39
»D
ie Kleine hat echt Mumm«, sagte Brandt, nachdem Zoe das Gebäude verlassen hatte. »Trotzdem müssen wir was unternehmen. Ich möchte nicht verantworten, dass wir irgendwann ihre Leiche identifizieren müssen.«
Aydin nickte nur.
Kurz darauf kam Luise zurück.
»Und, konnten Sie Herrn Dübel finden?«
»Ja, leider fühlt er sich nicht gut. Er möchte nicht gestört werden.«
»Verstehe. Er wird sicherlich in seinem Privatzimmer sein, richtig?«
»Genau. Wenn Sie mir Ihre Nummer geben, organisiere ich einen Termin für ein Gespräch.«
»Luise, das ist sehr freundlich von Ihnen, aber es führt kein Weg daran vorbei, dass wir jetzt mit Herrn Dübel sprechen. Wir ermitteln in einem Mordfall, da können wir keine Rücksicht auf das Befinden von Herrn Dübel nehmen«, wurde Brandt nun etwas deutlicher. Luises erschrockener Gesichtsausdruck entging ihm nicht. Sie schien mit so klaren Worten nicht gerechnet zu haben. »Wo befindet sich das private Zimmer von Herrn Dübel?«
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«
»Das hat nichts mit einer guten Idee zu tun. Wo finden wir das Zimmer?«
Luise schluckte und Brandt wusste, dass ihr Widerstand gebrochen war. Sie erklärte ihnen den Weg.
»Danke.«
Beide Beamten gingen schnellen Schrittes durch die Flure bis zu seinem Zimmer und nach kurzem Anklopfen traten sie ein.
»Was soll das?«, sagte Dübel unfreundlich. »Ich hatte doch gesagt, dass ich heute niemanden sprechen möchte.«
»Herr Dübel, es ist an der Zeit, dass wir ein ernstes Wort miteinander reden«, entgegnete Brandt, er ließ sich von Dübels abweisender Art nicht beeindrucken.
»Ich sagte doch, dass ich nichts weiß. Ich verstehe das alles nicht. Warum soll eine Hochzeit, die zwanzig Jahre zurückliegt, etwas mit den Morden an Politikern zu tun haben?«
»Was können Sie über dieses Foto sagen?«, fragte Aydin und reichte Dübel das Foto, auf dem er mit den drei toten Politikern zu sehen war.
»Worauf wollen Sie hinaus? Ich bin auf dem Foto zu sehen. Ja und? Das hat doch nichts zu bedeuten.«
»Schauen Sie es sich genau an. Erkennen Sie die drei anderen Männer?«
»Keine Ahnung. Nein.«
»Sie lügen und das sollten Sie schleunigst sein lassen, sonst führen wir das Gespräch auf dem Präsidium weiter. Bei unserem letzten Gespräch haben Sie uns erzählt, dass Sie Nils Holm nicht kennen würden. Auf dem Foto sieht man Sie aber mit Herrn Holm, sehr vertraut. Die anderen beiden Herren sind Klaus Lau und Alwin Vogel. Alle drei wurden ermordet. Bevor Sie wieder mit einer Lüge reagieren, überlegen Sie sich Ihre Antwort ganz genau. Man muss kein Hellseher sein, um darauf zu kommen, wer das nächste Opfer sein wird.«
»Wollen Sie mir sagen, dass mich jemand ermorden will?« Dübel wirkte erschrocken und Brandt war gewillt, ihm zu glauben, dass es nicht gespielt war. Aber konnte Dübel wirklich so naiv sein und meinen, dass er nicht in Gefahr war? Er wusste doch von den drei toten Politikern. Oder war er geschockt, weil er etwas mit den Morden zu tun hatte? Brandt würde die Wahrheit ergründen.
»Davon müssen wir ausgehen. In Ihrem eigenen Interesse sollten Sie uns deshalb erzählen, was auf der Hochzeit vorgefallen ist. Wir müssen herausfinden, wer Sie ermorden will.«
»Das ist doch lächerlich. Da ist nichts passiert. Ein Wahnsinniger, der Politiker hasst, hat die Morde begangen, das hat rein gar nichts mit der Hochzeit zu tun. Sie sind auf dem Holzweg«, entgegnete Dübel. Er schien sich wieder gefasst zu haben.
»Und was hat es mit dem blauen Fleck von Alwin Vogel auf sich? Das sieht nicht danach aus, als ob nichts gewesen wäre«, antwortete Aydin und reichte Dübel ein weiteres Foto. »Auf diesem Foto, das ebenfalls auf der Hochzeit aufgenommen wurde, sieht man den Fleck nämlich nicht.«
»Ich weiß es nicht«, wurde Dübel laut. »Sie jagen Gespenster.«
Brandt hatte sofort registriert, dass er sich das Foto nicht einmal angeschaut hatte. Ein eindeutiges Indiz dafür, dass er log.
»Wie lange wollen wir dieses Spiel noch spielen?«, drohte Brandt. »Es ist an diesem Tag etwas vorgefallen. Etwas, was vermutlich dazu geführt hat, dass ein Psychopath sich auf einem persönlichen Rachefeldzug befindet. Wir sind gerade dabei, alle Zeugen zu kontaktieren, und seien Sie sicher, einer von ihnen wird sich daran erinnern. Dann werden wir Ihnen gegenüber garantiert nicht mehr so freundlich auftreten.«
»Wenn Sie Ihre Freunde schützen wollen, weil Ihr Gewissen das von Ihnen verlangt, sollten Sie sich von dieser Verpflichtung entbunden fühlen. Ihre Freunde sind tot«, ergänzte Aydin. Vermutlich nahm Aydin an, dass Dübel schwieg, weil er Priester war.
»Freunde? Wir waren nie Freunde«, murmelte Dübel. Er wirkte angeschlagen und nachdenklich und je mehr er sich weigerte, mit der Wahrheit herauszurücken, desto verdächtiger machte er sich.
»Helfen Sie uns bitte und erzählen Sie uns, was an diesem Tag geschehen ist. Wo die Verletzung an der Wange von Alwin Vogel herrührt«, bat Aydin, der sich betont mitfühlender gab als Brandt. Diese Good-cop-bad-cop-Geschichte funktionierte mit ihm hervorragend, weil sie ihre Rollen nicht spielen mussten. Aydin war einfach der Verständnisvollere und Empathischere von ihnen.
»Wir haben zu viel getrunken, viel zu viel …«, begann Dübel. Brandt war geneigt, zu glauben, dass sie ihn endlich so weit hatten. »Nach der Trauung wollte ich nach Hause, aber Jule, die Braut, bat mich, bei der Feier dabei zu bleiben. Ich kenne sie, seit wir Kinder sind. Wie hätte ich ihr diese Bitte abschlagen können?« Dübel setzte sich, während die beiden Beamten noch standen. Dann rieb er sich mit der rechten Hand über die Stirn. »Manchmal sollte man auf sein Bauchgefühl hören.«
Wieder hielt er inne. Aydin warf Brandt einen Blick zu und er wusste, was sein jüngerer Partner dachte. Dübel würde endlich auspacken, sie durften ihn jetzt nicht unterbrechen.
»Ich bin doch Priester geworden, weil ich den Menschen helfen und ihnen den Glauben näherbringen wollte. Die Menschheit wird immer kälter, egoistischer und ich dachte, das Wort Gottes könnte Wärme spenden. Was für ein naiver Idiot ich war. Ein Mensch bleibt ein Mensch, egal welche Robe er trägt.«
Seine Augen wurden feucht und erste Tränen flossen seine linke Wange herunter. Er wischte sie weg. Dann schaute er zu Brandt, schließlich zu Aydin und wieder zu Brandt.
»Sie können das vermutlich nicht verstehen, aber der da, der schon. Er ist noch nicht verdorben.«
Fast wäre Brandt eine Bemerkung herausgerutscht, aber er konnte sich gerade noch bremsen. Obwohl er sich nicht für jemanden hielt, der jedes Wort auf die Goldwaage legte oder sich schnell angegriffen fühlte, kratzte dieser Satz schon an seinem Ego, denn er fand, dass er selbst auch das Herz am rechten Fleck trug. Schließlich war er zur Polizei gegangen, weil er dem naiven Glauben erlegen war, dass er die Welt als Polizist ein Stück besser, sicherer machen könnte. Dass er den kleinen, aber feinen Unterschied zwischen Recht und Unrecht schützen würde. Bestimmt war er nicht so empathisch und nachsichtig wie Aydin, aber machte ihn das gleich zu einem schlechteren Menschen? Wenn einer seiner Freunde, wie Aydin oder Walter, seiner Hilfe bedürften, würde er sie ohne zu zögern und bedingungslos unterstützen.
»Stört es Sie, wenn ich etwas trinke?«, fragte Dübel und schaute zu Brandt. »Mein Hals ist so trocken.«
»Nein, trinken Sie ruhig.«
Brandt hoffte, dass Dübel hier nicht bloß eine Show abzog, um Zeit zu schinden oder sich eine Geschichte auszudenken.
Der Priester nahm eine kleine Cola-Flasche, öffnete sie und trank den Inhalt in einem Zug aus.
»Das war nötig.« Er wischte sich mit der Hand über die Lippen, dann schloss er die Augen. »Das alles liegt so lange zurück. Ich hatte gehofft, dass die Zeit die Erinnerungen tilgen würde. Als könnte die Zeit wirklich irgendetwas löschen.«
Wieder fuhr er sich mit der rechten Hand über die Lippen. Seine Augen wirkten seltsam geweitet, als hätte er sich mental zurück in die Vergangenheit begeben, als wäre er gerade an dem Ort des Geschehens. Dennoch verlor Brandt so langsam die Geduld mit ihm. Bisher hatte Dübel nur irgendwelche nebulösen Andeutungen gemacht, es wurde Zeit, dass er zum Wesentlichen kam.
»Soweit ich mich zurückerinnere, war die Hochzeit schön. Ich wusste, dass an dem Tag zwei Menschen zueinanderfanden, deren Liebe für immer Bestand haben würde. Kai und Jule waren füreinander bestimmt. Gott hatte sie füreinander bestimmt, davon war und bin ich noch immer überzeugt. Ich muss Jule unbedingt wieder kontaktieren und sie fragen, wie ihr Leben in den letzten Jahren verlaufen ist. Manchmal schäme ich mich für meinen Berufsstand. Ich glaube, ich bin kein guter Priester.«
Dübel atmete hörbar ein und aus und Brandt überlegte kurz, ob er ihm verraten sollte, dass Jule Kruse Opfer eines brutalen Mordes geworden war. Vielleicht half das, dass Dübel endlich mit der Wahrheit herausrückte, weil seine Gewissensbisse damit größer würden, doch er entschied sich vorerst dagegen.
»Das weitaus Beschämendere ist, dass mein Berufsstand voll von schwarzen Schafen ist. Es tut mir so leid um all die, die ihr Leben wirklich Gott gewidmet haben, die ihr Zölibat ernstnehmen und all ihre Energie dort hineinsetzen, die Welt ein Stück besser, gerechter zu machen. Ich habe diesen Anspruch an dem Tag der Hochzeit verloren. Verloren, weil ich weggeschaut habe, das Offensichtliche weder sehen, noch akzeptieren wollte.«
Dübel hielt wieder inne. Sein Blick wanderte zum Tisch, dann zum Fenster. Das Tageslicht von draußen erhellte den Raum nur spärlich. Es war ein bescheidenes Zimmer, zumindest befand sich nichts darin, was darauf schließen ließ, dass hier jemand wohnte, dem Luxus wichtig war.
»Wobei haben Sie weggeschaut?«, fragte Brandt. Es war eine für seinen Geschmack zu große Pause eingetreten und er wollte das Gespräch allmählich in die richtige Richtung lenken und straffen.
»Als es geschah. Die Jungs und ich haben uns etwas von den Hochzeitsgästen entfernt. Wir haben Fußball auf der Wiese gespielt …«
In diesem Moment wurde plötzlich die Tür aufgerissen und Zoe stürmte ins Zimmer. Sie lief zu Brandt und rief hektisch: »Er ist hier.«
»Wer?«
»Der Mörder von Papa.«