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ie von Thomas Krüger behauptet, trafen die beiden Lübecker Beamten Carsten Purzel in der Nordkneipe
, wo dieser am Tresen saß und ein Glas Pils in der Hand hielt.
Mit dieser Wendung des Falles hätte Arndt niemals gerechnet, zumal sie nie auf Krüger als Zeugen gekommen wären. Sie waren wegen des Wirtes Henning Schmitt vor Ort gewesen, aber Schmitt hatte Krügers Angaben bestätigt und auch, dass es in den Wochen vor dem Mord an dem SPD-Politiker Nils Holm immer wieder zu Streitereien gekommen war.
»Moin«, machten sich Arndt und Elke bemerkbar.
»Moin«, antwortete der Wirt und beäugte die beiden kritisch. »Wollt ihr ein Bier?«
»Sind Sie Carsten Purzel?«, fragte Arndt den Gast am Tresen. Vom Aussehen her passte er zu der Beschreibung von Krüger und Schmitt. Der Mann war etwas kleiner als Arndt, um die ein Meter achtzig, etwas fülliger, hatte eine Glatze, was wohl starkem Haarausfall geschuldet war, und trug einen Vollbart. Alles in allem sah er nicht wie der typische Neonazi aus, wie man ihn sich klischeehaft vorstellte. Er hätte genauso gut SPD- oder CDU-Wähler sein können. Wenn er denn Purzel war.
»Warum?« Der Mann wirkte ruhig, er nahm einen Schluck von seinem Bier, dabei musterte er Arndt eingehend, bis sein Blick an Elke hängen blieb. Er starrte sie geradezu an.
»Wir sind von der Lübecker Kripo«, antwortete Arndt. Im selben Moment schubste der Mann ihn weg und Arndt stürzte fast über Elke. Der andere nutzte die Situation, sprang von seinem Sitz auf und lief weg.
»Lauf ihm nach«, rief Elke, die bei dem Gerangel gestolpert war.
Arndt zögerte keine Sekunde und lief los. Er sah, dass Purzel nach links lief, Richtung Promenade. Dafür, dass der Flüchtende optisch eher wie ein Müßiggänger aussah, legte er ein enormes Tempo vor, weshalb Arndt die Laufgeschwindigkeit zu erhöhen versuchte, indem er größere Schritte machte.
Inzwischen hatten sie die Strandpromenade erreicht, Purzel bog nach rechts Richtung Jachthafen ab und gefühlt kam Arndt ihm keinen Meter näher.
»Bleiben Sie stehen«, rief er ihm nach. »Wir wollen nur mit Ihnen reden.«
Doch es half nichts, der Verdächtige schien das Tempo erneut anzuziehen, der Abstand zwischen ihnen wurde größer. Da die Promenade gut besucht war, musste Arndt immer wieder Passanten ausweichen. Das ein oder andere Mal wurde er übel beschimpft.
»Das ist kein Joggingpfad, junger Mann!«, war noch eine der netteren Bemerkungen, denn als jungen Mann empfand er sich mit seinen dreiundvierzig Jahren nun wirklich nicht. Erst recht nicht in diesem Moment, denn seine Kondition machte ihm langsam zu schaffen. Er presste die Zähne zusammen und holte die letzten Reserven aus seinem Körper. Purzel durfte ihm auf keinen Fall entwischen.
Doch jetzt zeigten seine Reserven Wirkung, er verringerte den Abstand. Das gab ihm Mut, sodass er das Tempo noch einmal erhöhte. Den stechenden Schmerz, der dabei durch seinen Körper jagte, ignorierte er.
An dem Kreisel, den sie gerade erreicht hatten, machte der Flüchtende plötzlich eine Rechtsdrehung und verließ die Promenade, doch mittlerweile konnte er das Tempo nicht mehr halten, Arndt hingegen schon und der Abstand schmolz mit jeder Sekunde dahin.
Dann geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Purzel blieb einfach stehen. Als Arndt ihn erreichte, erkannte er, warum. Der kräftige Mann war völlig außer Atem. Purzel ließ sich zu Boden fallen.
Arndt gab ihm Zeit, zu Kräften zu kommen, weglaufen konnte er nicht und ihn zu verhaften war nicht möglich, weil es keinen Haftgrund gab. Nur weil sich Purzel mit Holm gestritten hatte, machte ihn das noch lange nicht zum Mörder.
Inzwischen hatte auch Elke die beiden erreicht. Sie wirkte deutlich frischer.
»Das mit der Kondition ist so eine Sache«, sagte sie. »Dabei gibt es keinen Grund, wegzulaufen, erst recht nicht, wenn Sie nichts befürchten müssen.«
»Dass ich nicht lache, ihr Bullen macht einem doch immer nur Ärger«, motzte Purzel, der zwar laut und schnell atmete, aber augenscheinlich genug Reserven hatte, sich zu beschweren.
»Stehen Sie auf«, forderte Arndt ihn auf. Es war an der Zeit, das Gespräch zu führen, weswegen sie ihn überhaupt aufgesucht hatten. Sein Mitleid mit dem NPD-Mitglied hielt sich in Grenzen.
»Ja, verdammt. Mir tut alles weh.«
»Dann hätten Sie nicht wegrennen dürfen. Aufstehen«, mahnte Arndt in schärferem Tonfall. Glaubte Purzel wirklich, dass er die Beamten mit dieser Nummer davon abhalten könnte, ihm Fragen zu stellen?
Langsam raffte sich der am Boden Liegende auf.
»Ich habe mit den Schmierereien im Asylantenheim nix zu tun.«
»Das interessiert uns nicht«, entgegnete Arndt, verstand jetzt aber, warum Purzel das Weite gesucht hatte. Mit seinem braunen Parteibuch war es wohl unvermeidlich, dass man ihn in solchen Fällen verdächtigte. Was genau im Asylantenheim geschehen war, war nebensächlich, Arndt ging es um den Mord an Holm. Sicherlich würden sich andere Polizeibeamte um den Vorfall kümmern.
»Und warum wollen Sie mich dann sprechen?« Purzel wirkte irritiert, er zog eine Grimasse, die Arndt nicht so recht deuten konnte.
»Es geht um Nils Holm.«
»Was habe ich mit diesem Dreckspack zu schaffen?«, schimpfte Purzel. Sein Kopf lief plötzlich rot an, ein Zeichen, dass er zu cholerischen Reaktionen neigte. Es erinnerte Arndt an seinen Chef Willy, dessen Kopf auch rot anlief, wenn er wütend wurde.
»Wie war Ihr Verhältnis zu ihm?«
»Mein Verhältnis zu diesem dreckigen Juden?«
»Achten Sie auf Ihre Worte«, wurde Arndt ungemütlich. Zum einen war Holm kein Jude, zum anderen war eine solche Ausdrucksweise für ihn vollkommen inakzeptabel und rassistisch, da kannte er keine Toleranz.
»Warum? Ist doch so. Dieser Dreckskerl ist dafür verantwortlich, dass die Mörder meiner Frau frei rumlaufen.«
Krüger hatte zwar angesprochen, dass Holm den Mörder von Purzels Frau verteidigt hatte, aber zu welcher Strafe dieser verurteilt worden war, hatte er nicht sagen können. Der Hass in Purzels Augen war jedoch nicht zu übersehen, Arndt traute ihm alles zu. Dieser Mann hatte noch immer nicht überwunden, dass man ihm seine Frau auf brutale Weise genommen hatte.
»Hatten Sie Streit mit ihm?«, fragte Elke.
»Ich hätte Streit mit ihm, solange ich lebe. Ich habe ihn gehasst, Sie glauben gar nicht, wie sehr. Das ist es doch, warum Sie hier sind, nicht? Ich bin nicht blöd. Ja, ich bin froh, dass dieser Dreckskerl tot ist. Er hat es verdient.«
Die Augen von Purzel schienen hervorzutreten und sein Blick nahm einen irren Ausdruck an, er erinnerte Arndt an ein Tier, das in die Ecke getrieben wurde und nun zum Äußersten bereit war. Das war seltsam, schließlich hatte es nur eine Befragung werden sollen. Noch war Purzel kein Verdächtiger, aber er verhielt sich so.
»Wo waren Sie am 10. und 11. Juni dieses Jahres?«, fragte Arndt. Er musste wissen, ob Purzel ein Alibi hatte, danach würde er entscheiden, ob er das Gespräch fortführen würde oder nicht.
»Scheiße. Ist doch alles Scheiße.« Purzel presste die Lippen zusammen, ballte seine rechte Hand zur Faust, öffnete sie dann wieder, fuhr sich mit der Hand über den Kopf und starrte Arndt an. »Ich weiß, was das wird, aber gut, scheiß drauf. Ja, ich habe diesen Dreckskerl erschossen, zufrieden? Er hat es verdient.«