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Baden-Baden
J osef hatte Köln verlassen. Jetzt war er in Baden-Baden, in der Fußgängerzone dieser mondänen Stadt, und gönnte sich eine Pause. Seine fünfzehnminütige Darstellung als Pantomime war auf großes Interesse gestoßen. Immerhin hatte er knapp dreißig Euro eingenommen. Heute schien ein guter Tag zu sein.
Die Sonne schien, die Menschen waren spendabel und würdigten seinen Auftritt. Dennoch war sein Herz schwer. Vielleicht lag es daran, dass er gerade in seiner Rolle aufblühte.
In Gedanken war er bei Nadine und bei der Polizei. Als er den Schuss gehört hatte, hatte er hinausrennen wollen, aber er war gefangen in dem kleinen dunklen Raum. Diese Hilflosigkeit hatte ihn schier in den Wahnsinn getrieben, weil er das Schlimmste befürchtete, und als die beiden Beamten zurückkehrten und ihm sagten, dass Nadine tot sei, da war ihm, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Er taumelte, er war fast taub vor Schmerz und er wollte alles erzählen, nur damit dieser Schmerz endlich aufhörte. Doch da sagte dieser Aydin, dass er für ihn eine Nachricht von Nadine habe:
Er ist ein Engel und ich bin endlich frei, aber er muss auch frei sein!
Da wusste er, dass er der Polizei nicht die Wahrheit erzählen durfte, nicht sagen durfte, welche Rolle er bei der Sache gespielt hatte. Dabei hätte er zu gerne alles erklärt, er hatte sein Herz ausschütten wollen. Was er getan hatte, hatte er getan, weil er sich Nadine nicht nur verbunden, sondern sich auch für sie verantwortlich gefühlt hatte. Seit diesem schrecklichen Tag waren sie nicht nur die besten Freunde, er war sogar so etwas wie ein Vaterersatz für sie gewesen.
Immer wieder suchten ihn die schrecklichen Bilder heim, wie er sie im Wald gefunden hatte, blutüberströmt, von blauen Flecken übersät, nur noch zerrissene Kleidung am Leib und weinend. Er hatte mit ihr zur Polizei gehen wollen, aber sie wollte nicht, sie sagte, sie wäre gestürzt und dann war sie weggelaufen.
Tagelang hatte er schlecht geschlafen, sich Vorwürfe gemacht, warum er nicht strenger mit ihr gewesen war, weil er geahnt hatte, was ihr geschehen war.
Ein paar Jahre später hatte er sie wiedergesehen. Sie hatte am Straßenrand gesessen, zugedröhnt mit Alkohol und Drogen. Er hatte sie bei sich aufgenommen, ihr geholfen, von den Drogen wegzukommen, ihre Dämonen zu besiegen und wieder zurück ins Leben zu finden.
Nadine hatte studiert, eine Anstellung gefunden und sich dann selbstständig gemacht, weil sie sehr gut mit Computern umgehen konnte. Und er hatte die Hoffnung gehabt, dass sie den Schmerz überwinden würde, dass ihre Albträume weniger werden würden. Sie hatte ihn gebeten, bei ihr einzuziehen, aber er lehnte ab. Er war mit Leib und Seele Straßenkünstler, dennoch blieb er in ihrer Nähe. Sie trafen sich oft.
So sehr sich Nadine aber auch gefangen haben mochte, den dunklen Makel, den Tag, an dem man sie brutal missbraucht hatte, hatte sie nicht vergessen können. Er war wie ein Krebsgeschwür, das sie seit Jahren in sich trug und das sie endlich loswerden musste.
So war die Idee entstanden, diejenigen dafür büßen zu lassen, die ihr das angetan hatten. Er hatte keine Sekunde gezögert und ihr sofort seine Hilfe angeboten. Erst hatte sie sich davor gescheut, doch dann hatte sie zugesagt, allerdings unter der Voraussetzung, dass er ihre Entscheidungen nicht infrage stellen würde, egal welche.
Josef hatte zugestimmt, da er gehofft hatte, dass sie danach endlich ihren Frieden finden würde. Damit, dass sie sich das Leben nehmen würde, hätte er nie gerechnet.
Welch ein Irrtum!
Nachdem die Polizei ihn entlassen hatte, weil die Beweise für eine Verhaftung nicht ausreichten und er die ganze Zeit geschwiegen hatte, hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich ebenfalls das Leben zu nehmen, doch dann hatte er eine SMS bekommen:
Du bist mein Licht. Du musst weiterleben. Für mich!
Es war Nadines letzter Wille und er hatte ihr versprochen, ihr gegenüber loyal zu sein und ihre Entscheidungen zu respektieren, komme, was wolle. Wie hätte er sich da das Leben nehmen können?
Also lebte er, um ihretwillen, und würde ihre Geschichte erzählen, versteckt in seinen Auftritten als Pantomime.