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23. September, Köln
Z
oe hatte den Zeitungsartikel gelesen und Wut packte sie, gleichzeitig große Enttäuschung und Angst.
»Papa ein Vergewaltiger?«, fragte sie sich und wischte sich die Tränen vom Gesicht.
Sie wollte nicht glauben, dass Natalies Vater, der andere Politiker aus Lübeck, der Priester und ihr Vater ein junges Mädchen vergewaltigt hatten. Aber der Artikel, den sie eben zu Ende gelesen hatte, klang glaubwürdig.
»Warum sonst hätte sich Nadine ebenfalls umbringen sollen?«, überlegte sie weiter. Die Täterin war nicht untergetaucht, sie hatte sich das Leben genommen.
Wieder wischte sie sich mit der Hand übers Gesicht. Ihr Vater, den sie geliebt hatte, der sie wie eine Prinzessin behandelt hatte, war ein Monster gewesen, nichts anderes!
Konnte ein Mensch so ein Unrecht jemals mit einer oder vielen guten Taten aufwiegen?
Zoe glaubte nicht daran.
Jetzt ergab auch das Verhalten dieses Priesters Sinn. Als sie ihn mit dem Foto konfrontiert hatte, war er plötzlich nicht mehr so nett gewesen, sein Verhalten hatte befremdlich gewirkt und er hatte sich angeblich an nichts mehr erinnern können.
»Sie lügt! Sie ist eine eiskalte Mörderin, die Lügen verbreitet«, platzte sie heraus, aber ihr Herz sagte ihr etwas anderes. Es sagte, dass es für Nadine Scheffel keinen Grund gab, zu lügen. Dass alle Männer, die sie getötet hatte, auf der Hochzeit gewesen waren. Und Zeugen, die ebenfalls dort gewesen waren, hatten der Presse verraten, dass sie sich daran erinnerten, wie die vier miteinander gefeiert hatten und zunehmend betrunken waren. Einer wollte sich daran erinnern, dass sie Richtung Wald gegangen seien und herumgeblödelt hätten.
In ihrem Abschiedsbrief an die Zeitung hatte Nadine geschrieben, dass sie im Wald auf die vier stark alkoholisierten Männer gestoßen sei. Einem habe sie ein blaues Auge verpasst, als sie sich wehrte, aber sie war zu schwach und zu ängstlich gewesen, weil sie noch ein Kind war.
Warum hätte sie sich das alles ausdenken sollen? Warum sonst hätte sie ausgerechnet diese vier Männer töten sollen?
Ihr Vater, den sie abgöttisch liebte, war ein Vergewaltiger, das war die bittere Wahrheit. Und je früher sie sich das eingestand, desto eher würde sie das Ganze verarbeiten können.
Ihre Mutter tat sich noch schwerer mit der Situation. Sie wollte von all dem nichts hören. Sie war einfach abgereist, zu Freunden nach Marbella.
Im Fliehen war ihre Mutter schon immer gut gewesen, Zoe aber nicht. Sie war ein Mensch, der sich der Situation und der Wahrheit stellte.
Immer?
Meistens jedenfalls. Und auch diesmal würde sie es tun, selbst wenn es eine Zeit dauern würde, bis sie das ganze Ausmaß begriffe.
Inzwischen glaubte sie auch zu wissen, welche Rolle dieser Obdachlose gespielt hatte, den sie in der Einrichtung wiedererkannt hatte, dessen Identität die Polizei aber nicht preisgegeben hatte.
In Nadines Abschiedsbrief stand, dass Zoes Vater nicht zu seiner Tat und der Verantwortung habe stehen wollen und dass sie daher seine Tochter habe entführen müssen, dass sie der Tochter aber niemals hätte Schaden zufügen wollen.
Vermutlich hatte der Mann, der Nadine geholfen hatte, sie nur betäubt und entführt, damit ihr Vater zu dem vereinbarten Treffpunkt kam, wo er getötet worden war. Diese Tatsache sagte ihr, dass ihr Vater sie geliebt hatte, so sehr, dass er bereit gewesen war, sein Leben für sie herzugeben. Schließlich hatte er wissen müssen, dass er damit seinen eigenen Tod besiegelte.
Machte das ihren Vater daher nicht doch zu einem guten Menschen?
Zoe wusste es nicht. Sie wusste gar nichts mehr. Aber je länger sie darüber nachdachte, desto weniger wütend wurde sie. Desto weniger hasste sie Nadine, den Mann, der ihr geholfen hatte, und irgendwie auch ihren Vater.
Jeder hatte seine eigene, radikale Art, mit Schmerz umzugehen.
Nach allem, was sie erlebt hatte, wurde ihr Wunsch, Journalistin zu werden, nur stärker. Sie wollte sich für die Gerechtigkeit und für die Wahrheit einsetzen, und wie könnte sie das besser, als wenn sie Journalistin werden würde?
»Ich werde nicht daran zerbrechen, sondern stärker werden«, sagte sie mit fester Stimme und setzte sich an ihren Laptop, um für ihren nächsten Artikel zu recherchieren.
Die Zukunft gehörte ihr und sie würde sie sich von niemandem kaputt machen lassen. Dieser Gedanke brachte Hoffnung, und das war alles, was sie gerade brauchte.