33
20. September, Köln
W UT!
Ich trage so viel Wut in mir, auch wenn ich bisweilen hoffe, dass ich inzwischen gelernt habe, mit dieser Wut zu leben, aber ich weiß, dass sie mich niemals verlassen wird.
Das ist einerseits gut, denn sie hilft mir, mein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Andererseits erlaubt mir diese Wut keine Ruhe, kein Glück.
Ich weiß nicht, wie viele Male Natalie mich in den letzten Tagen angerufen und mir geschrieben hat, aber am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als ihre Nummer zu blockieren. Sie muss mich wirklich lieben.
Mich!
Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass man mich lieben könnte. Aber scheinbar ist es möglich. Ich weiß, dass ich ihr gegenüber nicht fair gewesen bin und dass es feige war, das Ganze mit einer WhatsApp zu beenden.
Auf der anderen Seite ist das doch heute so. Junge Menschen beenden vieles lieber mit einer WhatsApp, als sich ihrem Gegenüber zu stellen. Die Welt ist im Wandel begriffen, ob sie sich zum Guten entwickelt, darf bezweifelt werden.
Ich hätte Natalie die Sache gerne persönlich erklärt, aber die Zeit drängt und was hätte es gebracht, wenn ich eh bald sterben werde?
»Es ist gut so«, sage ich mir, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen.
Seit einigen Tagen hänge ich nun schon in Köln fest. Die Dinge laufen nicht so, wie ich es mir wünsche, wie wir es geplant haben.
Dieser Feigling von Priester, Karl Dübel, will sein Asyl einfach nicht verlassen.
Mein Kumpel und ich lauern ihm seit Tagen auf, aber er will scheinbar nicht nach Hause gehen, er übernachtet sogar in diesem verfluchten Gebäude.
Ich weiß, dass er dort auch einen Raum zur privaten Nutzung hat. Die katholische Kirche ist spendabel, aber warum er trotzdem nicht nach Hause geht, ist mir schleierhaft. Schließlich liegt seine großzügige Dreizimmer-Wohnung in einem schicken Neubau. Die Miete bezahlt natürlich wieder die spendable katholische Kirche.
All das weiß ich, weil ich mich gut vorbereitet habe. Nur darauf, dass er das Gebäude nicht verlässt, war ich nicht gefasst.
»Heute Abend«, mache ich mir Mut.
Könnte man ihn nicht unter einem Vorwand aus dem Gebäude locken? Aber unter welchem? Mir fällt keiner ein. Er scheint darauf zu stehen, in einem schäbigen Zimmer zu schlafen statt in seiner modernen Dreizimmer-Wohnung.
Und wieder nimmt ein Gedanke Besitz von mir, den ich so gar nicht leiden kann: Was, wenn Gott ihn schützt?
Schnell schüttele ich den Kopf. Es gibt keinen Gott und es gab auch keinen Jesus, der von den Toten auferstanden ist. Genauso wenig wie es Mohammed oder Moses gab, der das Meer geteilt hat. All das sind Lügen, die Menschen erfunden haben, um andere zu unterdrücken oder ihnen ihren Willen aufzudrücken.
Aber es gab eine Zeit, da warst du dem Glauben sehr nahe , ermahne ich mich.
»Niemals«, rufe ich und jetzt kann ich mich nicht mehr gegen die Tränen wehren, die plötzlich über mich hereinbrechen und kein Ende nehmen wollen. »Niemals«, wiederhole ich, doch meine Stimme hat deutlich an Schärfe verloren. Ich ziehe die Nase hoch und hebe den Oberkörper, als wollte ich meine Kleidung richten.
Die Unruhe, die mich den ganzen Tag schon begleitet, nervt, aber ich kann sie nicht abschütteln, weil Karl meine Pläne nicht respektiert.
»Du solltest längst tot sein, aber du bist es nicht! Warum?«
Ich kenne die Antwort. »Weil du ein Feigling bist, du versteckst dich hinter deiner Kutte. Aber deine Kutte wird dir nicht helfen, weil ich weiß, was für ein schlechter Mensch du bist.«
Ich schaue aus dem Fenster meines Hotelzimmers, der Ausblick ist nicht gerade einladend, aber wegen der schönen Umgebung habe ich das Hotel auch nicht ausgesucht. Mein Blick wandert wieder zum Laptop, ich lenke mich ab, indem ich auf irgendwelchen Webseiten surfe. Ich könnte auch einen Film oder eine Serie auf Netflix schauen, um mich auf andere Gedanken zu bringen, aber selbst danach ist mir nicht.
»Du musst raus«, beschließe ich und ziehe mich an, um mich unter die Menschen zu mischen, damit ich meine trübe Stimmung loswerden kann.
Die Vergangenheit fickt einen immer wieder, egal wie fest man davon überzeugt ist, sie abgeschüttelt zu haben.
Mein Handy vibriert, als ich die Tür öffnen will, um mein Hotelzimmer zu verlassen. Es ist mein Kumpel.
»Ja«, nehme ich das Gespräch an.
»Hallo. Wie geht es dir?«
»Gut. Ich wollte ein bisschen raus, mir die Beine vertreten.«
»Mach das. Du wirst aber keine Dummheiten anstellen, oder?«
»Nein, warum sollte ich. Ich will diesen Mistkerl endlich tot sehen.«
»Ich auch. Und ich habe mir Gedanken gemacht«, antwortet er. »Bald könnte alles vorbei sein und du bist endlich frei.«
»Was für Gedanken?«, frage ich ihn. Den zweiten Teil ignoriere ich, denn es gibt da etwas, was er nicht weiß: dass ich mich für den Freitod entschieden habe. Ich vertraue ihm zwar blind und erzähle ihm wirklich fast alles, aber dieses eine könnte ich ihm unmöglich verraten, weil er es niemals verstehen würde.
»Du solltest mir den Priester überlassen. Ich kann mich als Obdachloser in die Unterkunft schmuggeln und ihn dann abends in seinen Privatgemächern überwältigen.«
»Das kommt nicht infrage. Du weißt, wie wichtig es für mich ist, dass ich es selbst tue.«
»Ja, aber du hast doch schon drei ausgeschaltet. Du solltest dich nicht in Gefahr bringen.«
»Und dich soll ich in Gefahr bringen? Nein, du hast schon mehr getan, als ich je von einem Menschen erwarten könnte. Ich stehe tief in deiner Schuld.«
»Das tust du nicht. Sag so etwas nicht. Sei nicht immer so streng zu dir.«
»Doch«, antworte ich und mein Ton ist deutlich schärfer, als ich wollte. Aber ich fühle mich einmal mehr darin bestätigt, dass es gut war, ihm auch von der kurzen Liebesromanze mit Natalie zu erzählen. Mein Freund ist für mich über jeden Zweifel erhaben.
»Lass es mich tun, bitte.«
»Nein, aber du hast mich auf eine Idee gebracht.«
»Welche?« Sorge schwingt in seinen Worten mit.
»Ich könnte mich als mittellos ausgeben und es endlich hinter mich bringen.«
»Bist du verrückt? Du machst nichts ohne mich. Wer beschützt dich denn, wenn etwas schiefläuft?«
»Was soll schon schiefgehen?«, versuche ich ihm die Sorgen zu nehmen, gleichzeitig nimmt die Idee immer mehr Besitz von mir und ich ärgere mich, dass mir dieser Einfall nicht selbst gekommen ist.
»Denk nicht mal dran. Wenn ich bei der Sache mit Alwin Vogel nicht dabei gewesen wäre, hätte das böse ins Auge gehen können. Versprich mir, dass du keine Dummheiten anstellst.« Fast glaube ich, Panik aus seinen Worten herauszuhören, er macht sich ernsthaft Sorgen, dass er mir mit seiner Idee einen Floh ins Ohr gesetzt hat.
»Gut. Wir halten uns an meinen ursprünglichen Plan. Okay?«
»Okay.« Ich vernehme seine Erleichterung, er atmet aus. »Was wirst du jetzt machen?«
»Ich werde etwas spazieren gehen und hoffen, dass der Priester heute Abend endlich den Heimweg antritt.«
»Ich kann mich auf dich verlassen?«
»Klar. Du solltest niemals an meinem Wort zweifeln, sonst hätte ich dir auch nicht von Natalie erzählt.«
»Verzeih. Das war nicht meine Absicht. Ich mache mir nur Sorgen um dich. Das mit Natalie war gefährlich.«
»Warum?«
»Sie ist die Tochter von Vogel.«
»Ich hatte alles im Griff. Sie war nie eine Gefahr.« Dass ich weiß, dass Zoe bei Natalie war, habe ich ihm verschwiegen, weil er mir dann nur wieder einzureden versucht hätte, dass Zoe sterben müsse. Es war schon schwer genug, ihn davon abzuhalten, das junge Mädchen zu töten. Dabei ist mein Freund überhaupt nicht jemand, der gerne Menschen tötet. Er tut es nur, weil er mich schützen will. Aber ich bin bald tot, warum sollte ich Zoe also aus Sorge, dass sie mich entdecken könnten, oder etwa aus Rache für die Tat ihres Vaters büßen lassen? So ein Ungeheuer bin ich nicht.
Statt einer Antwort höre ich nur, wie er atmet.
»Ich muss jetzt los. Ich melde mich wegen heute Abend.«
»Mach das. Und du hast mir versprochen, dass du keine Dummheiten machst.«
»Keine Sorge. Bis später.«
»Bis später.« Wieder höre ich dieses Atmen, das mir sagt, dass er sich doch Sorgen macht.
In Momenten wie diesen frage ich mich, womit ich ihn verdient habe. Diese bedingungslose Loyalität, die er mir schenkt, ist bewundernswert. Aber es ist nicht nur die Loyalität, die ich an ihm bewundere. Seinetwegen bin ich erst das geworden, was ich bin.
Und dafür werde ich ewig in seiner Schuld stehen.
Von meinem Hotel aus ist es nur ein Katzensprung bis zur Fußgängerzone. Ich erreiche die Hohe Straße und folge der Menschenmenge. Diese Einkaufsmeile ist nicht so mein Ding, sie ist schmal und die Menschen drängen sich hier hindurch, als wären sie eine dumme Schafherde. Beim Media Markt biege ich rechts ab und komme ein paar Minuten später auf die Breite Straße, die mir schon deutlich besser gefällt. Viel weniger Fußgänger, alles wirkt weniger hektisch.
Mir ist nach einem Espresso, also betrete ich das Woyton Café, bestelle mein Getränk und nehme draußen Platz. Bei diesem schönen Wetter wäre es dämlich, drinnen zu sitzen.
Dann tue ich das, was ich meistens tue, wenn ich in einem Café sitze. Ich beobachte die Menschen. Das hilft mir immer wieder, runterzukommen, die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Oft frage ich mich, was die Leute wohl bewegt, die an mir vorbeigehen. Manche wirken gestresst, andere lachen und strahlen und wieder andere, zum Glück nur wenige, haben sehr traurige Augen.
Ob diese Augen Zeugnis eines beklagenswerten Schicksals sind?
Ab und an erwische ich mich bei dem Gedanken, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich einer dieser Fußgänger wäre. Doch solche Gedanken schüttle ich schnell wieder ab, weil ich in der Realität lebe und weiß, dass ich mein Leben, meine Vergangenheit nicht gegen etwas Schöneres eintauschen kann.
Gott hat ein anderes Leben für mich vorgesehen , denke ich und muss schmunzeln, weil ich Gott als Ausrede für mein Leben benutze. Ich! Wo ich doch gar nicht an Gott glaube.
Ich bleibe noch eine ganze Weile sitzen, obwohl ich den Espresso längst ausgetrunken habe. Neben mir haben ein Mann und eine Frau Platz genommen. Der Mann trägt ein T-Shirt, eine stylische Jeanshose und Turnschuhe. Man könnte meinen, dass er ein fortschrittlicher Mensch ist, jedenfalls seinem Aussehen nach zu urteilen, aber die Frau an seiner Seite zeigt mir, dass er hängengeblieben ist. Die Frau ist verschleiert, aber so richtig. Nicht bloß mit einem Kopftuch, nein, mit so einem Ganzkörperumhang. Ich glaube, man nennt es Niqab.
Sie wirkt eingeschüchtert, nur einmal hat sie kurz in meine Richtung geschaut, dabei konnte ich ihre Augen sehen, die nicht verschleiert sind. Sie wirken traurig und ich kann insgeheim nur den Kopf schütteln. Es kann mir doch keiner ernsthaft erklären, dass eine Frau darauf stehen würde, diesen Schleier zu tragen. Der Niqab ist für mich der beste Beweis für die Unterdrückung der Frau. Ihn mit Kultur, Religion oder Tradition zu rechtfertigen, ist eine feige Ausrede der herrschenden Männer. Die Herrschenden tun selten etwas dafür, die Unterdrückten zu befreien oder ihnen Gleichberechtigung zuzugestehen. Und diese Frau wird unterdrückt, das ist die bittere Wahrheit. Ihr Mann widert mich an und ich habe Sorge, dass mir ein dummer Spruch herausrutschen könnte, also stehe ich auf und gehe.
Und du wolltest zum muslimischen Glauben übertreten?, ich lache innerlich auf. Dabei weiß ich ja, dass die Religion nicht die Hauptursache für diese Unterdrückung ist, es sind die Männer, die den Islam schamlos ausnutzen, um ihren Machtanspruch gegenüber der Frau zu rechtfertigen, damit sie sie beherrschen können. Solche Männer sind für mich Feiglinge.
Mit Wut im Bauch folge ich der Breiten Straße, da bleibt mein Blick an einem Laden in einer Seitenstraße hängen.
»Secondhand«, sage ich zu mir und plötzlich ist er wieder da. Dieser Gedanke.
Ich überlege nicht lange und betrete den Laden. Er ist größer, als er von außen wirkt. Hier kann man für wenig Geld wirklich originelle Sachen kaufen.
Und dann finde ich, was ich suche, ich nehme die Sachen und bezahle sie. Danach gehe ich zurück ins Hotel. Ich bin fest entschlossen, es zu tun. Auch wenn ich meinem Kumpel versprochen habe, meine Idee nicht in die Tat umzusetzen – dieser Secondhandladen hat alles verändert.
»Es wäre dumm, es nicht zu tun«, sage ich zu mir, als ich mein Spiegelbild betrachte. Zufrieden nicke ich, weil ich wie eine Obdachlose aussehe.
In meiner neuen Kleidung verlasse ich mein Hotelzimmer, allerdings ohne Waffe oder Messer. Ich muss zunächst sehen, ob mich die Einrichtung überhaupt aufnimmt. Und ich muss damit rechnen, dass man mich durchsucht, daher muss ich vorsichtig sein. Doch sobald ich Zugang zu der Einrichtung habe, werde ich die Waffe holen und dann wird dieser verdammte Priester in die Hölle gejagt.
Keine zehn Minuten später befinde ich mich vor dem Gebäude, das so bedrohlich auf mich herabschaut, dabei ist es doch meine Wenigkeit, die den Tod bringt.
Vor dem Gebäude steht ein Mann, er wirkt etwas orientierungslos.
»Hey«, spreche ich ihn an. Ich gehe davon aus, dass er die Einrichtung besucht.
»Hallo«, antwortet der Mann, aber er schaut mich nicht an. Ich rieche jedoch seine unangenehme Fahne, er ist betrunken. Vermutlich ein alltäglicher Zustand. Irgendwie habe ich Verständnis dafür, weil auch ich in einer ähnlichen Situation war.
»Wohnst du hier?«
Der Mann lacht. »Bist du neu in der Stadt?«
»Ja, habe aber kein Geld für ein Hotel«, antworte ich. »Meinst du, ich komme hier unter?«
»Für ein oder zwei Nächte bestimmt. Aber die sind sehr streng.«
»Streng?«
»Ja, die nehmen keine Kanaken.«
»Ich bin deutsch und katholisch«, lache ich.
»Katholisch? Gott fickt uns jeden Tag, also sollten wir auch Gott ficken. Wenn ich du wäre, würde ich mir einen anderen Schlafplatz suchen.« Er mustert mich kritisch, als würde er mir nicht zutrauen, dass ich hier wirklich übernachten möchte. Ist meine Verkleidung vielleicht doch nicht so gut wie angenommen? Dabei habe ich mir auf dem Weg noch die Hände schmutzig gemacht, damit ich nicht zu sauber aussehe, und ich habe etwas Alkohol aus der Minibar über meine Kleidung geschüttet und meinen Mund damit gespült.
Bevor ich etwas erwidern kann, entfernt er sich. Ich spüre seine Bitterkeit und Enttäuschung, dennoch will ich lieber nicht wissen, welche Schicksalsschläge der Mann hinter sich hat, dass er zu dem geworden ist, der er ist, weil es für mich letztlich ohne Bedeutung ist. Unsere Wege werden sich nicht mehr kreuzen.
Noch einmal schaue ich mir das Gebäude an, dann trete ich ein. Bisher hatte ich es immer nur von außen betrachtet, daher mache ich mir keine Sorgen, dass meine Tarnung auffliegen könnte.
Das ist das Gute, wenn man in der Gosse gelandet ist. Da schenkt dir keiner mehr Beachtung, man fällt nicht auf.
Ich trete an den Empfangstresen, er ist schlicht, nur ein Kreuz schmückt ihn.
»Hallo«, mache ich mich bemerkbar.
»Hallo. Wie kann ich dir helfen?«, antwortet Markus. Sein Name steht auf dem Schild, das an seinem Pullover angeheftet ist.
»Ich bin neu in Köln und weiß nicht, wo ich heute Nacht oder die nächsten Nächte schlafen kann.«
Er schaut mich an. Ich kann seinen Blick nicht wirklich deuten, aber mir ist unwohl. Vielleicht hasst er ja Obdachlose, obwohl er hier arbeitet. Gut möglich, dass die Kirche ihn dazu verdonnert hat, hier zu sitzen, jedenfalls macht er auf mich nicht den Eindruck, als wäre er glücklich mit seiner Position. Irgendwie traue ich ihm zu, dass er die Menschen, die hier Hilfe suchen, misshandelt. In gewisser Weise wirkt er so auf mich.
»Was machst du in Köln?«
»Was soll jemand wie ich schon machen? Ich war vorher in Düsseldorf. Hatte da aber Probleme.«
»Probleme?«, unterbricht er mich.
»Ich wurde von meinem Schlafplatz gemobbt. Da dealen jetzt irgendwelche Neger«, erkläre ich. Die Geschichte habe ich mir auf dem Weg hierher zurechtgelegt.
»Diese Drogenplage nimmt einfach kein Ende. Das tut mir leid für dich. Aber die sind nicht handgreiflich geworden, oder?« Sein Lächeln interpretiere ich dahingehend, dass er die Kröte geschluckt hat.
»Zum Glück nicht. Aber ich glaube, die wären zu allem fähig. Kann ich heute Abend bei euch übernachten oder morgen?«
»Eigentlich schon, aber wir sind heute Abend voll. Du bist eine halbe Stunde zu spät. Morgen könnte es vielleicht klappen«, antwortet er und mir fällt es verdammt schwer, meine Enttäuschung zu verbergen.
»Das ist echt blöd, ich bin total kaputt. Wo könnte ich denn unterkommen?«, frage ich und überlege, ob Markus lügt, da der Obdachlose vor dem Gebäude behauptet hat, dass ich hier für ein, zwei Nächte unterkommen könne. Aber natürlich könnte sich der Obdachlose auch geirrt haben.
»So kurzfristig ist das schwierig. Die Stadt hat viele Gelder gestrichen, eigentlich bleibt dir nur eine kirchliche Einrichtung. Bist du Protestantin?«
»Nein, Katholikin«, antworte ich und wittere eine Fangfrage.
»Es ist sehr gut, dass du trotz aller Widrigkeiten deinen Glauben nicht verloren hast. Was man von vielen der anderen hier nicht sagen kann. Es ist so leicht, Gott für alles die Schuld zu geben, anstatt bei sich anzufangen.«
»Das stimmt.« Ich nicke ehrfürchtig und wieder spüre ich, wie er mich mustert. Am liebsten würde ich ihm dafür die Faust zwischen die Zähne schieben, weil sein Blick etwas Abwertendes, Erniedrigendes hat. Aber ich reiße mich zusammen, schließlich muss ich hier übernachten, damit ich diesem Priester das Leben auslöschen kann.
»Vielleicht habe ich doch einen Schlafplatz für dich.« Er schmunzelt, seine Augen können sich einfach nicht von mir losreißen.
Habe ich etwas im Gesicht? , möchte ich ihn fragen, aber wieder reiße ich mich zusammen.
Wer töten will, muss nett sein.
»Das wäre echt gut. Ich bin ziemlich aufgeschmissen«, versuche ich ihm meine ausweglose Situation klarzumachen.
»Wo sind deine Habseligkeiten?«, fragt er und sein Blick wirkt plötzlich irritiert, ja skeptisch.
»Die musste ich da lassen, wie gesagt, die Neger haben mich ganz schön unter Druck gesetzt. Ich bin einfach abgehauen. Ich hatte Angst um mein Leben«, erkläre ich ihm und hoffe, dass er mir glaubt.
Markus verengt die Augen, dann nickt er. »Heute könnte dein Glückstag sein. Wir haben gerade so eine Aktion laufen, um einigen verlorenen Seelen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen. Ich habe das Gefühl, dass dein Fall nicht hoffnungslos ist.«
»Was für eine Aktion?«, frage ich und tue interessiert.
»Fünf verlorene Seelen können bei uns an einem zweimonatigen Programm teilnehmen. Ihr würdet für uns arbeiten und mit etwas Glück bekommt ihr danach eine Anstellung bei der katholischen Kirche. Bedingung ist eben, dass ihr Katholiken seid.«
»Das bin ich. Ich wäre sehr dankbar für diese Chance. Ich verspreche auch, alles zu tun, damit ich dich nicht enttäusche. Du kannst dich auf mich verlassen. Von so einer Chance träume ich schon sehr lange.«
»Du würdest wirklich alles tun?«, fragt Markus.
»Alles«, erwidere ich, denn ich glaube, dass dieses Programm der Jackpot für mich ist. Es würde sicher bedeuten, dass ich mich hier frei bewegen und bei passender Gelegenheit das miese Schwein Dübel umbringen könnte.
Markus nickt und lächelt, er scheint mit meiner Antwort mehr als zufrieden zu sein. Ich habe ein gutes Gefühl, doch plötzlich werde ich nervös und mein Puls schnellt in die Höhe. Meine Kehle ist staubtrocken und mir wird schwarz vor Augen, aber ich reiße mich zusammen.
Karl Dübel, der Bastard, betritt die Bühne. Zum Glück schaut er mich nicht an, er ignoriert mich, was mir nur recht ist und mir dabei hilft, mich zu beruhigen. Wut überkommt mich und am liebsten möchte ich diesen Hund mit meinen eigenen Händen erwürgen.
»Karl, ich glaube, wir haben eine geeignete Kandidatin für unser Programm«, sagt Markus und zeigt auf mich.
Dübel schaut mich an, sein Blick wirkt wie versteinert. Ich weiß nicht, ob er mich erkannt hat oder ob er unter Stress steht. Doch dann entspannen sich seine Gesichtszüge.
»Seien Sie willkommen in unserem bescheidenen Heim. Wie ist Ihr Name?«, will er wissen. Obwohl Jahrzehnte vergangen sind, würde ich ihn immer wiedererkennen, trotz des Übergewichtes. Diese Augen, dieser mitfühlende Blick, der seine wahre Bosheit verbirgt, haben sich nicht verändert. Für mich ist er das Böse in Person.
Ich nenne ihm einen Fakenamen. Statt mir zu antworten, dreht er sich zu Markus.
»Kann ich dich kurz sprechen?«, sagt er zu ihm. Markus nickt und beide entfernen sich einige Schritte von mir.
Leider kann ich nicht verstehen, worüber sie reden, aber Markus’ Blick wandert ein, zwei Mal zu mir. Dübel schaut kein einziges Mal her, vermutlich ist er überhaupt nicht begeistert von der Idee, mich in dieses Programm aufzunehmen. Seiner Körpersprache nach zu urteilen, ist Dübel der Dominantere von beiden. Markus nickt oft und ich kann nur hilflos zuschauen.
Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, da bin ich diesem widerlichen Kerl so nahe und kann meine Wut nicht in eine tödliche Tat umwandeln. Das Leben ist manchmal ein elender Bastard. Doch dann bleiben meine Augen an einem Gegenstand hängen. Es ist eine Schere, sie liegt hinter dem Tresen auf der Arbeitsplatte.
Zwei Schritte trennen mich von der Schere. Sie hat eine recht lange Klinge, ich vermute, um die fünfzehn Zentimeter. Ob das ausreicht, um diesen Dreckspriester zu töten, weiß ich nicht. Nur eines weiß ich, ich muss gezielt treffen, direkt ins Herz oder in die Halsvene. Ansonsten wars das. Ich würde in den Knast, vielleicht sogar in die Psychiatrie wandern, während dieser menschenverachtende Hund mit dem Schrecken oder einer lächerlichen Verletzung davonkommen würde.
Riskiers, stich ihm die Klinge in sein verfluchtes Herz , mache ich mir Mut und mache einen Schritt auf den Tresen zu. Mein Blick wandert zu den beiden, sie scheinen mir gar keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken, also mache ich noch einen Schritt auf den Tresen zu, bereit, nach der Schere zu greifen, um sie diesem Satan ins Herz zu rammen.
Doch gerade als ich nach der Schere greifen will, hört das Gespräch auf und ich sehe, wie Markus mir einen Blick zuwirft. Ich hoffe, er hat meine Absicht nicht durchschaut. Ich verharre auf meiner Position, alles andere könnte verdächtig wirken. Die beiden kommen auf mich zu.
»Markus meinte, dass Sie eine gläubige Katholikin sind.«
»Das stimmt, ich bin Katholikin und versuche, so gut es geht, meinen Glauben nicht zu vergessen. Jedenfalls würde mir niemals einfallen, Gott für meine Misere verantwortlich zu machen.«
Diese Antwort scheint ihn zu überraschen, das lese ich aus seinem Gesicht, und ich möchte von mir behaupten, dass ich geübt in solchen Dingen bin.
»Das ist gut. Gott stellt uns jeden Tag auf die Probe. Nur die Schwachen sind so töricht und geben Gott für alles die Schuld. Wenn Markus von Ihren Qualitäten überzeugt ist, sollte Ihrer Teilnahme an dem Programm nichts im Wege stehen. Aber wehe, Sie enttäuschen uns.«
Ich nicke und lächle, denn ich möchte unbedingt den Eindruck erwecken, dass ich dankbar für diesen großen Vertrauensvorschuss bin. Ich weiß nicht, ob Markus ihn überzeugt hat oder meine hohlen Phrasen über Gott, am Ende ist das auch egal, was zählt, ist das Resultat.
»Ich werde Sie nicht enttäuschen. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen je für diese Chance danken kann«, antworte ich unterwürfig, was mich geradezu anwidert. Es fällt mir immer schwerer, meine Wut im Zaum zu halten. Hoffentlich bemerkt keiner von beiden die Giftpfeile, die in meinem Innern nur darauf warten, abgefeuert zu werden. Hätte ich die Schere in der Hand, hätte ich sie ohne Zögern in sein Herz gerammt.
»Seien Sie ohne Sorge, Sie werden schon sehr bald Gelegenheit bekommen, sich dankbar zu zeigen«, antwortet er mit einem hinterhältigen Grinsen. Seine Augen werden schmal und mir wird plötzlich kalt, als hätte ich soeben Bekanntschaft mit dem Teufel gemacht.
Keine Sorge, bald wirst du tot sein . Du hast gerade deinen eigenen Henker eingeladen , denke ich, um mir Mut zu machen. Laut sage ich: »Danke. Ich werde alles tun, was Sie wollen. Versprochen.«