32
16. September, Köln
»V ielleicht haben wir endlich unsere erste heiße Spur«, sagte Aydin, als Brandt ihren Dienstwagen Richtung Kölner Dom steuerte.
»Nicht zu früh freuen, es könnte auch reiner Zufall sein, dass er auf den Fotos war.«
»Das aus deinem Mund? Seit wann glaubst du an Zufälle?«, entgegnete Aydin.
»Ich glaube an Fakten, das solltest du so langsam wissen, oder bist du auf irgendeinem schrägen Trip. Rauchst du wieder Gras?«
»Witzig. Was hat das damit zu tun?«
»Also rauchst du wieder?«
»Quatsch. Du weißt doch, dass ich seit Leahs Geburt damit aufgehört habe. Aber ich finde es nicht gut, dass du Gras so schlecht machst. Seine medizinische Wirkung wurde in vielen Tests nachgewiesen. Selbst in einem Land wie Amerika ist es inzwischen legal und anerkannt.«
»Einmal Junkie, immer Junkie«, stichelte Brandt. »Du kannst wenigstens ehrlich sein, es gab Tage, da hat man dir deinen Konsum angesehen.«
»Was für Tage?«
»Na, wo du langsam und träge warst. Oder hatte das nichts mit den Joints zu tun?« Brandt lachte herzhaft auf. Es war zu einfach, Aydin aus der Reserve zu locken.
»Weißt du was, du willst mich doch nur ärgern, aber darauf reagiere ich gar nicht. Jeder soll das machen, was ihn glücklich macht. Warum immer diese Regeln und der Druck der Gesellschaft, dass man glattgebügelt sein muss wie du?«
»Ich bin nicht glattgebügelt.«
»Doch, bist du. Der perfekte Schwiegersohn – kurze blonde Haare, strahlend blaue Augen, perfekter Körper …«, antwortete Aydin, unterbrach sich dann aber und fing ebenfalls an zu lachen. »Ich vergaß, mit fünfzig ist man ja raus aus dem Schwiegersohn-Image, da ist man eher der schicke Großvater.«
»Witzig. Ich bin noch nicht fünfzig«, reagierte Brandt etwas gereizt, da ihm diese Zahl schon Respekt einjagte.
»Jetzt weißt du, wie man sich fühlt, wenn jemand auf Kosten anderer Witze macht.«
»Ich bin ganz entspannt.«
»Klar, hat man ja gesehen.«
»Tiefenentspannt.«
»Gibs doch nur ein einziges Mal zu, dass ich dich eben hatte.«
»Hattest du nicht. Weil da nichts zu haben war.«
Aydins Lippen formten sich zu einem breiten Grinsen. Brandt schüttelte den Kopf. »Konzentrier dich lieber auf das Gespräch.«
Sie hatten das Ziel fast erreicht und Brandt parkte den Wagen.
Das Gebäude, das sie ansteuerten, wirkte von außen recht alt, vermutlich hatte es als eines der wenigen Gebäude in Köln den Zweiten Weltkrieg überstanden. Soweit Brandt wusste, war Köln damals zum größten Teil zerbombt worden und bis heute hielt sich das Gerücht, dass es pures Glück gewesen sei, dass der Kölner Dom als eines der ganz wenigen Bauwerke nicht zerstört worden war. Manch Katholik glaubte, es habe an der Macht Gottes gelegen, dass diese wunderbare Kirche unversehrt blieb, andere behaupteten, die Alliierten hätten den Kölner Dom bewusst verschont.
»Das Gebäude hier stammt aus dem vierzehnten Jahrhundert«, sagte Aydin und schaute andächtig bis zum Dachfirst hinauf.
»Vermutlich stand hier mal ein Gebäude aus dem vierzehnten Jahrhundert, aber nur ein Teil der Fassade ist noch erhalten, der Rest wird deutlich jünger sein«, entgegnete Brandt.
»Möglich. Aber ich finde es gut, dass die Kirche sich ihrer Verantwortung bewusst ist und Einrichtungen wie diese unterhält, wo man den verlorenen Seelen Hilfe bietet.«
»Himmel, bist du heute pathetisch«, bemerkte Brandt und betrat das Gebäude. Aydin folgte ihm.
»Guten Tag. Wir möchten gerne mit Herrn Karl Dübel sprechen«, sagte Brandt zu dem Mann, der am Empfang saß.
»Worum geht es denn? Wie Hilfesuchende seht ihr nicht aus«, antwortete der Mann. Sein Name war Markus, so stand es jedenfalls auf dem kleinen Namensschild, das links oben an seinem Pullover befestigt war.
»Wir sind von der Kölner Kriminalpolizei.«
»Oh. Hat einer unserer Gäste wieder Unfug angestellt?«, unterbrach Markus Brandt. »Oft ist es Verzweiflung, die sie zu Dummheiten verleitet. Ich hoffe, das lässt sich schnell klären.«
Brandt sah, wie Markus zum Hörer griff, daher nannte er ihm nicht mehr den wahren Grund ihres Besuches. Letzten Endes hatte das die Hilfskraft auch nicht zu interessieren.
»Karl wird euch gleich in Empfang nehmen.« Markus setzte ein Lächeln auf und nickte freundlich. Brandt war sich nicht sicher, ob es ein ehrliches Lächeln war oder ob die Freundlichkeit nur gespielt war.
Keine zwei Minuten später erschien Karl Dübel. Er war einen Kopf kleiner als Brandt, rundlich und ein Haarkranz schmückte sein Haupt, sein rundes Gesicht ließ ihn gutmütig erscheinen.
Sie hatten es Tim, Fischer und Lorenz zu verdanken, dass sie die Identität von Karl Dübel so schnell herausgefunden hatten.
»Guten Tag, die Herren, Markus meinte, dass einer unserer Gäste Probleme gemacht habe«, sagte Dübel. Im Gegensatz zu Markus siezte er die Beamten, was Brandt sehr recht war.
»Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«, fragte Brandt.
»In meinem Besprechungszimmer. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Brandt und Aydin folgten Dübel. Obwohl das Gebäude von außen nicht besonders groß wirkte, konnte Brandt sein Erstaunen kaum verbergen, denn von innen war es deutlich geräumiger, als er es erwartet hätte.
»Stammt das Gebäude tatsächlich aus dem vierzehnten Jahrhundert?«, erkundigte sich Aydin, vermutlich, um die Stille zu durchbrechen.
»Die katholische Kirche hat es eins zu eins wiederaufgebaut. Nur ein Stück der Fassade hat den Zweiten Weltkrieg überstanden.«
Aydin nickte und Brandt blinzelte seinem Freund zu, da er genau das vermutet hatte.
Sie betraten ein Zimmer.
»Nehmen Sie doch bitte Platz. Wer hat Ihnen denn Kummer bereitet? Ich weiß, dass Sie nur Ihre Arbeit machen, aber wenn Sie wie wir die Geschichten dieser verlorenen Seelen kennen würden, wüssten Sie, warum es einige nicht schaffen, sich von der Straße zu lösen. In der Spitze betreuen wir hier bis zu fünfzig Personen. Und das ist bei Weitem nicht genug. Es gibt Tausende Obdachlose.« Dübel atmete aus. Es war ihm anzusehen, dass ihm das Ganze zusetzte. Jedenfalls glaubte Brandt nicht, dass es gespielt war.
»Ihr Kollege ist einem Missverständnis erlegen«, antwortete Brandt, es war an der Zeit, die Dinge geradezurücken.
»Ein Missverständnis? Ich verstehe nicht. Sind Sie nicht von der Polizei?« Dübel wirkte irritiert, aber noch immer lag das freundliche Lächeln auf seinem Gesicht, das einen glauben ließ, dieser Mann könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.
»Doch, sind wir. Von der Mannheimer Kriminalpolizei«, erklärte Aydin.
»Und was ist dann der Grund Ihres Besuches?«
»Es geht um einen Mordfall, in dem wir ermitteln.«
»Mord? Wurde einer unserer Gäste ermordet?« Dübel wirkte schockiert. Er hielt seine Hand vor den Mund und setzte sich, dann bekreuzigte er sich.
»Herr Dübel, keiner Ihrer Gäste wurde ermordet. Es geht um den Mord an dem Politiker Klaus Lau. Sie haben sicherlich davon gehört. Wir ermitteln in diesem Fall«, antwortete Brandt.
»Ich habe es beiläufig mitbekommen. Schreckliche Sache. Aber was hat dieser Mord mit unserer Einrichtung der katholischen Kirche zu tun?«
»Kannten Sie Klaus Lau?«, wollte Brandt wissen. Dass sie Dübel auf einigen Fotos, auf denen auch Lau und Alwin Vogel abgebildet waren, gesehen hatten, behielt er vorerst für sich.
»Ja, von früher. Aber das ist sehr lange her. Wir haben schon lange keinen Kontakt mehr.«
Brandt nickte. Dübel hatte nicht gelogen, immerhin hätte er abstreiten können, dass er Lau überhaupt kannte. Ob er jedoch seit Längerem keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt hatte, konnte Brandt nicht verifizieren, diese Information lag ihm nicht vor.
»Hatten Sie auch Kontakt zu Alwin Vogel?«, fragte nun Aydin.
»Nicht wirklich. Ein, zwei Mal, das muss aber eine Ewigkeit her sein. Warum fragen Sie?«
»Herr Vogel wurde auch ermordet und wir gehen davon aus, dass es eine Verbindung zwischen den zwei Morden gibt«, erklärte Brandt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Dübel in die Morde verwickelt war, dennoch wusste er, dass es viel zu früh war, um sich festzulegen.
»Eine Verbindung? Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich kann Ihnen gerade nicht folgen. Von was für einer Verbindung sprechen Sie und was hat das Ganze mit mir zu tun?«
»Das wissen wir noch nicht. Aber wir hoffen, dass Sie uns etwas über Ihre gemeinsame Zeit mit den beiden Herren erzählen können.«
»Das ist sehr lange her. Wir haben uns nur ein paar Mal getroffen. Mit Alwin sogar noch weniger. Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen kann, diese Morde aufzuklären. Ich fürchte, da sind Sie bei mir falsch.«
»Gab es damals Streit mit jemandem?«, erkundigte sich Aydin.
»Einen Streit? Glauben Sie allen Ernstes, dass jemand Alwin und Klaus wegen einer alten Fehde ermordet hat, nach so vielen Jahren? Es müssen zwanzig Jahre vergangen sein, seit ich Klaus das letzte Mal gesehen habe.«
»Wir ermitteln nur, das Glauben überlassen wir lieber Ihnen«, konnte sich Brandt eine bissige Bemerkung nicht verkneifen. Langsam hatte er das Gefühl, dass Dübel überhaupt kein Interesse daran hatte, sich einzubringen. »Versuchen Sie sich zu erinnern. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass es damals zu einem Streit gekommen ist.«
»Nein, Sie irren sich. Das letzte Mal, dass wir uns getroffen haben, war auf der Hochzeit von …«, rutschte es Dübel heraus. Als hätte er seinen Fehler bemerkt, hielt er abrupt inne, er wirkte erschrocken, doch Brandt konnte er nichts vormachen. Etwas war auf dieser Hochzeit geschehen, warum sonst hätte Dübel sich erschrecken und den Satz unvollendet abbrechen sollen?
»Welche Hochzeit?«, fragte er daher.
Dübel antwortete nicht sofort, er wirkte plötzlich sehr nervös und schien zu überlegen. »Das ist lange her. Ich kann mich nicht so recht erinnern«, suchte er nach Ausflüchten.
»Dann lassen Sie sich Zeit«, sagte Aydin freundlich. Brandts Bemerkung wäre weniger höflich ausgefallen. Das lächelnde, friedliche Gesicht von Dübel hatte sich schlagartig geändert. Man sah ihm deutlich an, dass die beiden Beamten ihn bei einer Lüge ertappt hatten und er nicht wusste, wie er sich aus dieser Situation befreien sollte, weil er ein ganz schlechter Lügner war.
»Ich kann mich nicht mehr an die Namen erinnern. Aber wenn Sie mir ein paar Tage Zeit geben, werde ich in unserem Archiv schauen. Ich hatte damals die Trauung vorgenommen.« Dübels Blick wanderte zum Fenster, seine rechte Hand lag auf seinem Oberschenkel und wie automatisiert tippte sein Zeigefinger unruhig auf den Hosenstoff.
»Versuchen Sie es. Immerhin erinnern Sie sich an die Hochzeit und an die beiden Politiker, die als Gäste dort waren. Da sollten Sie sich doch auch an die zwei wichtigsten Personen dieses Tages erinnern«, entgegnete Brandt mit deutlich schärferem Unterton als Aydin. Er nahm an, dass Dübel mit Druck nicht gut klarkam. Gleichzeitig meldete sich ein Gefühl, das ihm sagte, dass vermutlich auch Nils Holm, das Opfer aus Lübeck, bei der Hochzeit anwesend gewesen sein musste. Das wiederum konnte nur bedeuten, dass der Mörder auch auf der Hochzeit gewesen war.
Waren sie dem Mörder tatsächlich so nahe oder war es nur eine weitere falsche Spur, der sie folgten?
»Es tut mir leid, ich kann mich wirklich nicht an die Namen …«
»Dann denken Sie intensiver nach«, unterbrach Brandt den kleinen runden Mann, der auf seinem Platz saß wie ein Schuljunge, der bei einem Streich erwischt worden war und nun versuchte, sich herauszureden.
»Und wenn, glauben Sie denn, der Bräutigam ist der Mörder?«
»Wer hat geheiratet?« Dübel schien nicht zu verstehen, dass er mit seinen Ausflüchten und seiner sichtbaren Nervosität nur den Verdacht erhärtete, dass er etwas verbarg. Er schluckte, wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und schaute kurz zu Aydin, den Blickkontakt zu Brandt vermied er und Brandt wusste auch warum. Er hatte Angst vor ihm.
»Kai und Jule haben geheiratet. Aber ich halte das alles für ein großes Missverständnis. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Klaus und Alwin von einem der Gäste ermordet wurden.«
»Kennen Sie einen Nils Holm?«, fragte Brandt.
»Nein«, antwortete Dübel und wieder war es offensichtlich, dass er log.
»Was ist auf der Hochzeit geschehen?«, erhöhte Brandt den Druck. »Wir wissen, dass Nils Holm auf der Hochzeit war. Es gibt Fotos mit Ihnen.« Letzteres war zwar gelogen, aber das wusste Dübel nicht und Brandt war sicher, dass er mit seiner Vermutung richtig lag.
Dübels Blicke wanderten hin und her, als suchte er irgendwo Halt.
»Es tut mir leid.« Dübel wirkte plötzlich angeschlagen, als hätte er etwas auf dem Herzen, was er endlich loswerden wollte, nein musste.