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»G laubst du, das ist unser Mann?«, fragte Aydin. Er war mit Brandt auf dem Weg zum Verhörraum.
»Das wäre gut – in unser aller Interesse.«
»Seit wann redest du denn so hochgestochen?«
»Was ist daran denn hochgestochen?« Brandt schüttelte den Kopf. Im Gegensatz zu Kramer war er ja wohl kein Mensch, der besonders gewählt sprach oder viele Fremdwörter benutzte, um andere damit zu beeindrucken oder sich von der Masse abzuheben. Er sah sich als durchschnittlichen Menschen und an dieser Einstellung wollte er auch nichts ändern. Natürlich hatte er ein paar Macken und Ansichten, die mancher vielleicht nicht so toll fand, aber damit konnte er sehr gut leben.
Sie betraten den Verhörraum. Der Verdächtige saß hinter einem Tisch. Ein Beamter beaufsichtigte ihn, verließ aber das Zimmer, als die Kommissare eintraten.
»Guten Tag. Wir haben Ihnen Kaffee mitgebracht«, sagte Aydin und reichte dem Mann einen Becher.
»Danke«, antwortete der und nahm ihn entgegen.
»Möchten Sie Milch und Zucker?«
»Nein, passt schon.«
Dafür, dass sie den Mann eben verhaftet hatten, wirkte er seltsam freundlich und ruhig, als hätten sie sich zu einer Tasse Kaffee verabredet.
Brandt und Aydin hatten ebenfalls ihre Becher in der Hand und nahmen ihm gegenüber Platz.
»Herr Stauch, bevor wir das Gespräch beginnen, ein paar Hinweise. Unsere Unterhaltung wird aufgezeichnet.«
»Ich habe nichts zu verbergen«, antwortete Stauch und gönnte sich einen Schluck Kaffee. »In welcher Angelegenheit genau werde ich denn verdächtigt?«
»Sie werden verdächtigt, Zoe Lau entführt sowie die Politiker Nils Holm, Klaus Lau und Alwin Vogel ermordet zu haben«, erklärte Aydin.
Stauch hörte aufmerksam zu, Brandt versuchte, seine Körpersprache zu lesen, aber ihr Gegenüber war noch immer sehr ruhig, als könnten die Anschuldigungen ihm nichts anhaben.
War er vielleicht unschuldig oder nur sehr abgebrüht? Brandt traute ihm Letzteres ohne Weiteres zu, immerhin hatte er drei Menschenleben auf dem Gewissen, da musste man schon mehr als abgebrüht sein.
»Ich glaube, es handelt sich hier um ein großes Missverständnis.«
»Dann klären Sie uns doch bitte auf. Vor allem würde uns interessieren, warum Sie sich mit falscher Identität Zutritt zur Obdachloseneinrichtung verschafft haben«, entgegnete Brandt, zwar noch in freundlichem Ton, dennoch mit Nachdruck.
»Ich bin Künstler. Ich lebe seit dreißig Jahren mehr oder weniger auf der Straße. Wenn es gut läuft, habe ich auch mal eine feste Unterkunft, aber dieses Jahr war nicht so dolle.«
»Unter falscher Identität?«, beharrte Brandt.
»Mehr oder weniger. Kaum jemand auf der Straße verrät seinen echten Namen, viele wollen ihn auch gar nicht mehr wissen, weil er sie an ein Leben erinnert, das ihnen nicht mehr gehört.«
»Was für ein Künstler sind Sie denn?«, fragte Aydin.
»Ich mache Pantomime, man kann mich auch als Clown buchen.«
»Und das reicht nicht, um eine Wohnung zu mieten?«
»Leider nicht immer, ich hatte ja eben ausgeführt, dass dieses Jahr ein sehr schweres Jahr war. Vermieter wollen nun mal solvente Mieter, ohne Gehaltsnachweis bekommen Sie heute nirgends mehr eine bezahlbare Wohnung. Der Markt ist hart umkämpft. Aber ich will nicht jammern. Wie kommen Sie darauf, dass ich ein Mörder bin? Mein Leben lang habe ich versucht, Menschen, vor allem Kinder, glücklich zu machen. Ich trage keinen Hass in meinem Herzen, lassen Sie sich nicht von meinen Tattoos täuschen.«
»Und warum haben Sie dann diese bezeichnenden Tattoos?«, fragte Brandt. Der Verdächtige hatte sich Totenköpfe, Teufel und andere nicht wirklich friedliche Symbole auf den Arm tätowieren lassen.
»Jugendsünden. Ich war orientierungslos. Meine Eltern sind früh gestorben und ich habe lernen müssen, alleine zurechtzukommen. Leider leben wir in einer Welt, in der das Äußere mehr zählt als das Innere. Menschen werden danach beurteilt, wie sie aussehen, was sie verdienen und welche Herkunft sie haben. Straßenkünstler wie ich haben keine Stimme. Es ist für alle ein Leichtes, gerade mich als Mörder auszuwählen.«
Brandt musste an Walter denken. Der Imbissbudenbesitzer hatte eine ähnliche Statur, war ebenfalls mit Tattoos übersät und wenn man ihn nicht kannte, konnte man meinen, es wäre besser, ihm nachts nicht über den Weg zu laufen. Dabei war er der herzlichste und selbstloseste Mensch, den Brandt kannte.
War dieser Straßenkünstler auch so jemand? Brandt wusste es nicht, aber Zoe hatte sich an sein Tattoo erinnert. Das war mehr als nur ein geringer Verdacht. Aber sie hatten an den Tatorten keine Spuren oder Hinweise gefunden, die Stauch belasteten, bisher hatten sie nur die Aussage von Zoe, und Brandt wusste, dass dies allein nicht ausreichen würde, um den Mann zu verhaften. Bevor sie Stauch verhört hatten, hatten er und Aydin sich bei Fischer noch einmal die Kameraaufzeichnung vom Wohnhaus der Laus angeschaut, aber was man dort erkannte, reichte nicht, um darauf zu schließen, dass die Person auf der Aufzeichnung Stauch war.
»Wissen Sie, was ich glaube?«, beschloss Brandt, etwas zu riskieren. Er wusste, dass dieses Manöver nicht ohne Risiko war, weil vieles von dem, was er sagen wollte, nur eine Annahme war, aber ihm blieb keine andere Wahl. »Sie waren nicht zufällig in dieser Einrichtung. Karl Dübel, der Priester, und die drei Politiker haben Sie vor zwanzig Jahren auf einer Hochzeit in Köln Porz schwer misshandelt. Vermutlich in alkoholisiertem Zustand. Bis heute haben Sie dieses Trauma nicht überwunden und irgendwann haben Sie entschieden, sich dafür zu rächen.«
»Hören Sie, ich verstehe, dass Sie nur Ihre Arbeit machen, aber glauben Sie im Ernst, dass ich mich so einfach hätte verhaften lassen, wenn ich Dreck am Stecken hätte? Ich hätte weglaufen können. Und warum sollte ich in einer Obdachlosenunterkunft Unterschlupf suchen, wo man mich eher finden kann als unter irgendeiner Brücke, das ist doch viel zu gefährlich. Hätte ich nicht eher dem Priester irgendwo aufgelauert?« Der Straßenkünstler war noch immer sehr ruhig, seine Miene hatte nichts Verräterisches.
Aydin nickte. Brandt wusste nicht, ob das ein Reflex war oder ob sein Kollege ihm zustimmte. Was Stauch sagte, klang auf jeden Fall plausibel. Als Zoe in Dübels Zimmer hereingeplatzt war und erzählt hatte, dass ihr Entführer sich in der Einrichtung befinde, waren sie sofort mit ihr hinausgelaufen und hatten Stauch kurz darauf in der Nähe des Empfangs gesehen. In dem Moment hätte dieser weglaufen können, er hatte es aber nicht getan. Er war stehengeblieben und hatte sich ohne Gegenwehr verhaften lassen. Handelte so jemand, der drei Menschenleben auf dem Gewissen hatte und gerade aufflog? Brandt war unsicher. Momentan hielt er beides für möglich. Vielleicht taten sie Stauch unrecht, vielleicht verstand er es aber auch nur hervorragend, ihnen etwas vorzuspielen.
Nach dem Gespräch mit Stauch würden sie ohnehin noch einmal mit Zoe und Dübel sprechen. Der Priester hatte sich auf dem Weg zum Präsidium ungewöhnlich ruhig verhalten, was Brandt nicht entgangen war. Zoe war in ihrem eigenen Auto hinterhergefahren. Beide warteten jetzt getrennt in zwei Räumen auf das Gespräch mit den beiden Beamten.
Plötzlich hatte Brandt eine Idee und er ärgerte sich, warum er nicht schon vorher darauf gekommen war.
»Waren Sie vor zwanzig Jahren auf besagter Hochzeit von Kai und Jule Kruse in Köln Porz?«
»Nein, warum sollte ich?«, antwortete Stauch, ohne zu zögern, aber diesmal glaubte Brandt, etwas gesehen zu haben. Sein linkes Augenlid hatte für den Bruchteil einer Sekunde gezittert.
»Komm«, sagte er zu Aydin und dann wieder an Stauch gewandt: »Wir müssen Sie noch eine Weile hierbehalten. Wenn Sie etwas zu essen oder zu trinken möchten, teilen Sie es bitte unserem Kollegen mit, der kümmert sich um alles.«
Draußen bat Brandt den Kollegen, der vor der Tür wartete, weiter bei dem Verdächtigen zu bleiben.
»Was ist los?«, fragte ein sichtlich irritierter Aydin auf dem Gang.
»Was wärst du ohne mich?«, zwinkerte Brandt ihm zu. »Er sagt doch, dass er als Clown oder Pantomime arbeitet. Was, wenn er damals für die Hochzeit gebucht wurde?«
»Also glaubst du, er hat die Politiker auf dem Gewissen?«
»Ich weiß es nicht. Er behauptet ja, nicht da gewesen zu sein. Wenn wir aber auf den Fotos einen Clown oder Pantomimen finden, wissen wir, dass er lügt.«
Aydin nickte. »Manchmal bist du gut.«
»Manchmal? Immer!«
Sie eilten zu Fischer und baten ihn, die vorhandenen Fotos von der Hochzeit zu durchsuchen. Der machte sich gleich an die Arbeit und versprach, sich zu melden, sobald er ein Ergebnis hätte. Danach gingen sie in den Raum, in dem Zoe wartete.
»Wieso muss ich hier rumsitzen? Ich will nach Hause«, empfing sie die beiden Beamten sichtlich genervt.
»Augenscheinlich ist Ihnen der Ernst der Lage noch immer nicht bewusst. Aufgrund Ihrer Aussage haben wir einen Mann verhaftet, den wir verdächtigen, drei Männer ermordet zu haben.«
»Und was hat das damit zu tun, dass man mich hier so lange festhält?«
»Frau Lau, werden Sie unter Eid aussagen, dass der Mann, den wir verhaftet haben, auch wirklich die Person ist, die Sie entführt hat?«, fragte Aydin.
»Ich habe das Tattoo erkannt.«
»Nur das Tattoo?«
»Das reicht doch?«
»Das reicht nicht. Haben Sie es tatsächlich erkannt und sind Sie sicher, dass er der Täter ist? Ihre Aussage kann darüber entscheiden, ob ein Unschuldiger ins Gefängnis wandert oder nicht.«
»Ich wurde betäubt und der Entführer war vermummt, aber an dieses Tattoo erinnere ich mich.«
»Gut, Sie können nach Hause gehen. Aber Sie sollten in der nächsten Zeit keine Reisen unternehmen, es ist sehr gut möglich, dass wir bald wieder auf Sie zurückkommen. Und keine eigenständigen Ermittlungen mehr, sonst müssen wir Maßnahmen ergreifen, die sicherlich nicht in Ihrem Sinne sind.«
»Nur wegen meiner Hilfe haben Sie überhaupt den Mörder meines Vaters gefunden. Das ist mein Verdienst«, wurde Zoe laut und stand auf. Sie wartete gar nicht erst eine Reaktion der Beamten ab, ehe sie den Raum verließ.
»Das reicht nicht«, sagte Aydin. »Was ist mit Zoe? Sollen wir sie aufhalten?«
»Ich weiß. Wir müssen auf Fischer hoffen. Komm, vielleicht kriegen wir aus dem Priester noch was heraus. Lass sie gehen. Wir haben jetzt andere Sorgen.«
Aydin nickte und sie gingen in den Nebenraum, wo der Priester wartete.
»Hallo«, grüßte Aydin.
»Hallo. Ich hoffe, Sie können mich endlich aufklären. Ich weiß gerade gar nicht mehr, was genau geschehen ist. Haben wir aus Versehen einem Mörder Unterschlupf geboten?«
Dübel wirkte verunsichert und nervös, seine Blicke wanderten zwischen Brandt und Aydin hin und her.
»Sagt Ihnen der Name Josef Stauch etwas?«, fragte Brandt, während er gegenüber von Dübel Platz nahm.
»Nein, sollte er? Heißt der Mann, den Sie gefangen haben, so?«
»Ja, versuchen Sie sich bitte zu erinnern.«
»Tut mir leid, aber woher soll ich ihn kennen?«
»Können Sie nachvollziehen, ob auf der Hochzeit ein Clown oder ein Pantomime beschäftigt war?«, fragte Brandt.
»Nein, ich glaube nicht. Wollen Sie mir nicht endlich verraten, was hier los ist?«
»Wir halten es für keinen Zufall, dass die drei ermordeten Männer und Sie auf der Hochzeit waren.«
»Ich? Verdächtigen Sie mich etwa?« Dübel machte große Augen, sein Mund schien wie ausgetrocknet zu sein, er schluckte immer wieder.
»Nein das tun wir nicht. Aber nur Sie können uns erzählen, was an diesem Tag passiert ist, dass zwanzig Jahre später drei Menschen deshalb sterben mussten. Dass dieser Mann sich Zugang zu Ihrer Einrichtung verschafft hat, halte ich nicht für Zufall. Es sollte in Ihrem Sinne sein, endlich mit der Wahrheit herauszurücken.«
»Welche Wahrheit? Ich kenne diesen Mann nicht. Und ich weiß auch nicht, was Sie mir da unterstellen. Ich war als Priester und Freund der Braut auf der Hochzeit. Ja, ich habe getrunken, wie jeder andere auch, und mit dem einen oder anderen bin ich auch auf den Fotos zu sehen. Aber das bedeutet gar nichts. Vermutlich ist der Obdachlose unschuldig. Soweit ich es in dem Durcheinander mitbekommen habe, wurde er verhaftet, weil die Tochter eines der Opfer ihn identifiziert hat. Wenn Sie mich fragen, ist diese junge Frau schwer traumatisiert. Sie hat mich unter falscher Identität aufgesucht, das sagt doch mehr als genug über sie aus. Sie sollten ihre Aussage hinterfragen.«
»Keine Sorge, wir ermitteln gründlich. Versuchen Sie bitte, sich zu erinnern, ob nicht doch ein Clown oder ein ähnlicher Künstler auf der Hochzeit aufgetreten ist.«
»Ich kann mich an keinen Clown oder sonst was erinnern, nur an eine Band. Warum fragen Sie nicht Kai oder Jule Kruse?«, wurde Dübel nun laut. »Kann ich jetzt gehen? Heute ist mein freier Tag und ich würde gerne etwas in der Bibel lesen. Außerdem möchte ich meinen Anwalt einschalten.«
»Sie können gehen, aber Sie sollten die nächsten Tage erreichbar sein, wir werden sicherlich auf Sie zukommen. Und in Ihrem eigenen Interesse rate ich Ihnen, Ihre Aussage zu überdenken«, antwortete Brandt. Er sah keine Veranlassung, Dübel weiter hierzubehalten, da er nicht davon ausging, dass der Priester seine Aussage ändern würde, er rechnete aber fest damit, dass er seinen Anwalt einschalten würde und dann würde er erst recht nichts mehr sagen.
»Danke«, nickte Dübel. »Glauben Sie mir, ich habe diesen Mann noch nie gesehen. Ich weiß nicht, was Zoe Lau mit Ihrer Aussage erreichen will, aber seien Sie skeptisch. Nicht, dass ein Unschuldiger wegen der Falschaussage einer verwirrten jungen Frau ins Gefängnis muss.«
»Wir sind sehr gründlich in unserer Recherche«, stellte Brandt klar, so eine Aussage wollte er nicht unkommentiert lassen.
Kaum hatte Dübel den Raum verlassen, klingelte Brandts Handy.
»Fischer, hast du was?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Fischer.