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Köln
Z oe wusste nicht, ob sie Ali Arinc vertrauen konnte, trotzdem hatte sie ihn angeheuert. Was riskierte sie am Ende?
Die fünfzigtausend Euro, die sie ihm für den Mörder versprochen hatte, waren gut investiert, wenn es ihm tatsächlich gelänge, ihn zu schnappen. Dass sie gerade nicht flüssig war, war unerheblich. Woher hätte sie auch so viel Geld in bar nehmen sollen? Ihr Vater war zwar vermögend gewesen, aber er hatte darauf geachtet, dass seine Tochter nicht zu sehr verwöhnt wurde, dass sie den Wert des Geldes schätzen lernte. Wenn es nötig wäre, würde sie schon an das Geld herankommen, daran zweifelte sie keine Sekunde. Ihre Mutter würde es ihr geben, sie hatte einen Anspruch darauf, es war schließlich ihr Erbe.
Sie war sehr stolz auf sich, dass sie Ali hatte überzeugen können, keinen Vorschuss zu verlangen. Natürlich hatte er zunächst darauf beharrt, 25.000 Euro vorab zu kassieren, aber da war sie einfach aufgestanden und Ali hatte eingelenkt. »Gut. Ihr Mut und Ihre Entschlossenheit gefallen mir. Deal«, hatte er gesagt und sie hatten die Vereinbarung mit Handschlag besiegelt.
Zoe hatte darauf bestanden, dass Ali den Mörder lebend stellte. Sie wollte ihm in die Augen schauen, bevor sie Ali den Befehl geben würde, das miese Schwein zu erschießen.
Dass sie den Mörder tot sehen wollte, stand außer Frage, die Wut und der Hass auf ihn waren noch zu groß, als dass sie ihm die Gnade einer lebenslangen Haft gegönnt hätte.
Jetzt saß sie wieder in ihrem Zimmer und blätterte erneut in dem Filofax ihres Vaters in der Hoffnung, dass sie etwas übersehen hatte. Irgendetwas, das ihr einen Hinweis auf den Mörder geben könnte.
Ali hatte ihr erzählt, dass ihr Vater sich bedroht gefühlt, am Ende aber aus Sorge vor schlechter PR von seinem Auftrag zum Personenschutz Abstand genommen habe. Blieb die Frage, warum er nicht einen seriösen Wachschutz oder Bodyguard angeheuert hatte.
Mit Peter Walsh an seiner Seite wäre Papa bestimmt noch am Leben, dachte sie und spürte einen Kloß im Hals. Doch sie ermahnte sich, nicht wieder in dieses Muster zurückzufallen. Solche theoretischen Annahmen brachten sie nicht weiter. Sie halfen weder, dem Täter auf die Spur zu kommen, noch, ihren Vater zurückzubringen. Er war tot. Unwiderruflich. Und nichts auf der Welt würde das je ändern.
Vielleicht hat Papa geglaubt, dass die Gefahr nicht mehr bestand. Was, wenn er sich mit dem Mörder geeinigt hat? Ihm eine große Geldsumme überwiesen hat, der Täter aber noch gieriger wurde?
Plötzlich kam ihr eine Idee. Wenn ihr Vater tatsächlich Erpressungsgeld überwiesen hatte, müsste man das anhand der Kontoauszüge sehen, oder nicht? Und sie wusste, wo ihr Vater die Kontoauszüge aufbewahrte. Er war da sehr altmodisch und hatte kein Online-Banking genutzt. Die Auszüge hatte er akribisch in einem Ordner abgeheftet, der in seinem Bürozimmer in der Villa lag. Früher hatte sie sich nie dafür interessiert, aber ihr Vater hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, wo er welche Unterlagen aufbewahrte, weil er ihr vertraut und auf diese Weise versucht hatte, ihr Gespür für den Wert des Geldes und anderer Güter zu schärfen.
Kurze Zeit später saß sie mit dem Ordner in der Hand auf dem Bürostuhl und blätterte die Kontoauszüge durch. Leider gab es keine außergewöhnliche Überweisung oder Barabhebung.
In diesem Moment verstand sie jedoch, warum ihr Vater sich immer wieder über den Konsumrausch ihrer Mutter aufgeregt hatte, sah sie doch, wie viel Geld ihre Mutter jeden Monat für Shopping, Kosmetik und Reisen ausgab.
Wie automatisch meldete sich jetzt ein erschütternder Gedanke: Hatte er vielleicht noch andere Konten gehabt? Schwarze Konten? Noch während sie darüber nachdachte, betrat ihre Mutter das Zimmer, Zoe bemerkte ihr Eintreten zunächst nicht.
»Was machst du hier?«
Zoe zuckte zusammen.
»Erschreck mich doch nicht so.«
»Was machst du hier?«, fragte ihre Mutter erneut.
»Weißt du, ob Papa in letzter Zeit eine größere Geldsumme abgehoben hat?«
»Nein, warum sollte er?«
»Vielleicht wurde er erpresst.«
»Zoe, warum tust du das? Das ist die Arbeit der Polizei.«
»Dass ich nicht lache, was haben die denn bisher erreicht? Du hast selbst gesagt, wenn wir nicht aufpassen, werden wir noch verdächtigt. Und ich werde bestimmt nicht hier sitzen und Däumchen drehen.«
»Papa hätte nicht gewollt, dass du in seinen Angelegenheiten herumschnüffelst.« Monika Lau schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht begreifen, warum ihre Tochter sich diese Mühe machte.
»Ich schnüffle nicht«, reagierte Zoe scharf. »Wenigstens versuche ich herauszufinden, warum Papa ermordet wurde. Du bist in dieser Hinsicht sehr gleichgültig, fast könnte man meinen, dir wäre es egal, dass Papa tot ist.«
»Zoe!« Die Stimme ihrer Mutter wurde schrill.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich sofort, sie hatte es nicht so gemeint und garantiert suchte sie keinen Streit mit ihrer Mutter. Trotzdem wollte sie sich nicht von ihren Plänen abbringen lassen. »Es muss doch eine Verbindung zwischen dem Täter und Papa geben. Wusstest du, dass Papa Leute anstellen wollte, die ihn beschützen sollten?«
»Ich möchte, dass du diese eigenständige Suche einstellst, hörst du? Du bringst dich nur in Gefahr. Papa war ein einflussreicher Politiker und ein erfolgreicher Unternehmer, da hat man Feinde und gibt sich mit Menschen ab, die gefährlich sind. Ich möchte mir keine Sorgen um dich machen müssen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
Bevor Zoe etwas erwidern konnte, verließ ihre Mutter das Büro, vermutlich, um jede weitere Diskussion zu unterbinden. Ihre Mutter wusste, wie dickköpfig ihre Tochter sein konnte.
Zoe indes war klar, dass ihre Recherchen gefährlich sein könnten, aber das war für sie kein Grund, sie einzustellen. Nicht umsonst hatte sie ein Volontariat bei einer Zeitung begonnen. Ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn war schon immer ein Teil von ihr gewesen und sicherlich würde sie diesen Teil ihrer Persönlichkeit nicht für die Aufklärung des Mordes an ihrem Vater unterdrücken.
»Es muss ein schwarzes Konto geben«, murmelte Zoe, nachdem sie den kompletten Ordner mit Kontoauszügen durchgesehen hatte. Eine andere Option als Erpressung kam ihrer Einschätzung nach derzeit nicht infrage. Wäre es ein politischer Mord gewesen, wie es in den Medien derzeit behandelt wurde, hätte ihr Vater keine Gangster engagieren müssen, um sich zu schützen. Da hätte eine normale Security ausgereicht. Zwielichtige Gestalten wie Ali heuerte man doch nur an, wenn man es selbst mit zwielichtigen Gestalten zu tun hatte.
Zoe durchsuchte nun das gesamte Büro, ließ keinen Ordner und kein Fach aus. Eine Stunde später musste sie sich eingestehen, dass sie keinen Schritt weitergekommen war. Wenn es dieses ominöse schwarze Konto gab, hatte sie es nicht gefunden.
Entnervt ging sie zurück in ihr Zimmer und setzte sich an ihren Computer, um im Internet nach Informationen über ihren Vater zu suchen. Sie hatte das zwar schon getan, aber vielleicht war ihr etwas entgangen.
Sie stieß auf einen Artikel, in dem es um eine mögliche Übernahme des Familienunternehmens durch ein anderes Unternehmen ging, die ihr Vater aber erfolgreich abgewehrt hatte. Dass die Übernahme etwas mit dem Mord an ihm zu tun haben könnte, glaubte sie nicht.
Zoe suchte weiter, stieß aber auf keine neuen Hinweise, die ihr etwas nützen konnten. Danach schaute sie sich zum wiederholten Male die sozialen Profile ihres Vaters an, einschließlich des Profils der CDU. Gerade auf Facebook gab es jede Menge Trolle, die schreckliche Dinge posteten, aber keiner der Posts gab ihr das Gefühl, dass sie es bei dem Verfasser mit einem Mörder zu tun haben könnte.
Es war schon ein komisches Gefühl, da war ihr Vater tot, aber noch immer suggerierten seine sozialen Profile, dass er am aktiven Leben teilnähme, weil niemand diese Profile deaktiviert hatte. Zoe wollte sich darum kümmern, aber sie wusste, wie kompliziert das war. Nur, wenn sie es nicht tat, würde es niemand anderer tun. Das war die Kehrseite der digitalen Welt.
»Es war ein Profi«, dachte sie laut und fühlte sich erneut darin bestärkt, dass es sich nur um eine Erpressung handeln konnte.
Dann hatte sie eine Idee. »Papas privater Laptop!«
Schnell verließ sie das Zimmer und betrat das Schlafzimmer ihrer Eltern, wo der Laptop liegen musste.
Sie behielt recht. Der Laptop lag auf der Nachtkommode und war ans Stromnetz angeschlossen. Ihre Mutter hatte ihn offensichtlich nicht angerührt.
Sie nahm den Laptop mit in ihr Zimmer und setzte sich damit auf ihr Bett, dann startete sie ihn.
»Mist! Passwort!« Sie presste die Lippen zusammen, das Passwort kannte sie nicht. Aber sie kannte ihren Vater nur zu gut. Er war kein Mensch, der sich ein kompliziertes Passwort ausdenken würde.
Der erste Versuch schlug fehl. Sie hatte ihren Namen und den ihres Vaters zusammengeschrieben versucht.
»Wie ist dein Passwort?«, überlegte Zoe und versuchte es mit dem Namen ihrer Mutter inklusive ihres Geburtstages, aber auch diese Kombination schlug fehl.
»Klar«, rief sie dann und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. Nun tippte sie:
Quatschmatsch.
Das System nahm das Passwort an und der Desktopbildschirm erschien. Ihre Augen wurden feucht. Dieses Wort war etwas Besonderes gewesen. Als sie noch klein war, hatte sie es immer zu ihrem Papa gesagt und für lange Zeit war es ihr gemeinsames Wort gewesen. Irgendwann, als sie die Pubertät erreicht hatte, war es in Vergessenheit geraten, für sie jedenfalls. Aber wie es schien, hatte es für ihren Vater nie an Bedeutung verloren.
Als Erstes öffnete sie Outlook, da nicht auszuschließen war, dass der Mörder sich via E-Mail bei ihm gemeldet hatte. Doch statt der E-Mails erschien eine Fehlermeldung, die Nachrichten konnten nicht geladen werden, der Benutzer solle sich an den Admin wenden.
»Deaktiviert«, vermutete Zoe enttäuscht.
Sie öffnete den Finder, um sich den Inhalt der Festplatte anzuschauen, immerhin war es möglich, dass ihr Vater irgendwelche Notizen gemacht hatte.
Eine Stunde später kam auch hier die Ernüchterung. Nichts.
Dann öffnete sie ein Browserfenster und schaute sich den Verlauf an.
»Noch ein E-Mail-Account?« Sie öffnete GMX und hatte Glück, die E-Mail-Adresse und das Passwort waren abgespeichert. Sie loggte sich ein.
»Eine ungelesene Nachricht.« Sie klickte auf die Nachricht und las sie, aber es war nur ein alter Freund, der ein erneutes Treffen anregte.
Die Nachricht war abgeschickt worden, bevor ihr Vater ermordet worden war.
Auffällig war, dass sich nur ganz wenige Nachrichten im Posteingang befanden. Archiviert waren auch keine. Vermutlich lag es daran, dass ihr Vater diesen E-Mail-Account selten genutzt hatte. Sie öffnete auch die anderen E-Mails, aber wieder kein Hinweis auf den Mörder.
So langsam bezweifelte Zoe, dass sie auf dem Laptop überhaupt etwas finden würde. Vielleicht hatte ihre Mutter doch recht damit, dass sie die Nachforschungen besser einstellen sollte.
»Nein, du lässt dich jetzt nicht entmutigen.« Sie biss die Zähne zusammen und öffnete eine Notiz, die ihr Vater auf dem Desktop abgespeichert hatte. Sie las:
Manchmal frage ich mich, warum ich das alles mache. Ich habe doch ein erfülltes Leben. Gott hat mir das größte Geschenk gemacht, das er mir machen konnte, Zoe. Ich möchte dieser Angst aber nicht nachgeben. Vielleicht löst sich alles auf, wenn ich nichts unternehme. Manchmal ist die offensichtlichste Lösung die beste. Aber ich lasse mich nicht erpressen.
Zoe scrollte herunter, aber da war kein weiterer Text.
»Verdammt. Wer hat dich erpresst?«, rief sie. Immerhin hatte sie jetzt die Bestätigung, dass ihr Vater erpresst worden war, aber von wem?
Zoe schaute, ob es noch mehr Notizen gab, aber da war nichts. Ihr Vater schien den Laptop wenig genutzt zu haben oder er hatte vieles gelöscht, um Spuren zu verwischen. Möglicherweise hatte er wichtige und sensible Inhalte im Kopf behalten.
Hatte ihr Vater unter Umständen also doch keine so reine Weste gehabt, wie er vorgab? Ein solch vorsichtiges Verhalten traf doch eher auf Menschen zu, die etwas zu verbergen hatten, oder war ihr Vater einfach nur wachsam gewesen, weil er in der Öffentlichkeit stand? Zoe wollte das Zweite glauben.
Gedankenverloren gab sie die URL des Kölner Stadtanzeigers in die Adresszeile des Browsers ein, vielleicht hatte die Presse neue Nachrichten zum Mord an ihrem Vater. Die Seite baute sich auf und sie las die Überschrift der Titelstory:
Weiterer Mord an Politiker in Mannheim!
Zoe schluckte und las den Artikel. Als sie den Namen des Toten las, verschlug es ihr den Atem.
»Alwin Vogel?« Sofort griff Zoe nach ihrem Handy. Sie kannte Alwins Tochter: Natalie!
Und genau die rief sie jetzt an.