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L
ügen!
Wir alle lügen und wir alle leugnen, dass wir lügen, was wieder eine Lüge ist. Die Lüge ist heute so selbstverständlich wie essen, trinken und die Luft zum Atmen. Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass das Lügen ein Abbild unserer Gesellschaft sei, dass eine moderne Gesellschaft und das soziale Miteinander bisweilen von Lügen abhängig seien. Sie sollen helfen, Streit zu vermeiden.
Ich bin mir da nicht so sicher. Klar, es tut oft weh, die Wahrheit zu hören, aber wenigstens weiß man, woran man ist, man muss sich keine Taktik überlegen und man braucht keinen Gedanken daran zu verschwenden, ob die gehörten Worte wahr oder gelogen sind. Ich persönlich würde die Wahrheit der Lüge immer vorziehen.
Dennoch bediene ich selbst mich auch der Lüge. Meine Liaison mit Natalie basiert auf einer Lüge, die ich unmöglich aufklären kann. Jedoch nicht, weil ich Angst habe, dass sie mich hassen könnte, wenn sie die Wahrheit erführe, nein, es ist vielmehr, um sie zu schützen.
Die Nacht mit ihr wahr sehr schön, keine Frage, das ändert aber aus meiner Sicht wenig an meiner Einstellung und gar nichts an meinen Plänen. Bei ihr scheint es anders zu sein. Sie vermittelt mir den Eindruck, diese eine Nacht hätte alles verändert. Sie spricht von gemeinsamen Unternehmungen bis hin zu Reisen. Dabei kennt sie mich doch gar nicht, obwohl sie einmal sagte: »Es ist, als würde ich dich ewig kennen.«
Was für ein Satz!
Nein, du kennst mich erst ein paar Tage, das ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist aber auch, dass ich dich mag, sehr sogar, und die verdammte Wahrheit ist darüber hinaus, dass ich deinen Vater töten werde!
Warum musst du auch seine Tochter sein?
Hätte ich das zu Beginn meiner Recherchen herausgefunden, bevor ich nach Mannheim kam und bevor ich dich zufällig im Café kennengelernt habe, hätte ich mich nie auf dich eingelassen, weil ich weiß, wie es enden wird.
Ich werde deinen Vater töten, es wird dir das Herz brechen und du wirst hoffen, dass ich in dieser schweren Stunde für dich da sein werde, aber das werde ich nicht tun können. Ich werde Mannheim verlassen und du wirst nie wieder ein Wort von mir hören.
Wenn es denn so einfach wäre!
Ich will es mir nicht eingestehen, aber eine schwache Stimme in meinem Herzen sagt mir, dass es schön ist, dich bei mir zu haben, und dass ich dich gut behandeln soll. So gut, wie ich auch behandelt werden möchte. Das wäre absolut und fair.
Aber wann ist das Leben schon fair?
Ich schüttle den Kopf, um diesen Zwiespalt in mir abzuschütteln, schließlich darf sich meinen Plänen nichts in den Weg stellen, erst recht nicht meine Gefühle.
»Du bist stark. Keine Änderung so kurz vorm Ziel«, sage ich zu mir, als ich mich im Badezimmer frischmache. Mein Handy liegt rechts von mir, ich sehe, wie der Bildschirm aufleuchtet. Eine Nachricht.
Ich senke den Kopf, da ich neugierig bin, wer mir geschrieben hat, ich habe eine kleine Hoffnung, die sich erfreulicherweise erfüllt.
Die Nachricht ist von Natalie. Ich nehme das Handy in die Hand und öffne die Nachricht.
Hey, war sehr schön gestern. Ich hoffe, wir sehen uns heute.
Dass sie dem Text unzählige Herz- und Kussemojis hinzugefügt hat, finde ich irgendwie süß, vermutlich liegt das an ihrer unschuldigen, naiven Art. Natalie ist eine junge Frau, die noch glaubt, die Welt wäre ein angenehmer Ort. Ich habe diesen Glauben vor langer Zeit verloren, und erst seit Kurzem versuche ich, mich langsam mit dem Leben zu versöhnen, aber oft ist mir kalt, kalt wegen der vielen bösen Menschen.
Du bist auch böse, du tötest Menschen
, mache ich mir sofort Selbstvorwürfe.
»Nein, ich töte dreckige Politiker«, sage ich laut. Darin liegt ein himmelweiter Unterschied. Manchmal, wenn ich voll schlechter Gedanken bin, wünsche ich mir, dass ich allmächtig wäre, der Präsident der ganzen Welt, dann würde ich den Befehl geben, alle Politiker auf Erden zu töten. Ich glaube, niemand würde dieses Dreckspack vermissen.
Doch, Natalie
, huscht eine Mahnung durch meine Gedanken.
Es ist zum Mäusemelken, auf der einen Seite freue ich mich sehr über ihre süße Nachricht, auf der anderen Seite gelingt es dieser reizenden Göre immer wieder, mir Zweifel in den Kopf zu setzen.
Nein, ich darf diese Zweifel nicht haben, um keinen Preis, denn es geht hier nicht nur um mich, zu viel steht auf dem Spiel. Daher ignoriere ich ihre Nachricht und mache mich im Bad weiter fertig. Anschließend setze ich mich an den Laptop und schaue, ob Alwin Vogel mir geantwortet hat.
Hat er nicht!
Wut steigt in mir auf, ich schaue mir die gesendete Nachricht an und stelle fest, dass er sie nicht gelesen hat. Schnell öffne ich ein anderes Programm, weil ich überprüfen will, ob die Nachricht im Spam-Ordner des Empfängers gelandet ist. Ist sie nicht.
Selbstverständlich habe ich meine Nachricht über einen speziellen E-Mail-Client geschrieben, alles völlig anonym und über verschiedene VPN-Tunnel, damit man sie nicht zurückverfolgen kann.
Und es gibt noch eine Besonderheit an der E-Mail. Sie löscht sich, sobald der Empfänger versucht, sie auszudrucken, zu speichern oder weiterzuleiten. Und sie löscht sich, nachdem er geantwortet hat. Öffnet er die E-Mail und antwortet nicht, löscht sie sich auch, um sich eine Stunde später erneut zu versenden. Das ist quasi Snapchat für Hackerprofis. Es gibt auch E-Mail-Dienste, die Ähnliches können, für den eher unbewanderten Internetnutzer, der nicht will, dass seine E-Mails irgendwo zu lange gespeichert werden, oder der möchte, dass sie sich nach dem Lesen löschen. Eines dieser Programme heißt SecretINK, aber für meine Ansprüche ist das natürlich nichts.
In der digitalen Welt gibt es streng genommen nichts, was unmöglich ist, es spielt sich ja alles nur mit 1 und 0 ab. Man kann alles umsetzen, wenn man gut programmieren kann und Geduld hat. Beides beherrsche ich. Wobei ich zugeben muss, das mit der Geduld ist gelogen. Oft fehlt sie mir, nur bei meinem Auftrag nicht, den werde ich erfüllen. Egal wie lange es dauert und koste es, was es wolle.
Meine Wut, dass Alwin noch nicht geantwortet hat, will nicht abklingen.
»Sehr unfreundlich, Alwi, vor allem wo wir doch fast eine Familie sind«, sage ich und ziehe dabei eine Grimasse. Aber welche Wahl habe ich? Ich muss mich gedulden, bis dieser Dreckskerl sich meldet, so sieht es jedenfalls der Plan vor.
Leider kenne ich mich besser, ich kann nicht warten.
»Zwei Stunden kriegst du noch, dann komme ich«, beschließe ich und ziehe mir etwas an, um zum Frühstück zu gehen. Nicht weil ich gerne frühstücke oder wirklich Hunger habe, sondern weil das Frühstück im Preis der Hotelübernachtung enthalten ist.
Als ich mein Handy in die Hand nehme, leuchtet das Display erneut auf. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich beobachtet werde, was natürlich lächerlich ist. Ich weiß, wer der Absender ist: Natalie.
Ich öffne die Nachricht und es ist tatsächlich Natalie.
Wollen wir gemeinsam frühstücken?
Wieder hat sie unzählige Emojis angefügt. Das Angebot ist in der Tat verlockend. Alwi lässt mich hängen, sodass ich Zeit habe. Warum also nicht mit ihr frühstücken? Außerdem würde mir das die Möglichkeit geben, ihr ein paar Fragen zu Alwi zu stellen. Immerhin ist sie die Tochter, vielleicht weiß sie, warum ihr Vater nicht geantwortet hat. Dafür bin ich sogar bereit, das bezahlte Frühstück sausen zu lassen.
Guten Morgen, Süße. Du hast mich ertappt. Frühstück hört sich gut an. Hast du einen Vorschlag?
Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten.
Wir können am Marktplatz lecker türkisch frühstücken oder an der Seckenheimer ins Café Kult. Wie lange brauchst du? Ich kann sofort los, wenn das okay für dich ist.
Dann lass uns ins Kult. In dreißig Minuten?
Ja. Freue mich!!!
Und wieder hat sie unzählige Kuss- und Herzemojis angefügt. Ich antworte ebenfalls mit einem Kussemoji, da sie das ganz offensichtlich mag. Das große Herzsymbol, das sie mir schickt, bestätigt meine Annahme.
Mein Hotel liegt genau zwischen dem Marktplatz und der Seckenheimer, ich habe so gesehen den perfekten Ausgangspunkt gewählt, alles ist fußläufig schnell erreichbar. Laut Navigationsapp dauert der Fußweg zu dem Café Kult keine zehn Minuten, sodass ich mich nicht stressen muss. Dass Natalie schon in dreißig Minuten dort sein kann, liegt daran, dass sie bei ihren Eltern wohnt, deren großzügige Villa in der Oststadt an den Luisenpark grenzt. Ich habe ihr Anwesen gründlich beobachtet. Zur Not wäre sogar eine Entführung möglich. Man müsste sich nur Zugang über den Luisenpark verschaffen, was keine echte Hürde darstellt.
Das alles birgt eine gewisse Ironie: Da lerne ich eine wirklich liebe und heiße Schnitte kennen, die mich tatsächlich zu mögen scheint und zudem aus sehr gutem Hause kommt, aber statt mich ins gemachte Nest zu setzen, bin ich dabei, ihren Vater zu töten.
Das Leben ist manchmal verdammt kompliziert und hinterhältig, keine Frage. Aber leicht wäre langweilig und passt nicht zu mir. Mein Leben war noch nie einfach, warum sollte es das jetzt sein?
Wie immer bin ich pünktlich und zu meinem Erstaunen ist Natalie sogar vor mir da. Vielleicht war sie schon in der Stadt und hat nur darauf gehofft, dass ich mir Zeit für sie nehme. Würde mich nicht wundern.
Sie begrüßt mich, indem sie mir direkt einen Kuss auf den Mund drückt. Wie es scheint, möchte sie, dass die ganze Welt weiß, dass sie zu mir gehört, oder ich zu ihr. Ich umarme sie.
»Schön, dass es geklappt hat«, sagt sie und wir nehmen auf der Terrasse Platz, immerhin sind draußen bereits über 20 Grad.
Kaum sitzen wir, kommt auch schon die Kellnerin und reicht uns die Karte. Wir bestellen unsere Getränke.
»Und, kannst du was empfehlen?«, frage ich sie.
»Eigentlich alles. Ich esse total gerne Avocado-Toast.«
»Gut, dann bestelle ich das auch«, beschließe ich und öffne gar nicht erst die Menükarte. Die Kellnerin ist wirklich auf Zack, denn kaum habe ich die Karte aus der Hand gelegt, ist sie bei uns.
Wir geben die Bestellung auf und sie entfernt sich, nur um kurz darauf mit unseren Getränken zurückzukommen. Die Terrasse ist nur zur Hälfte besetzt, viele hat es trotz des angenehmen Wetters ins Innere des Cafés gezogen, was mir nur recht ist, so gibt es wenigstens kaum ungebetene Zuhörer.
»Hast du noch gut geschlafen?«, frage ich sie.
»Geht so, ich musste die ganze Zeit an unsere Aktion denken. Da sieht man, warum ich auf Ältere stehe. Mit Jüngeren wäre das bestimmt nicht so aufregend, und mit dir ist es noch viel aufregender. Irgendwie passt das so gut mit uns beiden. Findest du nicht auch?« Sie redet wie ein Wasserfall, sie wirkt aufgedreht. Von der Schüchternheit der ersten Tage ist wenig zu spüren, vermutlich ist sie durch ihre Gefühle gehypt.
»Ja, das finde ich auch. Es passt super, weil ich auf Jüngere stehe.«
»Du kannst dich bei mir bedanken«, schmunzelt sie.
»Ach, und warum?«
»Na, wenn ich mich nicht neben dich gesetzt hätte, hätten wir uns nie kennengelernt.«
»Das stimmt«, nicke ich, weil sie recht hat. »Glaubst du, das mit uns könnte mehr werden?« Ich bin gespannt, was sie sagt, ob sie das alles nur als großes Abenteuer sieht oder sich tatsächlich in mich verschossen hat.
»Ich hoffe doch. Es war kein Witz, als ich sagte, du kommst mir so bekannt vor, als würde ich dich schon ewig kennen. Ich fühle mich neben dir frei, bei dir kann ich ganz ich selbst sein. Das Gefühl hatte ich so noch nie.«
»Das hast du sehr schön gesagt, ich finde auch, dass das mit uns bestens harmoniert. Auch sexuell, was sehr wichtig ist.«
»Oh ja, Sex ist mir sehr wichtig. Aber du musst mir glauben, dass ich noch nie so schnell Sex hatte, ich bin keine Bitch.«
»Das glaube ich dir«, beruhige ich sie und ihre Gesichtszüge entspannen sich. »Ich frage mich nur, was deine Eltern dazu sagen werden. Der Altersunterschied ist bestimmt nicht einfach zu erklären. Du bist erst zwanzig und ich fünfunddreißig.«
»Na und. Du siehst aus wie Ende zwanzig. Warum sollten meine Eltern was dagegen haben, dass ich glücklich bin? Gerade Papa soll mir nicht mit Moral kommen«, entgegnet sie. Ihre Antwort überrascht mich, ich höre Wut und Enttäuschung heraus, doch ich beschließe, nichts zu sagen, da ich nicht den Eindruck erwecken will, allzu neugierig zu sein. Sie wird mir schon verraten, warum sie das eben gesagt hat, da sie mir vertraut und sicherlich ihr Herz ausschütten will. Menschen sind sehr redselig und Natalie erst recht.
Die Kellnerin bringt unser Frühstück.
»Ich hoffe, es schmeckt dir«, sagt sie und schaut mich erwartungsvoll an.
Diesen Blick kenne ich von gestern Abend und er gefällt mir sehr. Ihre großen blauen Augen wirken so verträumt und in diesem Augenblick fällt es mir schwer, ihr nicht jeden Wunsch zu erfüllen.
Ich probiere. »Sehr lecker«, sage ich. Sie schmunzelt und fängt auch an zu essen. Das Gespräch bewegt sich in seichtere Gewässer und ich bereue, dass ich ihre Steilvorlage mit dem Vater nicht genutzt habe, um ihr weitere Fragen zu stellen.
Da ist sie wieder, meine Ungeduld!
»Hast du heute viel zu tun?«, fragt sich mich.
»Warum? Möchtest du Zeit mit mir verbringen?«
»Ja, sehr gerne sogar. Aber nur, wenn du Zeit hast, ich will mich nicht aufdrängen.«
»Das tust du nicht. Niemals«, lächele ich und greife nach ihrer Hand. Sie ist kleiner als meine, obwohl Natalie mit ihren vermutlich knapp ein Meter fünfundsiebzig größer ist als die meisten Frauen. Ich streichle ihre Hand, es scheint ihr zu gefallen.
»Und, hast du noch Zeit? Ich hätte da eine Idee …« Ihr breites Grinsen verrät sie.
»Das ist eine sehr geile Idee, aber leider muss ich arbeiten«, antworte ich und sehe sofort die Enttäuschung in ihrem Gesicht. Sie ist kein Mensch, der seine Gefühle verbergen kann, wahrscheinlich will sie das auch gar nicht. Ich wünsche ihr, dass sie das auch nie wird tun müssen.
»Schade«, rutscht es ihr heraus. »Wie lange musst du denn arbeiten?«
»Das weiß ich leider nicht, könnte länger dauern. Je nachdem, wie gut wir mit dem Projekt vorankommen.«
»Und heute Abend? Ich kann auch sehr spät.«
»Sagen deine Eltern nichts, wenn du zwei Tage hintereinander nicht zu Hause übernachtest?«
»Mach dir da keinen Kopf.« Sie macht eine abwertende Handbewegung. »Meine Mutter ist auf Sardinien und mein Vater bestimmt bei seiner Schlampe von Freundin.«
»Eine Freundin? Sind deine Eltern geschieden?«, reagiere ich schnell, ich möchte mir den Schock nicht anmerken lassen. Schließlich weiß ich, dass die Eltern offiziell nicht geschieden sind, was aber nicht heißt, dass sie nicht trotzdem getrennt leben. Ich kenne mich in solchen Kreisen nicht aus, aber ich weiß, dass Geld manche Dummheit rechtfertigt. Wer sagt denn, dass die Frau nicht auch von der Schlampe weiß, ihren Mann aber dafür finanziell bluten lässt.
Das wäre für mich eine Katastrophe.
»Nein, das musst du für dich behalten. Meine Mutter weiß nichts davon. Das würde sie nicht verkraften«, erklärt mir Natalie. Sie kann nicht wissen, wie sehr mich diese Worte beruhigen, weil es mir bestätigt, dass mein Plan doch noch aufgehen kann.
»Und woher weißt du das?«
»Ich habe so meine Quellen«, bleibt sie vieldeutig, doch dann fügt sie hinzu: »Meine beste Freundin hat die beiden turtelnd in Cannes gesehen. Sie war dort mit ihrem Freund. Ich wollte ihr das nicht glauben, aber sie hat mir ein Foto geschickt. Zum Glück ist sie keine Tratschtante. Papa weiß nicht, dass ich es weiß. Ich will diese Bombe auch nicht platzen lassen, aber wenn er mir deinetwegen Steine in den Weg legt, bleibt mir keine Wahl. Du siehst, ich bin auf alle Eventualitäten vorbereitet.« Jetzt strahlen ihre Augen nicht mehr, sie wirkt verletzt und ihre Worte klingen so leer und schwach. Ich habe Mühe, zu glauben, dass das hier meine naive und idealistische Natalie ist. Das passt so gar nicht zu ihr.
»Weiß dein Bruder davon?«
»Mein Bruder? Woher weißt du, dass ich einen Bruder habe?«, fragt sie, sie schaut mich irritiert an und ich beiße mir für diese Unachtsamkeit auf die Zunge. Wenn ich alleine wäre, würde ich mich ohrfeigen, aber ich bin nicht alleine. Also muss eine Ausrede her, schnell, bevor sie noch misstrauischer wird.
»Süße, das hast du mir gestern Nacht auf dem Hotelzimmer erzählt, du hast wohl einen kleinen Filmriss«, lächle ich und gebe meinem Tonfall etwas leicht Spöttisches, ich will nicht, dass sie unsicher wird. Logischerweise kann ich ihr unmöglich verraten, dass ich ihre Familie ausspioniert habe, dass ich in Wahrheit anders heiße, als sie glaubt, und vor allem, dass ich der Mörder ihres Vaters sein werde. »Vielleicht hätten wir die dritte Flasche nicht leeren sollen.«
Sie lacht und wirkt leicht verlegen, ihre Wangen röten sich. »Jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich.« Natürlich ist das gelogen, aber es ist offensichtlich, dass sie sich nicht die Blöße geben und eingestehen will, dass sie lieber weniger trinken sollte.
Schon vorhin hatte sie vorgeschlagen, ein Gläschen Sekt zu trinken, was ich jedoch abgelehnt habe. Keine Ahnung, ob das an der Region liegt, aber mir ist aufgefallen, dass hier verhältnismäßig viel getrunken wird. Ich nehme mir heraus, das beurteilen zu können, denn ich reise viel und es gibt kein Bundesland, das ich noch nicht besucht habe. Mich würde es nicht wundern, wenn Studien meine Gedanken untermauern.
»Wie lange weißt du das schon?«, frage ich sie. Ich will diesen kleinen Fauxpas rasch überspielen, aber es soll mir eine Mahnung sein, ab jetzt vorsichtiger zu sein. So ein Fehler darf mir nicht erneut passieren. Es zeigt, dass ich eben auch nur ein Mensch bin, und Menschen machen Fehler. Nur: Ich hasse Fehler, vor allem wenn ich die Ursache dieser Fehler bin.
»Seit zwei Monaten. Die ersten Wochen waren echt hart. Am liebsten hätte ich Papa zur Rede gestellt, aber dann habe ich mir eine Erklärung überlegt und mit Sarah gesprochen. Männer brauchen nun mal Bestätigung und Sex und Mama gibt Papa beides nicht. Sie ist mehr mit sich selbst beschäftigt und wie Papa viel unterwegs, aber mehr zum Vergnügen, während Papa die Kohle ranschafft. Kein Wunder, dass er sich seine Bestätigung woanders holt.« Sie hebt die Schultern und fügt hinzu: »Gut, dass ich ihn nicht zur Rede gestellt habe, so habe ich was gut bei ihm.«
»Glaubst du, dass er deine Mutter noch liebt?«
»Ja, sehr sogar. Und Mama ihn auch, sonst würde ich das Geheimnis gar nicht erst mit mir rumschleppen. Findest du das scheiße von mir?«
»Nein, ganz und gar nicht. Das ist sehr weitsichtig. Vermutlich ist es wirklich so, dass dein Vater die Bestätigung braucht und sich diese bei jüngeren Frauen holt.«
»Was auch sonst? Ich habe die Schlampe mal ausspioniert und nach ihr gegoogelt. Die Hellste ist sie nicht. Sie arbeitet als Kellnerin in einer Ludwigshafener Bar. Das sagt doch alles.«
Ich nicke nur. »Ist dein Papa bei ihr? Deswegen hast du gerade sturmfrei«, schlussfolgere ich.
»Ja, bestimmt. Er hat mir gestern Abend eine Nachricht geschrieben, dass er auf Geschäftstermin ist bis heute Mittag. So ein Depp, als ob ich nicht wüsste, wo er ist. Also, sehen wir uns heute Abend?«
»Ich wünschte, ich könnte Ja sagen, Süße. Aber ich muss das spontan entscheiden. Ist das okay für dich? Plane lieber nicht mit mir, ich möchte dir den Abend nicht ruinieren.«
»So ein Quatsch, das tust du nicht. Wäre sehr schön, wenn es klappt.«
»Ich versuche es. Hast du denn ein Alternativprogramm?«
»Ich würde mich mit Sarah treffen. Wir wollten vielleicht nach Heidelberg oder in die Pfalz.«
»Das hört sich doch super an«, antworte ich und winke die Kellnerin zu mir für die Rechnung. Natalie möchte mich unbedingt einladen, aber ich bestehe darauf, dass ich das Frühstück übernehme, und sie willigt ein.
Nach dem Bezahlen verlassen wir das Café und ich verabschiede mich von ihr mit dem Versprechen, mich sofort zu melden, wenn ich mit der Arbeit fertig bin.
»Würde mich sehr freuen«, sagt sie noch und küsst mich, mit Zunge. Es ist ein sehr schöner, leidenschaftlicher Kuss, es wäre gelogen, wenn ich leugnen würde, dass ich sie nicht gerne mit ins Hotel nehmen würde. Aber es darf nicht sein, ich riskiere schon mehr, als mir vermutlich guttut. Der Versprecher war Beweis genug, dass ich nicht so kontrolliert bin, wie ich glaube. Das liegt nicht nur daran, dass ich mich geschmeichelt fühle, dass so eine junge hübsche Frau auf mich steht, sondern auch daran, dass ich ihr merkwürdigerweise vertraue und es mir leichtfällt, ihr Dinge anzuvertrauen. Zu leicht. Dinge, die sie niemals wissen darf. Das mit uns hat keine Zukunft. Es darf keine Zukunft haben.
»Ich melde mich«, wiederhole ich, löse die Umarmung und gehe in die entgegengesetzte Richtung. Nach einigen Schritten drehe ich mich um, und als wäre es Gedankenübertragung, dreht sie sich auch um. Sie lächelt und mir wird wieder so seltsam warm ums Herz, in meinem Bauch fängt es an zu kribbeln.
»Verlieb dich ja nicht«, ermahne ich mich und setze meinen Weg fort, begleitet von dem angenehmen Gefühl, das mir leise zuflüstert: Auch für dich gibt es ein Glück.
Schnell wische ich diese naive Regung weg und fokussiere mich auf den Grund meiner Reise: Alwin Vogel!
Den folgerichtigen Gedanken, dass Natalie in ein tiefes Loch fallen wird, wenn ihr Vater tot ist, und ich nicht mehr da sein werde, um sie zu trösten, verdränge ich. Warum muss mein Leben immer so kompliziert sein? Ich hasse Gefühle!
Inzwischen habe ich so in Gedanken den Paradeplatz erreicht und steuere auf eine Bank zu, um mich zu setzen und die Sonne zu genießen, um meine Gedanken zu sortieren und zu schauen, ob sich Alwi endlich gemeldet hat, schließlich müsste er sich so langsam von seiner Freundin losgeeist haben, dieser geile Bock.
Ich öffne die E-Mail-App, meines Androidhandys das ich natürlich anonymisiert habe. Das ist das Gute an Android, man kann viel daran den eigenen Bedürfnissen anpassen, wenn man sich auskennt und programmieren kann.
Zu meiner Freude sehe ich, dass ich eine neue Nachricht habe. Sie ist von Alwi, dem notgeilen Hengst. Neugierig öffne ich die Nachricht und lese sie:
Woher weiß ich, dass Sie mich danach in Ruhe lassen?
Gar nicht, aber das musst du auch nicht. Dich zieh ich jetzt schön genüsslich an Land,
denke ich und schreibe meine Antwort.
Gar nicht! Aber seien Sie versichert, dass morgen sämtliche Fotos an den Mannheimer Morgen gemailt werden, wenn Sie bis heute um 17 Uhr nicht antworten.
Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, schicke ich ihm zwei weitere Fotos von ihm und seiner jungen Dirne. Ich hoffe, dass die Fotos ihm den Hals zuschnüren werden und er merkt, was für ein Chauvinist er ist. Am Ende ist er selbst schuld, warum muss er Beweisfotos von seiner Fremdfickerei machen? Jeder weiß doch, dass Handys heute leicht gehackt werden können. Es ist schon so vielen Stars passiert, dass Sexfotos im Internet geleakt wurden, dass einem das Mahnung genug sein müsste, oder? Wobei ich bei den Stars manchmal den Verdacht habe, dass sie das absichtlich machen, um ihre Karriere voranzutreiben.
Sex sells! Aber nicht bei Alwi, bei ihm heißt es: Sex kills!
Ich amüsiere mich über dieses Wortspiel und will mein Handy wegstecken, weil ich davon ausgehe, dass Alwi etwas Zeit benötigt, um die neue Nachricht zu verarbeiten. Sicherlich wird er nicht vor 16 Uhr antworten, so weit kenne ich diesen Hund schon.
Kurz bevor das Handy in meiner Hosentasche landet, sehe ich, dass ich eine neue Nachricht erhalten habe. Sie stammt nicht von Alwi, es ist jemand anders.
Hey, alles gut?
Ja, alles gut,
antworte ich. Dabei ist nichts gut. Alwi, dieser Dreckskerl, hängt zwar bereits an der Angel, aber er will seine Gegenwehr nicht aufgeben und dann muss ich auch noch mit seiner lieben, naiven und idealistischen Tochter anbändeln.
Na, so naiv ist sie eigentlich gar nicht, korrigiere ich mich. Immerhin hält sie sich alle Optionen offen, um ihren Vater zu erpressen, wenn sie muss. Das ist schon berechnend, oder? Aber Alwi hat das absolut verdient, ihr spreche ich da kein Fehlverhalten zu.
Sicher? Ich mache mir Sorgen!
Er macht sich immer Sorgen um mich, auch wenn ich ihm gesagt habe, dass er das nicht soll, dass ich mein Leben im Griff habe, aber er kann nicht aus seiner Haut.
Das musst du nicht! Ich habe alles unter Kontrolle, sonst würde ich dir Bescheid geben.
Das will ich hoffen. Du weißt, dass ich für dich da bin.
Ja,
antworte ich, weil ich weiß, dass das nicht bloß eine Floskel ist, sondern dass ich ihm blind vertrauen kann. Das von mir zu hören, ist keine Selbstverständlichkeit, weil ich generell niemandem vertraue.
Du wirst doch keinen Unfug treiben?
Nein, ganz sicher nicht. Alles gut. Ich melde mich bei dir, heute Abend. Versprochen.
Gut!
Dass er sich Sorgen um mich macht, gefällt mir nicht, schließlich bedeutet er mir viel, viel mehr, als es Natalie oder eine andere Person je tun könnten. Uns verbindet weit mehr, als mich mit anderen Personen verbindet.
Ich mache mir eine Notiz, dass ich ihn um 19 Uhr anrufen werde. Die Notiz ist zwar nicht wirklich nötig, weil ich von mir behaupten kann, ein gutes Gedächtnis zu haben, aber als Gedankenstütze ist es trotzdem sinnvoll.
Auf meinem Bildschirm erscheint eine weitere Meldung. Ich habe eine neue E-Mail bekommen. Ich öffne die E-Mail-App und zu meinem Erstaunen ist die Nachricht von Alwi. Habe ich ihn wohl doch falsch eingeschätzt. Dem alten Bock scheint die Sache auf den Nägeln zu brennen. Soll mir recht sein, das stärkt nur meine Verhandlungsposition. Wobei, eine echte Verhandlung ist es ja nicht. Er muss tun, was ich sage!
Ich lese die Nachricht.
Heute um 22 Uhr an dem von Ihnen vereinbarten Ort, aber danach will ich nie wieder etwas von Ihnen hören!!!
Die drei Ausrufungszeichen hätte er sich sparen können, ich kann ihm versichern, dass er nie wieder etwas von mir hören wird, er wird von niemandem je wieder etwas hören, weil er heute um 22 Uhr mausetot sein wird.
22 Uhr! Seien Sie pünktlich und vergessen Sie das Geld nicht, danach sind Sie mich los.