Gefühl, das mich plötzlich überkommt, ist komisch, aber auch schön.
Vermutlich liegt es am Alkohol, dass ich ihr zugetan bin. Jedenfalls muss ich mir eingestehen, dass ich große Lust auf sie habe. Jetzt wird es Zeit, dass ich das Heft in die Hand nehme.
»Hattest du schon mal etwas mit einer älteren Person?«, frage ich sie.
»Ja, aber das hielt nicht lange. Die in meinem Alter sind meistens viel zu kindisch, das mag ich nicht. Ich brauche jemanden, der weiß, was er will, von dem ich noch etwas lernen kann. Ich bin sehr experimentierfreudig, musst du wissen.« Sie kichert und ich lächle, ihre Antwort gefällt mir. Ich mag es im Bett ebenfalls wild und experimentierfreudig. Langweilig kann jeder.
»Das ist schön, so ticke ich auch. Magst du führen oder geführt werden?«
»Ich lasse mich gerne beherrschen. Langsam wird es interessant.« Diesmal nimmt sie einen großen Schluck aus dem Glas, ich tue es ihr gleich. »Das ist auch der Grund, warum ich keine jungen Küken mag. Die können das nicht. Bist du dominant?«
»So dominant, wie du es magst«, grinse ich und meine Hand wandert in ihre Richtung. Als ich ihre Hand berühre, zieht sie sie nicht weg. »Schön, dass wir uns kennengelernt haben.«
»Ja, das finde ich auch«, sagt sie und streichelt über meinen Handrücken. Mir gefällt das sehr und das Kribbeln in meinem Bauch wird immer stärker, ebenso meine Lust.
Ich will sie und ich glaube, sie will mich auch. Besser kann es nicht laufen. Rein optisch fühle ich mich ihr, wenn ich ganz ehrlich bin, nämlich nicht ebenbürtig. Finanziell ohnehin nicht. Mit ihren Eltern kann ich garantiert nicht mithalten, aber ich bin nicht mittellos, wie meine Eltern es ihr Leben lang waren. Durch das Informatikstudium wirft meine Selbstständigkeit genug Geld ab, das reicht locker, um zwei Personen zu ernähren.
Warum zwei?, frage ich mich.
Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich mir mehr mit ihr vorstellen kann. Ich! Nein, das wird nicht passieren, das darf nicht passieren. So unvorsichtig bin ich doch gar nicht. Ich muss immer die Kontrolle behalten, auch über meine Gefühle. Mein Plan darf durch nichts ins Wanken geraten und erst recht nicht darf ich riskieren, dass der Plan meiner Gefühle wegen scheitert.
Niemals! Das würde ich mir nie verzeihen. Ich bin zu weit gegangen, als dass ich jetzt alles über Bord werfen könnte.
»Du wirkst nachdenklich«, sagt sie. Es ist komisch, aber wieder ertappt sie mich bei meinen Gedanken. Sie scheint sehr sensibel zu sein, was mir gefällt.
»Das liegt daran, dass wir uns gleich trennen müssen«, hole ich einen Satz aus der tiefsten Schmalzkiste.
»Das müssen wir doch nicht.« Sie schmunzelt verlegen, dann beugt sie sich zu mir vor und drückt mir einen kurzen Kuss auf die Lippen. Das hatte ich nicht erwartet und ich frage mich, ob sie wirklich so devot ist, weil sie ziemlich rangeht.
Ich revanchiere mich und beuge mich ebenfalls zu ihr rüber, mein Kuss ist etwas intensiver und sie zieht sich nicht zurück, auch dann nicht, als ich meine Zunge einsetze. Für ihr junges Alter kann sie sehr gut küssen.
»Wenn du willst, können wir das auf meinem Hotelzimmer fortsetzen«, gehe ich in die Offensive. Sie nickt und ich beschließe, zu zahlen. Den Nachtisch gibt es auf dem Zimmer.
Als wir dort sind, betrete ich das Bad. Natalie denkt, dass ich mich frisch machen will, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Ich will mir beweisen, dass meine Gefühle nicht über mich bestimmen, dass mein Vorhaben höchste Priorität hat. Ich öffne die E-Mail-App und schicke Alwin Vogel eine Nachricht mit Anweisungen, dazu noch ein paar pikante Fotos, die ich von seinem gehackten Handy gezogen habe.
»Nichts ist wichtiger als der Plan. Mein Leben ordnet sich ihm komplett unter. Mit letzter Konsequenz«, sage ich zu mir, während ich mich ausziehe. Dann betrete ich das Zimmer, weil auch jemand wie ich das Recht auf Spaß hat.
Natalie liegt bereits nackt auf dem Bett und ich grinse bis über beide Ohren. Heute Abend werde ich die Tochter von Alwin ficken und morgen töte ich dieses dreckige Politikerschwein.