20
E s hatte Zoe wenig Mühe gekostet, herauszufinden, wer Ali Arinc war. Ihr Vater hatte seine Telefonnummer in seinem schwarzen Notizbuch vermerkt und Zoe hatte nicht gezögert, ihn anzurufen, und Arinc zu einem Treffen überreden können.
Sie parkte vor dem Treffpunkt, einem türkischen Restaurant auf der Keupstraße, einer Geschäftsstraße in Kölns rechtsrheinischem Stadtteil Mülheim. Die Keupstraße wurde auch gerne »Kleinistanbul« genannt, weil sie über die Region hinaus als Zentrum des türkischen und kurdischen Geschäftslebens bekannt war. Ein Restaurant reihte sich an das nächste.
Zoe betrat dasjenige, in dem sie sich mit Ali Arinc verabredet hatte, und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie überhaupt nicht wusste, wie dieser Ali aussah. Das Restaurant war zwar nicht gut besucht, aber jeder männliche Gast hätte Ali sein können.
Du wirst wohl jeden ansprechen müssen , dachte sie und ließ ihre Blicke durch den Raum wandern.
Rechts, etwas weiter weg von ihr, sah sie einen Mann um die fünfzig, der immer wieder zu ihr herüberschaute. Konnte das Ali sein? Auf jeden Fall wirkte er so nervös, als wartete er auf jemanden. Zoe wollte gerade auf ihn zugehen, als eine Frau an ihr vorbeilief, woraufhin der Mann aufstand und die Frau umarmte.
Das ist bestimmt nicht Ali , dachte Zoe enttäuscht. Wieder ließ sie den Blick durch den Raum wandern, aber es war hoffnungslos. Wenn sich Ali nicht bemerkbar machen würde, würde sie ihn niemals finden. Doch dann blieben ihre Augen an einem Mann hängen. Er war groß, bestimmt knapp einen Meter neunzig, hatte breite Schultern und seine Oberarme waren dicker als Zoes Oberschenkel zusammen.
Konnte das Ali sein?
Sie schaute immer wieder zu diesem Hünen hinüber in der Hoffnung, dass er sich zu erkennen gäbe, aber das tat er nicht. Ali wusste doch, dass sie hier war, schließlich hatten sie sich verabredet und in dem ganzen Restaurant gab es keine einzige andere junge Frau mit blonden Haaren. Außerdem wusste Ali, dass sie die Tochter von Klaus Lau war. Somit hatte er ihr gegenüber einen großen Vorteil. Warum nutzte er ihn nicht?
Eine Ahnung beschlich sie, die sie lieber schnell wegwischen wollte, die sich aber nicht abschütteln ließ: Was, wenn Ali nie vorgehabt hatte, hier zu erscheinen?
Dann nahm ein anderer Gedanke Besitz von ihr, der ihr Angst machte: Was, wenn Ali tatsächlich in den Mord an ihrem Vater verwickelt war? Damit würde sich Zoe in diesem Moment selbst in Gefahr bringen, oder?
Sie zuckte zusammen und plötzlich wurde ihr kalt, aber sie weigerte sich, ihren Ängsten nachzugeben und aus dem Restaurant zu rennen. Stattdessen ging sie auf den Hünen zu.
»Hallo«, sprach sie ihn an.
»Hallo, wer bist du denn Süßes?«, lachte der Mann. Seine Blicke wanderten an Zoes Körper entlang, was ihr furchtbar unangenehm war. Sie fühlte sich wie bei einer Fleischbeschau.
»Sind Sie Ali?«
»Hasan, ist gut. Sie ist mein Gast«, hörte Zoe da jemanden hinter sich sagen. Hasans Blick ging zu Boden. Dann stand er auf und entfernte sich.
»Junge Frau, ich glaube, Sie suchen mich.« Nun stand der Mann rechts neben ihr.
»Sind Sie Ali Arinc?«
»Nehmen Sie Platz, lassen Sie uns einen Tee trinken und Baklava essen.«
»Danke«, antwortete Zoe. Sie wollte nicht unhöflich sein, dabei wollte sie am liebsten nur schnell ihre Fragen loswerden und dann schleunigst weiterziehen. Aber ihr war nicht entgangen, wie dieser riesenhafte Hasan vor Ali gekuscht hatte. Der Mann schien Einfluss zu haben. Aber was hatte er mit dem Mord an ihrem Vater zu tun? Oder stand Ali in einer ganz anderen Beziehung zu ihrem Vater?
Zoe hoffte auf Antworten. Vorher würde sie das Restaurant jedenfalls nicht verlassen. Hasan mochte sich vor Ali ducken, aber Zoe glaubte, dass sie aus einem anderen Holz geschnitzt war.
»Sind Sie Ali Arinc?«, wiederholte Zoe ihre Frage, der Mann hatte sie zwar gebeten, Platz zu nehmen, und ihr Gefühl sagte ihr, dass er der Mann war, aber bestätigt hatte er es noch nicht.
»Sie sind sehr ungeduldig«, lächelte der Mann. Er wirkte gelassen, als könnte ihn so schnell nichts aus der Ruhe bringen. Wie alt mochte er sein? Zoe schätzte ihn auf Ende vierzig, aber sie war noch nie gut im Schätzen gewesen. Ali war ungefähr einen Meter fünfundsiebzig groß, also etwa so groß wie sie, und hatte einen deutlichen Bauchansatz. Er trug einen Vollbart und hatte volles Haar ohne eine einzige graue Strähne. Und er hatte Charisma, das bemerkte Zoe sofort.
»Bringst du uns zwei Tee und Baklava?«, bat der Mann den Kellner, der gerade an ihren Tisch getreten war. »Aber die kleinen Teegläser.«
»Ja, Ali abi «, nickte der Kellner und nun hatte Zoe die Gewissheit, dass es sich bei dem Mann um die Person handelte, deren Namen und Telefonnummer ihr Vater in seinem Filofax notiert hatte. »Abi« war das türkische Wort für »Bruder«, das hatte sie vor längerer Zeit einmal aufgeschnappt.
»Was haben Sie mit meinem Vater zu tun gehabt?«
»Sie sind sehr direkt«, kommentierte Ali und zog eine Zigarre aus der Innentasche seines Sakkos. »Ich hoffe, es stört Sie nicht.«
»Doch, tut es. Ist es nicht verboten, hier zu rauchen?«
Ali zündete die Zigarre an und paffte. »Nein, ist es nicht. Sie sind hier in der Zigarrenlounge. Der Nichtraucherbereich ist auf der anderen Seite.«
Zoe zog die Augen schmal, sie war mehr als skeptisch.
»Warum sollte ich Sie anlügen? Das ist mein Laden.«
»Mir egal. Was haben Sie mit meinem Vater zu tun gehabt?«, fragte Zoe. Sie konnte diesen Mann nicht einschätzen, einerseits wirkte er wie ein Gangster, andererseits kam er eloquent und charismatisch rüber. In Gedanken ohrfeigte sie sich, dass sie eine der Grundregeln des Journalismus ignoriert hatte: Sie hatte vor ihrem Treffen nichts über ihn recherchiert.
»Mein Beileid zum Tod Ihres Vaters. Das wird für eine junge Frau wie Sie nicht leicht sein. Aber ich habe Ihren Vater gewarnt.«
»Gewarnt?«
Ali zog wieder an der Zigarre, behielt den Qualm eine Weile in der Lunge, um ihn dann nach rechts auszuatmen. »Dass Sie das sagen, beruhigt mich ungemein. Wir leben in stürmischen Zeiten, Frau Lau. Sie werden das in Ihrem jungen Alter noch nicht bemerkt haben, weil Ihr Vater sie beschützt hat. Er hat oft über Sie gesprochen. Ich behaupte, dass er Sie sehr geliebt hat. Aber welcher Vater liebt seine Tochter nicht?«
Die Worte trafen Zoe mit einer Härte, die sie nicht für möglich gehalten hätte. Sie wusste natürlich, dass ihr Vater sie geliebt hatte, daran hatte sie nie gezweifelt und seit jeher hatte sie zu ihm einen besseren Draht gehabt als zu ihrer recht kühlen Mutter. Aber das aus dem Mund eines fremden Mannes zu hören, so kurz nach dem brutalen Mord an ihrem Vater, war mehr, als sie gerade ertragen konnte.
Dennoch weigerte sie sich, ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Sie wollte Ali gegenüber nicht schwach erscheinen, er sollte sie ernst nehmen, was vermutlich schwer genug sein würde.
Der Kellner kam mit der Bestellung und stellte alles auf den Tisch.
»Möchten Sie noch etwas anderes, Ali abi
»Haben Sie Hunger?«, fragte der an Zoe gerichtet.
»Nein, danke.« Zoe wollte nicht einmal den Tee oder dieses süße Zeug, sie wollte nur ihre Fragen loswerden.
Ali nickte und der Kellner verschwand.
»Echten türkischen Tee darf man nur in diesen kleinen Tassen trinken, alles andere ist wie das Leben der meisten: falsch.«
»Hören Sie, vielen Dank für den Tee, aber ich bin hier wegen meines Vaters. Ich muss wissen, in welcher Beziehung Sie zu ihm standen.«
Ali lachte und zog wieder an seiner Zigarre. »Für ein junges Mädchen sind Sie sehr taff.«
»Ich bin kein junges Mädchen, ich bin zwanzig und volljährig«, sagte Zoe bestimmt. So langsam wurde sie ungehalten. Vielleicht mochte Ali mit seiner Machoart bei seinesgleichen Eindruck schinden, aber sie nervte er damit auf die Dauer.
Statt zu antworten, amüsierte sich Ali noch mehr. »Sie sind tatsächlich genau so, wie es Ihr Vater immer erzählt hat, sehr temperamentvoll. Mein Rat an Sie, überlassen Sie die Suche nach dem Mörder der Polizei. Es wäre doch schade, wenn Sie so jung sterben müssten.«
»Das lassen Sie meine Sorge sein. Die Polizei hat bisher keine Hinweise. Ich kann nicht dasitzen und Däumchen drehen.«
»Es wird nicht lange dauern und Sie werden sich wünschen, dass Sie auf meine Worte gehört hätten«, blieb Ali vage und nahm sich ein Stück Baklava, danach nahm er einen Schluck aus dem kleinen Teeglas.
»Warum halten Sie mich hin? Was wollte mein Vater von Ihnen?«
Alis Blick wanderte zu ihrem Tee und dem Baklava. »Essen Sie ein Stück.«
Zoe atmete zornig aus, tat ihm aber den Gefallen. Das süße Gebäck war lecker, das konnte sie nicht leugnen, anschließend gönnte sie sich einen Schluck aus dem kleinen Teeglas.
»Zufrieden?«, fragte sie schnippisch.
»War es ein Fehler?«
»Nein, aber ich bin nicht hier, um mir den Bauch mit Tee und Baklava vollzuschlagen.«
»Ihr Vater wollte, dass wir ihn beschützen.«
»Beschützen? Sind Sie Bodyguard?«
»So etwas in der Art. Zu mir kommt man, wenn man Probleme hat, die andere nicht lösen können.«
»Wusste mein Vater, dass er in Gefahr war?«
»Ja, sonst hätte er mich nicht kontaktiert.«
»Und warum musste er sterben?«
»Weil er am Ende kalte Füße bekommen und sich gegen unseren Schutz entschieden hat.«
Zoe schluckte. Hatte Ali ihr gerade durch die Blume gesagt, dass ihr Vater noch am Leben sein könnte, wenn er Alis Schutz nicht abgelehnt hätte? Aber warum hatte ihr Vater Ali dann überhaupt kontaktiert, wenn er dessen Dienste nicht in Anspruch nehmen wollte? Das konnte doch nur bedeuten, dass ihr Vater Angst vor den Konsequenzen gehabt hatte, weil er in der Öffentlichkeit stand. Und das wiederum konnte nur bedeuten, dass Ali entweder einem Rockerclub oder einem berüchtigten Clan angehörte oder gar deren Anführer war.
Plötzlich hatte Zoe eine Idee.
»Wissen Sie, wer meinen Vater ermordet hat?«
»Nein, aber es gibt Wege, das herauszufinden.«
»Dann habe ich einen Deal für Sie und ich werde keine kalten Füße bekommen«, antwortete Zoe. Sie war fest entschlossen, selbst einen Pakt mit dem Teufel einzugehen, wenn dieser den Mörder ihres Vaters tötete.