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Ü
berraschungen
!
Ich bin kein Freund von Überraschungen, war ich noch nie. Ich plane gerne, was ich als Nächstes tun werde, und möchte immer darüber im Bilde sein, was in meiner Umgebung geschieht. Meine kleine Affäre mit Natalie war eine schöne Abwechslung, aber im Nachhinein betrachtet, war sie ein Fehler, auch wenn sie noch ab und an in meinen Gedanken herumspukt.
Das eben war eine dieser Überraschungen, die ich weder gebrauchen noch leiden kann. Ich bin mir sehr sicher, dass ich eben fast Zoe Lau in die Arme gelaufen wäre, wenn ich sie nur eine Sekunde später erkannt hätte.
Was sucht sie hier? Ich frage mich, ob es ihr tatsächlich gelungen ist, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Auf ihrem Handy, in das ich per Hackerzugriff Einsicht habe, konnte ich keine Hinweise finden, die mir verraten hätten, wie nah sie dem Geheimnis ist. Um das herauszufinden, gibt es nur einen Weg. Ich muss zu Luise. Schließlich wird Zoe ihr ihr Anliegen vorgetragen haben. Alternativ könnte ich auch versuchen, an der Tür zu Dübels Privatzimmer zu lauschen, aber das ist mir doch etwas zu heikel.
Auf dem Weg zum Empfang blicke ich mich immer wieder um aus Sorge, dass Zoe plötzlich vor mir stehen könnte. Dabei müsste ich mir eigentlich keine Sorgen machen, denn sie hat keine Ahnung, wie ich aussehe. Als wir sie entführt haben, war sie betäubt. Sie kann unmöglich wissen, wie ich aussehe. Andererseits ist sie hier und könnte also doch wissen, wer ich bin, denn ich habe einen Fehler gemacht: Natalie.
Es wäre absolut denkbar, dass Natalie ihr erzählt hat, wer ich bin. Dem Bewegungsprofil ihres Handys nach zu urteilen, auf das ich jederzeit über meinen Laptop Zugriff habe, war Zoe bei Natalie, und sicher wäre es möglich, dass Natalie ihr ein Foto von mir gezeigt hat, da ich weiß, dass Natalie mich heimlich fotografiert hat. Ich fand das irgendwie süß und habe deswegen nichts gesagt. Welch dummer Fehler!
Nun muss ich vorsichtig sein, auch wenn es möglicherweise unbegründet ist. Aber wie heißt es so schön: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.
Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist, dass diese verwöhnte Göre meine Tarnung auffliegen lässt. Ich könnte natürlich die Einrichtung verlassen und meinen ursprünglichen Plan verfolgen, aber das möchte ich vermeiden. So nah wie jetzt werde ich Dübel so schnell nicht wieder kommen und ich bin fest entschlossen, ihn heute Abend zu töten.
Inzwischen bin ich im Empfangsbereich der Einrichtung angelangt.
»Hallo«, grüße ich Luise.
»Hallo. Was kann ich für dich tun?«, fragt sie.
»Nichts, alles gut. Hast du eine neue Kollegin?«
»Das wäre mir neu. Wen meinst du denn?«
»Du bist doch mit einer hübschen Blondine in Herrn Dübels Privatzimmer rein«, antworte ich und hoffe, dass Luise keinen Verdacht schöpft. Ich habe sie heute erst kennengelernt und einen positiven Eindruck von ihr. Sie wirkt freundlich und naiv, auf jeden Fall nicht misstrauisch oder indiskret, das könnte ich gerade gar nicht gebrauchen.
»Ach, du meinst Zoe. Sie ist Studentin und recherchiert für eine Hausarbeit, die sie schreibt.«
»Verstehe. Schön, dass sich Studenten mit uns Leuten von der Straße beschäftigen«, antworte ich und überlege, wie ich diese Auskunft zu werten habe. Schließlich weiß ich, dass Zoe nicht studiert, sondern ein Praktikum bei einer Zeitung absolviert. Und das heißt, dass sie Luise angelogen hat. Aber warum?
»Alles gut?«, fragt Luise, ihr ist anscheinend nicht entgangen, dass ich kurzzeitig in Gedanken versunken bin.
»Ja, bin nur etwas müde.«
»Schlecht geschlafen?«
»Ich durfte gestern noch nicht hier übernachten, weil nichts frei war, und du willst nicht wissen, wo ich geschlafen habe.«
Luise presste die Lippen zusammen. »Ab jetzt kann es nur besser werden. Karl meinte, dass du in unserem Programm aufgenommen wurdest. Das freut mich total für dich. Wenn du das durchziehst, steht dir die Welt offen, du wirst schon sehen.« Luise schenkt mir ihr Sonntagslächeln und ich muss gestehen, dass ich ihre Naivität in gewisser Weise bewundere. Dass sie mir nur etwas vorspielt und nett sein will, glaube ich nicht. Sie ist, wie sie ist. Und hässlich ist sie auch nicht.
Sicherlich eine Frau, die ich gerne vernaschen würde, aber ich habe große Zweifel, dass sie sich auf jemanden wie mich einlassen würde, muss sie doch annehmen, dass ich obdachlos, eine Versagerin bin. Ihr Aussehen, ihre Kleidung, einfach alles an ihr sagt mir, dass sie jemanden sucht, der ihr etwas bieten kann.
Am Ende ist dieser Gedanke völlig bedeutungslos, nach Natalie möchte ich nicht schon wieder eine Affäre starten.
Wofür auch?
Schon bald werde ich tot sein, soll ich da vorher noch einer das Herz brechen?
»Weißt du, ob Herr Dübel heute sehr beschäftigt ist?«, erkundige ich mich.
»Warum?«
»Ich würde gerne später ein Gespräch mit ihm führen, wegen dem allen hier. Das ist alles so neu für mich und ich möchte keine Fehler machen.«
»Das kann ich verstehen. Aber mach dir nicht so viele Gedanken, Karl ist sehr nett. Er wird dich unterstützen, wo immer er kann. Dass er dich in das Programm aufgenommen hat, ist Beweis genug, dass er an dich glaubt.«
»Das freut mich, danke. Aber irgendwie setzt mich das Ganze unter Druck, es wäre gut, noch mal mit ihm zu reden.«
»Er hat heute eigentlich frei und normalerweise nutzt er diese Zeit, um in seinem Privatzimmer zu meditieren und die Bibel zu studieren, aber ich kann ihn gerne fragen, ob er eine halbe Stunde für dich hat.«
»Nein, nein. Der Gute soll sich seine Zeit nehmen. Ich kann auch die Tage mit ihm sprechen.«
»Sicher?«
»Ja, ich dachte, er hätte Sprechstunde.«
»Die ist wieder am Dienstag, wobei er das auch nicht so eng sieht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er sich vor lauter Nächstenliebe selbst vernachlässigt.«
»Das ist auch nicht gut«, sage ich und in mir fängt es an zu brodeln. Dass Luise diesen Mistkerl derart über den grünen Klee lobt, nervt mich gewaltig, da ich weiß, wer er in Wirklichkeit ist. Der Teufel!
»Du hast recht.«
»Wir sehen uns«, sage ich und verabschiede mich, da ich erfahren habe, was es zu erfahren gibt.
Der Priester wird also aller Voraussicht nach sein Zimmer heute nicht verlassen, das gibt mir jede Menge Zeit, meinen Plan auszuführen. Ich beschließe, zurück ins Hotel zu gehen, um die Waffe zu holen, damit ich das Ganze noch heute beenden kann.
Vor dem Hotel sehe ich jemanden, den ich eigentlich gerade nicht sehen möchte.
»Hallo«, sage ich zu meinem Kumpel.
»Hallo«, sagt er. »Ich habe mir Gedanken gemacht. Wir müssen reden.«
»Nicht hier. Komm.«
Wir gehen auf mein Zimmer. Mir fällt auf, dass er eine Tüte in der Hand hält. Ich kann mir denken, worüber er mit mir sprechen möchte, aber meine Entscheidung steht und das muss er respektieren.
»Hör zu, wir haben das gestern Abend schon durchgekaut. Ich verstehe deine Sorgen, aber das ist der leichteste Weg. Dübel ist heute den ganzen Tag alleine in seinem Privatzimmer und ich habe Zugang dazu. Ich suche ihn unter einem Vorwand auf und erschieße ihn. So einfach.«
»Der Teufel liegt im Detail. Was, wenn du nervös wirst, was, wenn du ihn verfehlst oder Dübel nicht in seinem Zimmer ist und dein Plan auffliegt? Wir haben die Sache zusammen durchgezogen und wir sollten sie zusammen beenden.«
»Nein«, werde ich laut. »Ich werde sie beenden. Es ist meine Rache, nicht deine.« Ich sehe, dass ihn mein letzter Satz hart trifft, mit so einer Reaktion hat er wohl nicht gerechnet. So hart er aussehen mag, so weich ist er letztlich. Vor allem, was mich anbelangt. »Ich habe dir viel zu verdanken. Du hast mich aus diesem tiefen Loch geholt und mir Hoffnung gegeben. Ohne dich hätte ich das alles hier niemals gemacht, ich wäre an dem Schmerz kaputtgegangen. Das werde ich dir nie vergessen und es war mir eine große Ehre, diesen Weg mit dir gegangen zu sein. Aber bitte gestatte mir, diese letzten Meter alleine zu gehen.«
Er antwortet nicht, er reibt sich die Stirn. Seine Augen sind voller Sorge.
»Lass mich wenigstens mitkommen«, sagt, nein flüstert er beinahe. Dabei schaut er mich besorgt an.
»Sind da Kleider drin?«
»Ja, die habe ich heute Morgen einem Obdachlosen abgekauft. Der hat sich zwar gewundert, warum ich ihm einhundert Euro geboten habe, aber er kann ja nicht ahnen, dass ich am Ende den größeren Nutzen von dem Handel habe.« Er kramt ein T-Shirt und eine Hose aus der Tüte, vermutlich sind auch Schuhe noch darin. Wie ich ihn kenne, hat er einen Obdachlosen angesprochen, der seine Maße hat. In Köln leider kein Problem, so jemanden zu finden. Elend gibt es auch in den reichsten Städten der Welt. Der Reichtum ist ohnehin ungerecht verteilt, nur will niemand etwas dagegen tun. Marktwirtschaft nennt sich das dann.
»Es könnte verdächtig wirken, wenn du da plötzlich auftauchst.«
»Warum sollte es? Wir müssen ja nicht zusammen rein. Ich bin ein Penner, der dringend eine Unterkunft für die Nacht sucht. Bisschen Dreck unter die Fingernägel, ein paar Schlucke Bier und jeder wird mir das glauben.«
Ich atme ein und aus. Ich bewundere diesen selbstlosen Mann. Dass er so loyal zu mir steht und seine Ansprüche immer hintanstellt, ist bewundernswert. Das habe ich nicht verdient.
»Wenn etwas schiefläuft, sitzen wir in der Falle …«
»Genau deswegen muss ich dabei sein, willst du das denn nicht verstehen?«
Ärger huscht über mein Gesicht, mit diesem Satz habe ich mir keinen Gefallen getan, aber nun ist er in der Welt und ich kann mir eine neue Strategie ausdenken, um ihn dennoch von seinem Willen abzuhalten.
»Das meinte ich nicht. Aber wenn ich auffliege und gefasst werde, musst du den Priester töten, deswegen darfst du nicht mit.«
»Dazu wird es nicht kommen, wenn ich dabei bin. Ich stehe Schmiere vor der Tür. Es kann nichts passieren. Sieh endlich ein, dass mein Plan perfekt ist.«
Ich drücke Luft in meine linke Backe und lasse sie dann wie mit einem Maschinengewehr aus meinem Mund herausschießen. Das mache ich ab und an, wenn ich über etwas nachdenke.
»Gut, aber du wartest vor der Tür. Du kommst nicht rein, egal was geschieht.«
»Egal was geschieht? Was, wenn er dich überwältigt?«
»Dann vereinbaren wir ein Kennwort. ›Damian‹, wenn ich diesen Namen sage, kommst du rein, vorher nicht. Und noch eins. Ich werde einen Schalldämpfer benutzen, damit niemand etwas hören kann. Nachdem ich ihn getötet habe, klopfe ich dreimal an die Tür. Sobald du das hörst, verlässt du sofort das Gebäude. Du kommst nicht in das Zimmer. Es ist wichtig, dass wir getrennt das Gebäude verlassen. Hast du das verstanden?«
Er nickt und nun lächelt er, weil er mit meiner Antwort zufrieden ist. Ich bin auch zufrieden, weil wir so beide unseren Willen bekommen.
Was er nicht weiß, ist, dass ich nicht nur den Priester in seinem Privatzimmer töten werde, sondern auch mir das Leben nehmen werde. Damit endet dann meine Geschichte.
Ich hoffe, er macht keine Dummheiten und läuft wirklich weg.
»Wäre es nicht besser, wenn ich ihn wegschaffe?«
»Nein, keine Diskussion. Ich bin dir mehr entgegengekommen, als ich es mit meinem Gewissen vereinbaren kann«, drohe ich.
»Ist ja gut. Ich verlasse das Gebäude.«
»Kann ich mich darauf verlassen? Gib mir dein Ehrenwort.«
Mein Kumpel zögert, weil ich weiß, dass er sich an sein Ehrenwort halten wird. Er gehört zu den Menschen, denen ihr Wort noch etwas bedeutet.
Das ist leider etwas, was in der heutigen Zeit immer mehr in Vergessenheit gerät. Die Leute erzählen dir was vom Pferd, jeder lügt, will aber ein Ehrenmann sein. Die Gesellschaft ist voll von Heuchlern.
»Du hast mein Wort.«
»Danke. Du solltest jetzt gehen. Luise hat heute Schicht, sie wird dir einen Schlafplatz geben, heute ist die Situation entspannt. Sie ist sehr nett. Ich komme in zwei Stunden.«
»Gut«, nickt er. Dann schaut er mich seltsam an, sagt aber nichts und verlässt das Zimmer. Dennoch beschleicht mich ein komisches Gefühl: Abschied.
Ich fühle mich seltsam, als würde eine Leere von mir Besitz ergreifen, mein Handeln und mich selbst infrage stellen. Ich sehe graue, nein, tiefschwarze Wolken aufziehen und mir wird schwindelig.
Ich lege mich aufs Bett. Solche Anfälle bekomme ich ab und an, sie kommen wie aus dem Nichts, ich kann sie nicht kontrollieren, aber sie gehen wieder, wenn ich mich hinlege, die Augen schließe und versuche, an etwas Positives zu denken.
Doch diesmal ist es anders. Selbst als ich auf dem Bett liege, die Augen schließe und versuche, meine Gedanken auf etwas Schönes zu lenken, verschwinden sie nicht. Die Wolken werden immer dichter, sie kommen immer näher an mich heran. In den Wolken blitzt und donnert es. Ich bekomme keine Luft. Meine Hände, meine Stirn, mein ganzer Körper fangen an zu schwitzen.
Ich habe Angst, große Angst.
Dann öffne ich die Augen und will nicht glauben, was sie mir zeigen.
Ich bin auf einer Wiese und es ist das Jahr 1999, genauer gesagt der 20.6.1999. Der Tag, an dem die Hölle über mich hereinbrach.