19
Köln
»H
ast du was gefunden?«, fragte Brandt. Er stand mit Aydin in Fischers Büro und schaute dem Kollegen aus der IT über die Schulter.
Nachdem Sie sich in der Firma von Klaus Lau einige E-Mails auf dem Rechner im Besprechungsraum angesehen hatten, stand für Brandt außer Frage, dass sie unbedingt Zugriff auf den Rechner und die Server haben mussten. Helene Mück hatte das abgelehnt, daher hatte Brandt Bender gebeten, eine richterliche Verfügung zu erwirken, worum sie sich zügig gekümmert hatte.
Nun hatten sie den Rechner und, was noch wichtiger war, den Zugriff auf Laus Daten. Da vieles über Server lief, waren die Zugangsdaten dafür noch wertvoller als der Rechner selbst, obwohl sie natürlich nur Zugriff auf die E-Mails und nicht auf den gesamten Serverinhalt bekamen, da nur dies durch die richterliche Verfügung gedeckt war.
»Leider gibt es nichts, was euch nützen könnte. Zwar sieht einiges ganz vielversprechend aus, aber ich muss prüfen, wie ernst diese Nachrichten zu nehmen sind. Politiker wie Lau bekommen unzählige Nachrichten am Tag, viele Spinner schreiben ihm, aber das meiste kann man nicht als Bedrohung sehen, auch wenn es sich manchmal so liest. Oft ist es nur Frust.«
»Ich verstehe, aber einige wünschen ihm doch tatsächlich den Tod, ich weiß nicht, ob wir da nicht ansetzen sollten«, schlug Brandt vor, der die E-Mail-Nachrichten, vor allem die mit den Todesdrohungen, nicht so locker nahm wie Fischer. Vielleicht lag es daran, dass Brandt sich gerade an jeden Strohhalm klammerte, den er fand.
»Die habe ich bereits in eine Matrix gepackt und suche jetzt nach Verknüpfungen zu den Posts in Laus privaten sozialen Profilen und in den Profilen der CDU von NRW und Köln. Wenn es dort weitere gemeinsame Muster gibt, wird es eine Rastersuche zu den Profilen der E-Mail-Absender geben, sollte das Programm da etwas ausspucken, informiere ich euch sofort. Ihr müsst mir nur etwas Zeit geben.«
»Die kriegst du«, antwortete Aydin und klopfte Fischer anerkennend auf die Schulter.
»Was machen die Verbindungsnachweise?«, erkundigte sich Brandt.
»Noch ist nichts eingetrudelt. Erst gestern habe ich noch mal beim Provider angefragt. Ich hoffe, die Tage kommt was.« Fischer wirkte kurzzeitig ein wenig bedrückt, vermutlich weil er keine guten Nachrichten hatte und ihm das leidtat, doch dafür konnte er nichts.
»Hast du überprüft, ob es irgendeine politische Verbindung zwischen Holm und Lau gibt? Haben sich beide für irgendein Thema starkgemacht und damit jemanden verärgert?«
»Da bin ich noch dran, aber bisher deutet nichts auf gemeinsame politische Aktivitäten hin.«
»Und unternehmerische? Beide waren doch selbstständig. Holm war Anwalt, vielleicht hat er Lau bei einer Sache verteidigt, die brenzlig war und nun jemanden auf den Plan gerufen hat, sich an ihm zu rächen«, sagte Aydin.
»Auch dort gibt es bisher keine Überschneidungen, was aber nicht heißt, dass es nicht doch möglich ist. Leider haben wir keinen Zugriff auf sämtliche Informationen. Daher müsst ihr meine Aussagen immer mit der nötigen Vorsicht sehen und bewerten.«
»Das tun wir«, antwortete Aydin und Brandt sah ihm an, dass er mit der Antwort genauso wenig zufrieden war wie er selbst.
»Wie schaut es mit dem Wettbewerber aus?«
»Da habe ich was. In einer Notiz, die Lau auf seinem Rechner gespeichert hat, schreibt er, dass er die Beharrlichkeit von Emanuel Schiffer, dem Unternehmensgründer, unterschätzt habe und die Sache schon bedrohliche Zustände annehme, weil Schiffer davon besessen sei, das Unternehmen zu übernehmen. Doch Lau dachte offensichtlich gar nicht daran, es zu veräußern.«
»Kannst du uns diese Notiz weiterleiten?«
»Klar«, nickte Fischer. »In fünf Minuten habt ihr sie.«
»Danke. Kannst du bitte auch überprüfen, ob Holm ein Mandat für Schiffer übernommen hat?«
»Das hatte ich vor, weil ich diese Frage geahnt habe.« Fischer schmunzelte. Erst jetzt fiel Brandt auf, dass er trotz der vielen Arbeit bester Laune war.
»Gibt es einen Grund für deine gute Laune?«
»Klar, aber das bleibt unter uns, okay?« Die Frage klang eher wie eine Aufforderung.
»Unsere Lippen sind versiegelt.«
»Nichts anderes habe ich erwartet. Heute Abend steigt in Köln eine LAN-Hackerparty.«
»Eine LAN-Hackerparty?«, wiederholte Brandt. Er wusste zwar, was LAN-Partys waren, und hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was Hacker dort taten, aber konnte man von einer Party sprechen, wenn sich Computerfreaks irgendwo einhackten?
»Kollege Brandt ist aus einer anderen Generation. Computer sind ihm noch immer fremd, er ist eher der Freund von Schreibmaschinen.« Diese Steilvorlage konnte sich Aydin augenscheinlich unmöglich entgehen lassen. Er grinste breit.
»Witzig«, konterte Brandt und boxte seinen Kollegen freundschaftlich in die Seite.
»Hacker aus der ganzen Welt kommen nach Köln. Es fängt heute Abend um 22 Uhr an und geht die nächsten drei Tage. Zutritt gibt es nur auf Einladung. Stellt euch mal vor, fast vierhundert der weltbesten Hacker an einem Ort, alle mit ihren Rechnern und geballter Serverlandschaft und ich darf dabei sein!« Fischer hatte bei diesen Worten große Augen bekommen und strahlte bis über beide Ohren. Es war nicht zu übersehen, dass er und der Computer eine unzertrennbare Einheit waren. »Keine Sorge, meine Arbeit wird darunter nicht leiden, aber diese Einladung konnte ich unmöglich ablehnen. Das ist doch okay, oder?« Seine Stimme klang plötzlich unsicher.
»Na klar. Geh da hin. Wenn das dein Ding ist, musst du hin. Du wirst bestimmt auf interessante Typen treffen und am Ende hilft uns dein Hacker-Know-how doch immer wieder bei den Ermittlungen. Wer sind denn diese Top-Hacker, auf die sich die Community freut?«, fragte Aydin.
»Als ob dir die Namen was sagen, tu bloß nicht so. Du bist doch der typische Playstationzocker. Ach sorry, du spielst ja Pokémon Go«, revanchierte sich Brandt für Aydins kleine Spitze von vorhin.
»Na ja, einen kennt sogar ihr beide. Auf das Wiedersehen mit ihm freue ich mich am meisten.«
»Sag bloß, es ist Joe«, platzte Aydin heraus. Brandt verdrehte die Augen, denn er nahm an, dass Aydin Fischer auch gleich wegen Walsh fragen würde.
»Genau der. Das wird ein Fest, Jungs. Mit Joe an einem Hack arbeiten zu dürfen, ist mir drei schlaflose Nächte absolut wert.«
»Sehr gut. Grüß ihn von uns«, antwortete Brandt. Es wurde höchste Zeit, das Gespräch zu beenden, bevor Aydin wieder den Walsh-Groupie heraushängen ließ. »Wenn du was hast …«
»… melde ich mich sofort«, beendete Fischer den Satz. Die beiden Beamten nickten und verließen das Büro.
»Kaffee?«, fragte Aydin.
»Warum nicht. Was meinst du, sollten wir Schiffer einen Besuch abstatten?«
»Dass er Lau gedroht hat, mag einen Verdachtshinweis liefern, aber in welcher Verbindung steht Schiffer zu dem Mord in Lübeck? Nils Holm war Anwalt und somit kein Konkurrent von Schiffer. Warum sollte er ihn ermorden lassen?«
»Das sehe ich auch so. Dann stellen wir das zurück, bis wir weitere Hinweise haben, die es notwendig machen, Schiffer doch einen Besuch abzustatten.«
»Warst du schon mal auf einer LAN-Party?«
»Nein, war ich nicht. Und es gibt auch keinen Grund, warum wir dort aufschlagen sollten. Erwartest du, dass Walsh zu so was geht? Das ist doch Joes Steckenpferd.« Sie betraten die Küche.
»Nein, darum gehts mir überhaupt nicht. Du willst mir nur wieder was in den Mund legen, was nicht der Wahrheit entspricht. Aber ich denke, dass es schon interessant sein könnte, die weltbesten Hacker mal live in Action zu erleben.«
»Du hast doch gehört, dass das nur über eine Einladung geht. Bevor du weiter so einen Käse von dir gibst, mach dich nützlich und schenk uns einen Kaffee ein.«
»Verteilt der Kollege Brandt wieder Aufgaben?«, wurden die beiden durch Alexander Rech unterbrochen, der gerade die Küche betrat.
»Nein, ich habe ihn nur gebeten, am besten drei Kaffee zu machen, da ich wusste, dass du gleich reinkommen würdest, und der gute Aydin ja nicht als Kameradenschwein dastehen soll«, witzelte Brandt. »Was gibt es Neues?«
»Wieso wusste ich, dass du diese Frage stellen würdest? Sicherlich meinst du den Fall und nicht mein persönliches Befinden«, schmunzelte Rech. »Du wirst erfreut sein, es gibt einige Neuigkeiten.«
Brandt horchte auf, während Aydin drei Becher mit Kaffee füllte.
»Dann lass mal hören.«
»Bei den Reifenspuren handelt es sich um Standard-siebzehn-Zoll-Reifen, die auf Millionen von Fahrzeugen in Deutschland aufgezogen werden. Das Reifenprofil aber lässt darauf schließen, dass es sich entweder um ein relativ neues Fahrzeug handelt oder um einen Mietwagen.«
»Was ist mit weiteren Spuren? Gewebe, Fasern?«
»Leider gar nichts, jedenfalls nichts Verwertbares, das wir auf die Tat oder unmittelbar auf den Täter zurückführen könnten. Ich stimme mich sehr eng mit Ole von den Lübecker Kollegen ab, aber auch die haben bisher keine Spuren gefunden, die uns weiterhelfen könnten. Der Täter geht sehr vorsichtig vor, was für einen Profi spricht.«
Aydin reichte zuerst Rech einen Kaffeebecher, dann Brandt und gönnte sich selbst einen Schluck.
»Danke. Ich melde mich, sobald ich etwas habe.« Rech nickte und verließ mit dem Becher in der Hand die Küche.
»Komm, lass uns ein Brainstorming machen. Irgendetwas müssen wir bislang übersehen haben. Es muss eine Verbindung zwischen den Morden geben und genau die wird die Schwachstelle des Täters sein. Sie wird uns direkt zu ihm führen.« Das jedenfalls hoffte Brandt. Auf der anderen Seite sprachen die bisherigen Fakten gegen seine Annahme. Der erste Mord war am 11. Juni geschehen, somit fast drei Monate vor dem Kölner Mord. Das bedeutete, dass der Mörder es nicht eilig hatte und seine Taten sehr genau plante, bevor er zuschlug. Hieß das aber auch, dass es noch weitere Morde geben würde? Brandt hoffte es nicht.
So in Gedanken erreichten Aydin und er ihr Büro und traten ein.
»Lass uns mit dem Lübecker Mord anfangen, dann arbeiten wir uns zu dem Kölner vor und versuchen Verknüpfungen zu finden, die wir bisher nicht berücksichtigt haben, okay?«
»Hört sich gut an«, nickte Aydin und trank einen Schluck Kaffee, Brandt tat es ihm gleich.
Schritt für Schritt gingen sie nun alle Hinweise durch, brachten neue Notizen auf das Whiteboard und diskutierten sie, um Querverweise filtern zu können. Aber am Ende waren sie nicht viel schlauer als vorher.
»Weder Nazis, Islamisten noch ein gekränkter und gieriger Unternehmer passen in das Profil des Täters und das Tatmuster«, resümierte Brandt etwas enttäuscht.
»Bleibt nur noch der durchgeknallte Einzeltäter, der sich wahllos Politiker aussucht und sie ermordet.«
»Mag sein, aber warum lässt er sich so viel Zeit? Und wo ist die Trophäe? Die brauchen Psychopathen doch, Trophäen von ihren Opfern, um sich an die Tat zu erinnern. Ich weiß nicht. Es fehlen einfach noch zu viele Puzzleteile.«
»Bleibt nur noch die Option Auslandsgeheimdienst.«
»Daran habe ich auch gedacht. Wenn der russische Geheimdienst GRU in Berlin einen Georgier eiskalt erschießen lassen kann, ohne dass der deutsche Nachrichtendienst Kenntnis davon hat, warum sollten sie dann nicht auch deutsche Politiker ermorden lassen können? Der einzige Haken an der Sache ist: Beide Politiker haben zu keiner Zeit eine Gefahr für Russland dargestellt oder gar Russland kritisiert. Dafür waren sie zu unbedeutend.«
»Gerade deswegen. Vielleicht soll es ein Zeichen sein, dass Russland jederzeit und überall zuschlagen kann, damit Deutschland sich endlich für ein Ende der Sanktionen gegen Russland einsetzt. Das könnte doch ebenso erklären, warum das BKA so geizig mit Informationen ist. Die wollen nicht, dass wir genau das herausfinden.«
Brandt schüttelte den Kopf, sein Bauchgefühl, dem er so oft vertraute, sagte ihm, dass diese Theorie am unwahrscheinlichsten war. »Ich weiß, dass du ein Fan von Verschwörungstheorien und diesem ganzen James-Bond-Quatsch bist, aber das hier ist kein Agententhriller. Wir müssen sachlich und objektiv ermitteln. Diese Möglichkeit führt in eine Sackgasse, dafür sollten wir keine Ressourcen verschwenden.«
»Wie du meinst, aber sag später nicht, dass ich es nicht angesprochen habe.«
»Garantiert nicht, weil es nicht eintreten wird. Was noch möglich wäre, ist, dass wir es mit einer kleinen radikalen Gruppe zu tun haben, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Politiker zu ermorden, ohne beispielsweise durch eine Botschaft oder ein Manifest in Erscheinung zu treten. Das würde jedenfalls den hohen Grad der Professionalisierung erklären«, äußerte Brandt einen neuen Gedanken, Aydin nickte. »Gut, dann sollten wir uns darauf konzentrieren, bis wir neue Hinweise bekommen, die etwas anderes vermuten lassen.«
»Okay. Soll ich Fischer anrufen und ihn bitten, zu recherchieren, ob es im Darknet oder anderen Untergrundforen Informationen dazu gibt? Jede Gruppe hinterlässt doch Spuren.«
»Gute Idee.«
Gerade als Aydin zum Hörer greifen wollte, klingelte sein Festnetzapparat.
»Hallo, Fischer, dich wollte ich eben anrufen«, sagte Aydin, der das Gespräch auf laut gestellt hatte.
»Dann war ich wohl schneller. Ich glaube, ich habe was für euch.«
»Dann schieß los!« Brandt war gespannt.
»Es gibt doch eine Verbindung zwischen Schiffer und Holm.«
»Und welche?«, fragte Brandt. Im selben Moment beschlich ihn der Gedanke, dass es sich bei den beiden Anschlägen doch um Auftragsmorde handeln könnte.