31
14. September, Mannheim
»M aus, das tut mir so leid«, sagte Zoe, sie nahm Natalie in die Arme und drückte sie an sich. Natalie weinte hemmungslos.
»Warum Papa?«, schluchzte sie. »Warum?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich finde das heraus, versprochen. Der Mörder kommt nicht ungeschoren davon.«
»Was willst du denn unternehmen? Wie sollen wir es mit so einem brutalen Mörder aufnehmen?«
»Ich habe da so meine Kontakte.«
Natalie löste die Umarmung und schaute Zoe entgeistert an. »Was meinst du?«
»Ich habe jemanden engagiert, um den Mörder zu finden. Ich werde mich bestimmt nicht auf die Polizei verlassen.«
»Spinnst du?«, wurde Natalie laut.
»Warum?«
»Weil das gefährlich ist. Willst du, dass der Mörder dich tötet? Du wurdest von ihm entführt, er weiß, wo du wohnst. Wie kannst du so ein Risiko eingehen?«
Zoe war seit einer guten Stunde in Natalies Zimmer und hatte ihr bereits einiges erzählt.
»Entspann dich, ich weiß, was ich tue. Der Detektiv soll ihn suchen, ich gehe kein Risiko ein.« Dass sie Ali Arinc und seinen Clan beauftragt hatte, konnte sie Natalie unmöglich anvertrauen, erst recht nicht nach ihrer Reaktion von eben.
Natalie und sie hätten in vielen Dingen nicht unterschiedlicher sein können. Schon zu Schulzeiten war Natalie die hübsche Prinzessin gewesen, die mehr Zeit auf ihre Körperpflege verwendet hatte als auf das Lernen, und sie hatte es immer sehr gut verstanden, ihren Vater um den Finger zu wickeln. Auch die Jungs in ihrer Klasse waren Natalie wie ein Dackel gefolgt. Sie wusste eben, wie man andere für sich einnahm. Zoe war seit jeher eher der Kumpeltyp, dieses Tussihafte war noch nie ihr Ding.
»Ich halte das für keine gute Idee. Was, wenn der Mörder den Detektiv tötet und sich dann an dir rächt?« Natalie schüttelte den Kopf. Sie hielt ihr Handy in der Hand und immer wieder wanderte ihr Blick zum Display. Die beiden saßen nebeneinander auf ihrem Bett.
»Erwartest du einen wichtigen Anruf?«, fragte Zoe, weil dieses ständige Aufs-Handy-Schauen sie langsam nervte.
»Nein, nein«, murmelte Natalie. »Ich glaube, das wars dann.«
»Was?«
»Ich hab vor ein paar Tagen jemanden kennengelernt und irgendwie hat alles so gut gepasst. Ich habe so etwas vorher noch nie gefühlt.« Natalies Augen wurden groß, Zoe sah ihr die Schwärmerei direkt an.
»Dann klär mich doch auf. Wieso wars das?« Zoe verstand nicht ganz, hatte aber so eine Vermutung. Wahrscheinlich hatte sich Natalie in einen One-Night-Stand hineingesteigert. Dass Natalie trotz des Mordes an ihrem Vater jetzt an ihre Affäre dachte, passte irgendwie zu ihr. Sie liebte es, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen.
Die Freundin fing nun an zu erzählen, Zoe ließ ihr die Zeit und stellte immer mal wieder eine Frage.
»Warum kriege ich keine Antwort?«, weinte Natalie am Ende und zeigte ihr die WhatsApp-Nachrichten, die sie verschickt hatte.
»Sei mir nicht böse, aber der Altersunterschied sagt mir, dass es nur um Sex mit einer Jüngeren ging«, versuchte Zoe ihr ihre ehrliche Einschätzung freundlich klarzumachen. Unter anderen Umständen hätte sie ihr gehörig die Meinung gegeigt, aber Natalie war schon am Boden, warum hätte sie da noch auf ihr herumhacken sollen?
»Ich kann das einfach nicht glauben, da war mehr. Ich habe das gespürt, so was kann man nicht spielen.«
»Und warum gibt es dann keine Antwort auf deine Nachrichten?«
»Vielleicht, weil es dringende geschäftliche Termine gibt, vielleicht kommt mein Schatz auch mit dem Tod von Papa nicht klar.«
Schatz?, dachte Zoe. Natalie in diesem Zustand mit Fakten zu kommen, war sinnlos. Sie versuchte ihre Gefühle und ihre Hoffnung durch fadenscheinige Lügen am Leben zu erhalten.
»Deine Entscheidung, Maus. Warte einfach ein bisschen ab«, antwortete Zoe dann, obwohl sie ihr am liebsten etwas ganz anderes geraten hätte, aber sie wollte das Gespräch beenden, es ging jetzt um ganz andere Themen.
»Ja, du hast recht. Ich muss geduldiger sein. Das war schon immer meine Schwäche. Im Moment weiß ich gar nicht, wo mir der Kopf steht. Das mit Papa fühlt sich immer noch so unwirklich an. Manchmal starre ich die Tür an, weil ich hoffe, dass Papa anklopft und das Zimmer betritt.«
»Darf ich dich was fragen?«
Natalie nickte. Ihre Augen waren feucht, auf ihren Wangen zeichneten sich deutliche Spuren ihrer Tränen ab. Es war schon seltsam. Da hatte Zoe ihren Vater ebenfalls auf brutale Weise verloren, aber in diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, dass sie Natalie trösten musste, ohne selbst den Wunsch äußern zu dürfen, dass sich jemand um ihr Seelenleben kümmerte.
»War dein Papa in letzter Zeit komisch, gestresst oder so?«
»Nein, warum?«
»Sicher? Versuch dich zu erinnern. Ich habe bei Papa auch gedacht, alles wäre okay, aber ich hatte ihn in letzter Zeit leider nicht häufig gesehen und erst nach seinem Tod habe ich erfahren, dass er in Sorge war und nach einem Personenschutz gesucht hat.«
»Echt?«
»Ja. War da vielleicht was, was deinen Vater belastete? Hat er irgendetwas erwähnt?«
Zoe schien zu überlegen, sie verengte ihre Augen zu Schlitzen und ihr Blick wanderte zum Fenster, als suchte sie in der Ferne nach Antworten.
»Papa hatte eine Affäre. Aber dass diese Frau etwas mit Papas Tod zu tun hat, kann ich mir nicht vorstellen.«
»Eine Affäre?« Das überraschte Zoe, damit hatte sie nicht gerechnet. Die wenigen Male, die sie Natalies Vater getroffen hatte, hatte der immer von seiner Ehefrau geschwärmt. Und auch ihr Vater hatte immer erzählt, was für eine tolle Ehe die Vogels führten.
Da sah man mal wieder, die meisten Menschen kochten auch nur mit Wasser. Hauptsache, der äußere Schein wurde gewahrt. Inwiefern diese Information helfen konnte, dem Mörder näher zu kommen, konnte Zoe gerade nicht einschätzen.
»Du darfst das aber weder deiner Mama noch Adrian erzählen. Du darfst es niemandem erzählen, hörst du? Ich will nicht, dass Papas Ruf geschädigt wird. Glaubst du, die Schlampe hat einen Mörder auf Papa gehetzt, weil er sich von ihr trennen wollte?«
»Nein, das ergibt keinen Sinn. Das passt nicht zu dem Lübecker Anschlag und mein Papa hatte mit Sicherheit keine Affäre mit der Geliebten deines Papas.«
»Woher willst du das wissen?« Natalies Stimme gewann an Schärfe.
»Weil das Quatsch ist. Die Entfernungen sind zu groß. Lübeck – Mannheim, das sind doch schon fast 650 Kilometer. Nein, es muss etwas anderes sein. Findest du es nicht komisch, dass ausgerechnet unsere Väter ermordet wurden?«
Natalie konnte ihr nicht folgen, das konnte Zoe ihr ansehen. Es war ihr schon immer leichtgefallen, Natalies Gedanken zu lesen.
»Ich glaube, dass der Mörder unsere Väter kannte. Die beiden Tatorte sprechen dafür, dass sie extra dorthin gelockt wurden.«
»Das muss aber nicht bedeuten, dass der Mörder unsere Väter kannte. Bei deinem Vater wurdest du als Lockmittel benutzt, das hast du mir selbst erzählt.«
»Ja, das stimmt«, nickte Zoe. Sie hatte das ganz zu Beginn ihres Gespräches erwähnt. »Aber womit wurde dein Vater an den Tatort gelockt?«
»Bestimmt mit Fotos.«
»Was für Fotos?« Jetzt war es Zoe, die Natalie nicht folgen konnte.
»Na, was wäre, wenn der Mörder kompromittierende Fotos von Papa mit dieser Schlampe hatte?«
»Woher soll er die bekommen haben?«
»Von seinem Handy. Gehackt.«
Zoe überlegte, so dumm war der Gedanke nicht. Sie tippte mit dem rechten Zeigefinger gegen ihre Lippen und versuchte ein paar Gedanken im Kopf zusammenzufügen.
»Das wäre möglich. In der Presse steht, dass es ein Profi sein muss, weil er keine Spuren hinterlässt. Und genau deswegen halte ich es für mehr als wahrscheinlich, dass der Täter unsere Väter kannte.«
»Warum? Er könnte doch auch einfach nur Politiker hassen. Vielleicht ist es ein Rassist oder Terrorist? Die Welt ist doch voll von Spinnern.«
»Möglich, aber dass unsere beiden Väter die Opfer waren, spricht irgendwie dagegen. Der Täter muss einen Grund haben, dass er gerade unsere Väter ausgesucht hat. Er wird gründlich recherchiert haben. Vermutlich hat er meinen Vater zunächst durch Erpressung an den Tatort zu locken versucht, als er da nicht mitgemacht hat, hat der Täter mich entführt. Bei deinem Vater hat es mit den Fotos leichter geklappt. Und noch etwas spricht dafür, dass der Täter ein persönliches Motiv hat.«
»Welches?«
»Terroristen oder Rassisten hätten keine Zeugen am Leben gelassen. Sie hätten mich getötet. Die Polizei war doch sicherlich schon bei dir, oder?«
»Ja.«
»Was haben sie gefragt?«
Natalie erzählte, was die Polizei von ihr hatte wissen wollen.
»Findest du es nicht komisch, dass die Beamten sehr viel über die Freundschaft unserer Väter wissen wollten?« Zoe fühlte sich jetzt nicht mehr wie die Tochter, die erst vor Kurzem ihren geliebten Vater verloren hatte, sondern wie eine Journalistin, die einem großen Geheimnis auf der Spur war.
»Das ist doch ihre Aufgabe.«
»Mag sein, aber dass sie sich so sehr darauf versteifen, sagt mir, dass die mehr wissen als die Medien.« Zu gern hätte sie Mäuschen bei der Polizei gespielt, deren Informationen würden ihr sicher weiterhelfen.
»Jetzt, wo du es sagst. Mama hat den Polizisten einen Karton aus der Studienzeit von Papa mitgegeben.«
Intuitiv ballte Zoe die rechte Hand zur Faust. »Das ist kein Zufall. Die Antwort liegt in der Studienzeit unserer Väter. An was erinnerst du dich, was dir dein Vater über seine Studienzeit erzählt hat? Wir müssen alles festhalten. Erst du, dann erzähle ich alles. Vielleicht sind wir der Antwort näher als wir ahnen.«
»Willst du das wirklich? Wie es scheint, ist die Polizei dem Täter auch schon auf der Spur. Wir sollten kein Risiko eingehen.«
»Quatsch. Wenn wir eine heiße Spur haben, können wir das der Polizei erzählen, oder möchtest du, dass der Mörder deines Vaters frei herumläuft?«
»Nein!«, schoss es aus Natalie heraus.
»Dann sollten wir überlegen, wer Interesse daran haben könnte, unsere Väter tot zu sehen.«
»Wirklich viel hat Papa aber nicht aus seiner Studienzeit erzählt, jedenfalls nichts, was uns helfen könnte. Er war gerne Student. Von durchgeknallten, psychopathischen Kommilitonen hat er nie etwas gesagt.«
Zoe nickte kaum merklich mit dem Kopf, weil sich das mit ihren Erinnerungen deckte. Ihr Vater hatte auch nichts Schlechtes über seine Studentenzeit erzählt.
»Vielleicht finden wir trotzdem etwas«, sagte Natalie. Ihr Blick wanderte wieder einmal zum Display ihres Handys. Zoe ließ es unkommentiert.
»Inwiefern?«, fragte sie stattdessen.
»Im Keller hat Papa einen Raum, wo er alle seine alten Erinnerungsstücke aufbewahrt. Er konnte sich noch nie gut von Dingen trennen.«
»Dann lass uns dort suchen.«
»Komm.« Natalie und Zoe standen vom Bett auf und verließen das Zimmer. Auf dem Weg zum Keller begegneten sie Natalies Mutter, die wie ein wandelnder Geist an beiden vorbeiging, ohne etwas zu sagen. Der Tod ihres Mannes musste ihr furchtbar zusetzen, so jedenfalls kam es Zoe vor. Dass Natalie ihrer Mutter die Affäre ihres Vaters nicht gebeichtet hatte, fand Zoe absolut vernünftig. Vermutlich hätte das die Mutter vollends aus der Bahn geworfen.
Sie betraten den Kellerraum.
»Hier bewahrt Papa seine ganzen Erinnerungsstücke auf.«
»Dann lass uns loslegen«, antwortete Zoe und öffnete den ersten Karton.
Nach einiger Zeit hatten sie die meisten Kartons, Regale, Schränke und Ordner durchsucht, aber einen Hinweis auf den Täter hatten sie nicht gefunden. Zoes anfänglicher Optimismus hatte sich mehr oder weniger in Luft aufgelöst und sie fragte sich, ob Natalie nicht recht gehabt hatte, dass es besser wäre, die Ermittlungen der Polizei zu überlassen.
»Das hat doch alles keinen Sinn«, sagte Natalie zum wiederholten Male.
»Was?«, fragte Zoe, die nur mit halbem Ohr zuhörte, da sie gerade noch einen Karton öffnete, um dessen Inhalt zu prüfen. Natalies Vater hatte viel Wert darauf gelegt, seine Andenken aus der Vergangenheit akribisch zu sammeln.
Zoe war da ganz anders. Sie kam eher nach ihrem Vater, der, soweit sie wusste, kaum Erinnerungen aufbewahrt hatte. Dennoch würde sie das komplette Haus auf den Kopf stellen, wenn sie wieder zu Hause wäre, in der Hoffnung, doch noch einen Hinweis auf den Täter zu finden.
»Na, das hier. Was soll das bringen? Wir suchen jetzt schon ewig und haben nichts gefunden. Vielleicht ist da eben nichts.«
»Und warum wollte die Polizei dann die Unterlagen?«, entgegnete Zoe. Aufgeben kam für sie überhaupt nicht infrage.
Ein anderer Gedanke spukte plötzlich durch ihren Kopf. Ob Ali schon etwas herausgefunden hatte? Es konnte sicher nicht schaden, ihn auf dem Rückweg anzurufen. Allein, um den Druck zu erhöhen, er sollte nicht das Gefühl haben, dass er es mit einer jungen Frau zu tun hatte, die nicht genug Arsch in der Hose hatte, um die Sache durchzuziehen.
»Du bist aber nicht die Polizei«, ließ Natalie ihrem Frust freien Lauf. Ihre Gereiztheit nahm gefühlt sekündlich zu.
»Das stimmt. Trotzdem werde ich sicherlich nicht Däumchen drehen, unsere Väter wurden ermordet«, blieb Zoe unbeeindruckt. Sie kannte ihre Freundin zu gut und sie wusste, wie sie mit ihr umzugehen hatte.
Natalie starrte Zoe nur an und dann geschah es. Wie aus heiterem Himmel wurden Natalies Augen von einer Flut überrollt und sie fing an zu weinen. Es war wie eine Lawine, die über sie hereinbrach.
Zoe fühlte sich etwas überfordert, sie wusste nicht, was sie tun sollte, doch dann nahm sie Natalie ohne nachzudenken in die Arme und streichelte ihr übers Haar.
»Wir finden das Schwein, versprochen. Geh hoch aufs Zimmer, Süße. Ich mach das hier alleine.«
Natalie schniefte und zog die Nase hoch, Zoe löste die Umklammerung und Natalie wischte sich die Tränen vom Gesicht. Statt etwas zu sagen, senkte sie den Kopf und verließ den Kellerraum.
Du musst stark sein , ermahnte sich Zoe, um nicht in dasselbe Loch wie Natalie zu fallen, weil dort ein Monster auf sie wartete, das ihr all ihre Motivation rauben würde.
Zoe widmete sich stattdessen wieder dem Karton, aber auch dort fand sie nichts, was helfen könnte, dem Täter auf die Spur zu kommen.
»Wonach suchst du eigentlich?«, fragte sie sich inzwischen leicht genervt, weil sie das Gefühl bekam, dass sie hier nur ihre Zeit verschwendete. Aber eine Alternative, wo sie suchen könnte, hatte sie auch nicht.
Sie nahm den letzten Karton aus einem der Metallregale und öffnete ihn. In dem Karton war ein weiterer Karton, den sie ebenfalls öffnete.
Ein paar lose Blätter lagen darin. Sie griff danach und bemerkte, dass es keine normalen Zettel waren, sondern Fotos. Die Personen darauf sagten ihr nichts. Schließlich nahm sie das letzte Foto heraus, das ungefähr DIN-A4-Format hatte, und schaute es sich an.
»Das ist doch Papa«, sagte sie und legte den Finger auf das Foto. Sie drehte es um. Auf der Rückseite stand ein Text, geschrieben mit Kugelschreiber.