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N ARBEN!
Narben, so viele Narben.
Narben, die man nicht sieht.
Narben, die noch immer schmerzen.
Narben, die niemals verschwinden werden.
So sehr ich mir wünsche, dass es nicht so wäre, so sehr ich mich bemüht habe, zu vergessen, sie bleiben da. Obwohl ich versucht habe, der Hoffnung, dem Leben eine zweite, dritte und vierte Chance zu geben, weiß ich, wie aussichtslos meine Situation ist, weil ich immer ein Opfer bleiben werde. Ein Opfer meiner Vergangenheit.
Es ist eine Lüge, zu glauben, ich wäre über den Berg, ich wäre ein besserer Mensch geworden. Nein, ich bin noch immer dieselbe Person, deren Leben vor zwanzig Jahren ausgelöscht wurde, auf eine solch brutale Weise, die kein Mensch verdient. Ich war noch ein Kind. Ein Kind voller Hoffnung und Freude am Leben, auch wenn mir das Leben nicht die besten Voraussetzungen mit auf den Weg gegeben hatte, mochte ich mein Leben.
Bis zu diesem Tag!
Ich weiß nicht, wie andere Menschen mit derartigen Schicksalsschlägen fertig werden. Vielleicht bin ich nie die starke Person gewesen, für die man mich hielt oder für die ich mich selbst gerne halten würde, jedenfalls hatte ich vorhin wieder einen Flashback. Wie aus dem Nichts war die Erinnerung da und ich wurde wie in einer Zeitmaschine an den Ort dieses schrecklichen Ereignisses gebeamt.
Mein Körper hat geschwitzt und gezittert, ich war machtlos dagegen und musste alles erneut erleben, all diesen Schmerz. Selbst als es vorbei war, bin ich noch minutenlang regungslos auf dem Bett liegengeblieben, bis ich ruhiger wurde.
Am liebsten würde ich mich abduschen, weil ich mich so schmutzig und wertlos fühle, aber das werde ich nicht tun. Mit Absicht. Immerhin bin ich eine Obdachlose und Obdachlose müffeln, sie riechen nicht nach Seife oder Parfüm.
Einen Moment lang starre ich noch an die Decke, bis sich ein Gedanke in meinem Kopf formt, ein innerer Drang. Ich kann keine Sekunde länger im Zimmer bleiben, ich muss zurück zur Obdachloseneinrichtung, um diesen verdammten Priester zu töten, damit ich endlich meinen Frieden habe. Obwohl ich ja eigentlich noch warten müsste, aber wofür?
Ich stehe von meinem Bett auf, gehe zum Safe, öffne ihn und nehme die Waffe heraus. Sie ist geladen.
»Noch zwei Mal«, sage ich, als ich die Waffe in den Hosenbund stecke und den dreckigen, löchrigen Pullover darüber fallen lasse. Dann betrachte ich mich im Spiegel und nicke zufrieden. Man erkennt nicht, dass ich eine Waffe bei mir trage. Mein restlicher Anblick gefällt mir nicht. Ich sehe müde aus, meine Augen strahlen eine Melancholie aus, die annehmen lässt, ich wäre depressiv. Meine Haut wirkt blass, dabei bin ich eher der gebräunte Typ.
Meine Gedanken schweifen ab, zu Natalie. Ich ertappe mich bei dem naiven Gedankenspiel, wie mein Leben verlaufen würde, wenn ich dieser Liebe eine Chance gegeben hätte. Natalie kommt aus einem guten Elternhaus, wenn wir geheiratet hätten, hätte ich vermutlich finanziell ausgesorgt.
Heiraten? Die Vorstellung bringt mich unweigerlich zum Schmunzeln. Öfter als ich mir eingestehen will, bin ich mir selbst ein Rätsel.
Ich packe ein paar Sachen, die ich gestern Abend gekauft habe, in eine Tüte. Markus hat mir dreißig Euro gegeben, damit ich ein paar Kleider und Hygieneartikel kaufen kann.
»Damit du siehst, dass es der Kirche ernst ist, dass du ein neues, ein besseres Leben beginnen kannst«, hat er gesagt, dabei hat er gelacht und mich berührt, für meinen Geschmack etwas zu lange. Ich glaube, Markus ist ein notgeiler Kirchenmensch, der die ausweglose Situation der Obdachlosen ausnutzt. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, an wem er sich schon alles vergangen hat, und am liebsten hätte ich ihm die Faust zwischen die Zähne geschoben, aber ich habe mich beherrscht, für die größere Sache, so groß der Ekel und die Wut auch waren.
Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich tatsächlich glauben, dass ich obdachlos bin. Meine Kleidung, mein Aussehen und der müde Blick sind sehr authentisch. Meine Augen spiegeln mein Seelenleben.
Bevor die Schwermut mich wieder überkommt, setze ich mich an den Laptop. Da heute vermutlich der Tag ist, an dem ich sterben werde, muss ich ein paar Vorbereitungen treffen.
Endlich bin ich fertig. Jetzt ist Zeit für die Rache!
Ich verlasse das Hotel und gehe zur Obdachloseneinrichtung.
So in Gedanken renne ich kurz vor dem Ziel fast einen jungen Mann um.
»Sorry«, sage ich und greife nach seiner Hand. Noch rechtzeitig, bevor er stürzen kann.
»Nicht schlimm. Hauptsache, meiner Gitarre ist nichts passiert«, antwortet der junge Mann, der deutlich kleiner ist als ich, mit einer so sanftmütigen Stimme, dass es mir noch mehr leidtut, dass ich ihn umgerannt habe.
»Bist du Musiker?«, frage ich und schaue ihn an. Er hat etwas Friedliches an sich, gleichzeitig wirken seine Augen traurig und dennoch voller Güte. Mir ist seltsam zumute. Etwas löst der junge Mann in mir aus, das ich nicht erklären kann. Es ist ein angenehmes Gefühl.
»Musik ist mein Leben«, antwortet er. Ich sehe ihn aufmerksam an. Habe ich vorhin noch geglaubt, dass meine Augen melancholisch aussehen, bekomme ich jetzt fast Mitleid mit ihm. Es ist eigenartig, aber es wirkt, als würde er die Last der Welt auf seinen Schultern tragen, das meine ich in seinen Augen zu erkennen.
»Was ist das?«, frage ich und deute auf eine Narbe, die oberhalb seiner Schulter unter dem durch den Sturz verrutschten T-Shirt zu sehen ist. Vermutlich läuft sie den ganzen Rücken herunter.
»Eine Erinnerung daran, dass nicht alle Menschen mit ihrem Herzen sehen.« Er schaut mich an. Seine Augen wirken wie ein Wahrheitsserum, als würde er tief in mein Inneres schauen. »Du verstehst mich.« Er lächelt.
Ich bin zu keiner Regung fähig, doch dann berührt er meine Schulter und sagt: »So unglaublich es klingen mag, aber die Liebe ist für jeden Menschen da, auch für Menschen wie dich und mich. Wir dürfen nur nie aufhören, an sie zu glauben, so ausweglos alles manchmal auch scheinen mag.«
Noch immer kann ich mich nicht bewegen. Wer ist dieser junge Straßenmusiker, dass er es mit diesen wenigen Worten schafft, mich komplett aus der Bahn zu werfen, dass ich mich wie ein Schulmädchen fühle, das am liebsten vor lauter Verzweiflung in Tränen ausbrechen möchte?
»Wer bist du?«, bringe ich hervor.
»Nur ein Straßenmusiker, der nicht glauben mag, dass die Welt bloß noch schlecht ist. Pass auf dich auf. Und vertraue der Liebe mehr als der Wut. Wir alle tragen Narben, mit denen wir leben müssen. Ich sehe deine Narben.«
Narben? , denke ich und muss schlucken.
Dann geht er.
Ich weiß nicht, was eben geschehen ist. Als ich mich wieder gefasst habe, drehe ich mich um und will ihm etwas hinterherrufen, will seinen Namen wissen, aber ich sehe ihn nicht mehr.
Habe ich mir das gerade alles eingebildet? Werde ich langsam verrückt? Ich will es nicht ausschließen.
»Warten Sie«, spreche ich einen Mann an, der an mir vorbeigeht, um das Gebäude zu betreten.
»Was ist los?«, fragt mich der Obdachlose. Er scheint betrunken zu sein.
»Hast du hier vorhin einen jungen Straßenmusiker gesehen?«
»Meinst du den mit der Gitarre?«
»Ja, genau.«
»Der hat vorhin auf der Domplatte gespielt. Ich mag ein Alkoholiker sein und nicht viel von Musik verstehen, aber glaub mir, nie habe ich einer schöneren Stimme gelauscht. War er hier?«
»Ja, aber er ist wieder weg.«
»Schade, ich hätte mich zu gerne bei ihm für seine Musik bedankt.« Der Mann wartet meine Antwort nicht ab und betritt das Gebäude. Etwas irritiert und sprachlos bleibe ich zurück.
Wie soll ich dieses Erlebnis bloß einschätzen? War das eine Botschaft des Schicksals, dass ich mein Vorhaben abblasen und Natalie kontaktieren soll, damit wir ein Paar werden? Gibt es wirklich Hoffnung, für eine verlorene Seele wie mich?
NEIN!
Ich betrete das Gebäude.
»Hallo«, grüßt mich Luise in ihrer gewohnt charmant naiven Art.
»Hallo. Ich bin wieder zurück«, sage ich freundlich, aber meine Gedanken wollen einfach nicht von diesem jungen Straßenmusiker weichen, dessen Worte mir plötzlich schwer wie Blei, gleichzeitig aber leicht wie eine Feder vorkommen. Ich kann es nicht erklären, so ein Gefühl hatte ich noch nie.
Fast möchte ich weinen und Luise die Wahrheit über mich verraten. Was für ein Fehler das wäre, ist mir glücklicherweise sofort bewusst.
»Schön. Dein Zimmer ist bezugsfertig. Du bist schon sehr privilegiert.«
»Inwiefern?«, frage ich und überlege, ob Luise weiß, was sie da sagt. Menschen, die diese Einrichtung aufsuchen, sind alles, aber sicherlich nicht privilegiert.
»Na, du bist in diesem Programm und hast dein eigenes Zimmer. Was meinst du, was viele der Leute, die hier übernachten, dafür geben würden.«
Ich antworte nicht darauf, weil es mein Bild von Luise nur bestätigt, sie ist zu blauäugig. Ich glaube eher, dass die meisten hier gar kein anderes Leben mehr leben können. Sie sind nur noch wandelnde, leere Hüllen, Zombies. Aber die Gesellschaft meint, sie retten zu müssen. Vielleicht sollte man sie einmal fragen, ob sie überhaupt gerettet werden wollen.
Trotzdem nicke ich zufrieden. Nicht wegen Luise, sondern weil ich langsam wieder Herr meiner Sinne werde, der Einfluss der Worte des Straßenmusikers nimmt ab.
»Ist die Studentin noch bei Herrn Dübel?«
»Nein, aber hier geht es gerade drunter und drüber.«
»Wieso?«, hake ich nach und erkenne erst jetzt, dass Luise tatsächlich durch den Wind ist. Was kann nur vorgefallen sein, dass sie derart neben der Spur ist? Ich weiß nicht warum, aber plötzlich mache ich mir Sorgen, dabei hat sie nicht einmal erwähnt, warum sie so nervös wirkt.
»Die Polizei war hier und wollte mit Karl sprechen, oder besser gesagt, hat mit ihm gesprochen …«
»Die Polizei? Was möchte die denn von einem so ehrenwerten Mann wie unserem Priester?«
»Das weiß ich nicht. Das ging halt drunter und drüber und dann kam auch noch die Studentin wie von der Tarantel gestochen reingelaufen. Am Ende sind alle mit den beiden Beamten weggefahren.«
»Alle?« Ich verstehe gerade gar nichts mehr, aber was sie sagt, verunsichert mich zutiefst. Wird mein gesamter Plan jetzt nach hinten losgehen?
»Ja, die beiden Polizisten, die Studentin, Karl und noch einer.«
»Einer?«
»Andreas, der hat sich erst heute hier gemeldet, er suchte einen Schlafplatz. Der wurde in Handschellen abgeführt! Ich weiß gar nicht, ob ich dir das sagen darf.«
»Alles gut, Luise. Ich schweige wie ein Grab. Wie sah denn dieser Andreas aus?«, frage ich und versuche, sie mit sanfter Stimme zu beruhigen, dabei wird meine Sorge immer größer und Panik macht sich breit, aber ich weiß, dass ich ruhig bleiben muss. Noch ist es denkbar, dass Andreas nicht mein Kumpel ist. Wie dumm von mir, dass ich ihn nicht gefragt habe, unter welchem Namen er sich Zugang zur Obdachloseneinrichtung verschaffen wollte.
»Groß, etwas kräftiger und am rechten Arm hat er einige Tattoos.«
»Verstehe. Weißt du denn, warum man ihn verhaftet hat?«, bohre ich weiter nach. Mein Herz rast, weil ich nun die Bestätigung habe, dass es mein guter, loyaler Freund ist, den man verhaftet hat. Ob er versucht hat, den Priester zu töten? Ich hoffe nicht, das wäre gegen die Abmachung, aber warum sonst sollte man ihn verhaftet haben?
»Leider nicht, ich war ja die ganze Zeit hier. Karl meinte nur, ich solle mir keine Sorgen machen, er wäre bald wieder zurück.«
»Verstehe«, nicke ich, aber in Wirklichkeit verstehe ich gar nichts, doch dann, fällt der Groschen.
Zoe!
Sie muss etwas herausgefunden haben. Die Verbindung zwischen meinem Freund und diesem verdammten Priester. Die Polizei muss ebenfalls etwas wissen, warum sonst sollten Zoe und die Bullen hier sein? Ob Zoe ihnen einen Tipp gegeben hat? Ob sie sich doch an Einzelheiten der Entführung erinnert, weil die Betäubung nicht so gewirkt hat, wie erhofft? Hätte ich Zoe also doch töten sollen, wie mein Kumpel es vorgeschlagen, nein gefordert hat?
Nein! Ich töte keine Unschuldigen. Meine Rache, meine Morde sind moralisch gerechtfertigt.
Auge um Auge!
»Vielleicht sollte ich zur Polizei gehen wegen Herrn Dübel. Ich melde mich bei dir, sobald ich mehr weiß. Halt du hier die Stellung und zu keinem ein Wort.«
»Mach ich. Das ist sehr lieb von dir. Glaubst du, Karl ist in Schwierigkeiten?«
»Nein, warum sollte er? Bestimmt ist alles ein Missverständnis. Und dass ich helfe, ist doch selbstverständlich. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Herr Dübel hat mir immerhin ein neues, ein besseres Leben in Aussicht gestellt.«
Luise ringt sich ein verkrampftes Lächeln ab. Ich verlasse das Gebäude und eile zur Tiefgarage, wo ich mein Auto geparkt habe.
Danach fahre ich zum Kölner Polizeipräsidium nach Kalk.
Am liebsten würde ich das Gebäude stürmen, aber das wäre sehr töricht. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu warten, bis mein Kumpel oder der Priester das Präsidium verlassen.
Die Waffe ist in meiner Hand, geladen und entsichert.