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Ein paar Tage später in Köln
»I
ch kann sie verstehen«, sagte Walter und reichte Brandt seine Currywurst.
»Ich nicht. Wo kommen wir denn hin, wenn jeder Selbstjustiz ausübt?« Brandt schüttelte den Kopf. Bevor er seinen Gedanken weiter ausführen konnte, klingelte sein Handy. Er nahm das Gespräch an und schaltete auf laut.
»Hallo, Arndt. Aydin und ich sind gerade bei Walter.«
»Moin, Moin, ihr beiden. Moin, Walter, Elke ist auch bei mir.«
Elke grüßte in die Runde.
Dann klopfte es erneut in der Leitung und Brandt sah, dass Tom Hardt anrief.
»Ist es okay für euch, wenn ich Tom mit in die Schalte hole?«
»Klar«, erwiderte Arndt.
»Wenn Lasse das mal hinkriegt«, lachte Aydin, aber Brandt gelang es, schließlich war es kein Hexenwerk, eine Konferenzschaltung zu aktivieren.
»Hallo, Tom. Arndt und Elke sind ebenfalls in der Leitung. Aydin und ich sind gerade bei einem sehr guten Freund, bei Walter.«
»Ach, der Mann mit den leckersten Würstchen in Köln?«, sagte Tom. »Nele ist bei mir.«
»Die leckersten Würstchen, so ist es. Und Sie sind herzlich eingeladen, sich davon zu überzeugen«, meldete sich Walter zu Wort.
Die gegenseitige Begrüßung fiel nach Brandts Geschmack etwas chaotisch aus, aber dann hatten sie es endlich hinter sich gebracht und konnten zum eigentlichen Zweck des Gespräches kommen.
»Jetzt, wo wir alle am Telefon sind, und obwohl wir gestern in der gemeinsamen Besprechung den Fall bereits abgeschlossen haben, von Frau Blum und mir noch einmal einen großen Dank für die hervorragende Zusammenarbeit«, sagte Tom.
»Auch wenn wir Josef Stauch leider keine Mittäterschaft haben nachweisen können, finde ich, dass wir alle stolz auf unsere Ermittlungsarbeit sein dürfen«, ergänzte Nele. »Vor allem vor dem Hintergrund, wie kompliziert länderübergreifende Ermittlungen in der Regel sind.«
»Das sehe ich auch so. Es ist natürlich sehr schade, dass wir Nadine Scheffel nicht davon haben abhalten können, sich das Leben zu nehmen«, erwiderte Brandt.
»Ihr hättet nichts dagegen tun können. Laut ihrem Abschiedsbrief, den sie den Medien geschickt hat, hatte sie genau das geplant«, stellte Arndt fest. »Irgendwie tut sie mir leid.«
»Sie tut dir leid?«, fragte Brandt erstaunt.
»Na, immerhin wurde sie als Fünfzehnjährige aufs Übelste missbraucht. Ich kann mir vorstellen, was in ihr vorging. Ihr erinnert euch an die Entführung meines Sohnes Sebastian vor einigen Jahren. Auch wenn ein Polizist das nicht sagen sollte, aber ich wäre sehr weit gegangen, um meinen Jungen zu befreien. Viel weiter, als wir es dürfen.«
»Ich verstehe dich«, antwortete Tom. Seine Stimme klang nachdenklich und Brandt ahnte, woran Tom dachte. Vor einigen Monaten war Toms Frau auf brutale Weise ermordet worden und bis heute fehlte vom Täter jede Spur. So wie Brandt seinen alten Kollegen aus Hamburger Zeiten einschätzte, würde er ebenfalls weit über das hinausgehen, was rechtlich erlaubt war, um seine Frau zu rächen, obwohl er einer der ehrenwertesten Polizisten war, die er kannte.
In diesem Moment wurde Brandt wieder einmal bewusst, dass Polizisten natürlich auch nur Menschen waren und die waren vor Emotionen nicht gefeit, dennoch hoffte er, dass keiner seiner Freunde je das Gesetz über Gebühr strapazieren würde, weil er nicht wusste, ob er sie in jedem Fall bedingungslos decken würde. Er war nicht zur Polizei gegangen, um Verbrechen zu decken, sondern um sie aufzuklären.
»Eigentlich rufen wir wegen etwas ganz anderem an«, erklärte nun Arndt.
»Und das wäre?«
»Elke, möchtest du es ihnen erzählen?«
»Arndt und ich werden heiraten«, antwortete Elke. Ihre Stimme klang glücklich und Brandt konnte sich sehr gut vorstellen, wie sie gerade übers ganze Gesicht strahlte.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagten alle beinahe synchron.
»Wir möchten euch alle zu unserer Hochzeit einladen. Den genauen Termin geben wir euch noch bekannt.«
»Sehr gern. Vielen lieben Dank«, sagte Brandt als Erster, bevor die anderen etwas ähnlich Freundliches beisteuerten.
Nachdem sie sich noch über ein paar andere Dinge ausgetauscht hatten, beendete Brandt die Telefonkonferenz.
»Endlich heiraten die beiden. Das freut mich sehr«, sagte Aydin. »Ich könnte übrigens noch eine Rindswurst vertragen.«
»Wenn ich deinen Bauch so ansehe, bestimmt noch ein paar mehr«, zog Brandt seinen Kollegen auf. Solche Steilvorlagen konnte er nicht ungenutzt lassen.
»Was für ein Bauch? Aydin hat doch abgenommen. Ich sehe keinen Bauch«, sprang Walter ihm bei und legte ein paar Würstchen auf den Grill.
»So ist es. Ich habe fast sieben Kilo abgenommen.«
»Wers glaubt«, schmunzelte Brandt und streckte die Hand nach Aydins Bauch aus, doch der drehte sich weg. Dabei wusste er, dass Aydin tatsächlich abgenommen hatte und sein Bauch deutlich kleiner war, obwohl Aydin nie wirklich dick gewesen war, aber er ließ sich nun mal so wunderbar ärgern und das tat Brandt zu gerne.
»Habe ich das eigentlich richtig verstanden, dass dieser Josef Stauch auch an der Tat beteiligt war? In den Zeitungen stand nichts darüber.«
»So scheint es. Die Zeitungen haben nur das Geständnis von Nadine Scheffel abgedruckt. Wir hatten Stauch in Gewahrsam, aber dank Aydin hat er geschwiegen, statt auszupacken. Dabei war er so kurz davor.«
»Wieso dank mir?« Aydin schüttelte den Kopf.
»Wenn du ihm nicht erzählt hättest, worum Scheffel dich gebeten hat, hätte er gesungen. In der Nachricht war eine versteckte Botschaft.«
»Das weißt du doch gar nicht. Ja, er war auf der Hochzeit, aber als Clown. Und er hat Nadine entdeckt und sich um sie gekümmert, nur hat sie ihm nicht anvertraut, warum sie so weinte und so zugerichtet war. Er konnte nichts machen. Trotzdem kreuzten sich ihre Wege immer wieder. Macht ihn das nun zu einem Mörder oder Mittäter?«
»Die Wahrscheinlichkeit ist nicht gering«, blieb Brandt bei seiner Haltung.
»Also hätte ich mein Wort brechen und ihren letzten Willen nicht erfüllen sollen?«
»Lass dich nicht ärgern. Du hast richtig gehandelt«, sagte Walter.
»Wie kannst du das denn beurteilen, du warst doch gar nicht dabei.«
»Er hat versprochen, den letzten Willen einer Sterbenden zu erfüllen, und das hat er getan. Wie kannst du ihn dafür kritisieren? Und dass Stauch ebenso Schuld hat, ist doch pure Spekulation. Soweit ich es aus ihrem Abschiedsbrief herausgelesen habe, wurde sie von einem Straßenkünstler gerettet. Ihre Wege haben sich zunächst getrennt, sich dann aber immer wieder gekreuzt. Sie hat es offensichtlich diesem Clown zu verdanken gehabt, dass sie an der Schmach nicht zerbrochen ist. Sie beschreibt ihn als Engel, als einen sehr guten und loyalen Freund. Dieser Mann kann ja nur Stauch sein.«
»Das mag sein. Ich sehe schon, gegen euch beide habe ich keine Chance. Am Ende ist es eh egal. Wir werden ihm kaum etwas nachweisen können. Weder auf dem Laptop noch auf dem Handy der Toten finden sich verwertbare Daten. Fischer geht davon aus, dass ein automatisiertes Programm sämtliche Inhalte gelöscht hat. Sie schien sehr bewandert zu sein in Hackersoftware und IT. Aber es wird noch Wochen dauern, bis wir alle Informationen beisammenhaben. Das ist dann allerdings Aufgabe des Staatsanwaltes, der Spurensicherung und der Abteilung von Fischer. Für uns ist der Fall gelöst und abgeschlossen, es wird keine weiteren Morde mehr geben. Du solltest übrigens mal die Currywurst vom Grill nehmen, bevor sie verbrennt.«
»Sag doch einfach, dass du eine möchtest«, lachte Walter, nahm die Currywurst vom Grill und schnitt sie in kleine Stücke. Brandt reichte ihm seinen Teller und Walter richtete die Currywurst mit seiner Spezialsoße und Toastbrot darauf an.
Brandt ließ sogleich ein Stück der heißen Currywurst in seinem Mund verschwinden und wie immer war die Geschmacksexplosion unbeschreiblich. Es war unerklärlich, aber Walters Currywurst wurde nie langweilig. Nachdenklich spießte er das nächste Stück auf und schob es durch die würzige Soße.
Tief in seinem Herzen tat Nadine Scheffel ihm leid, was ihr widerfahren war, wünschte er niemandem. Dennoch wurmte es ihn, dass sie Stauch keine Mittäterschaft hatten nachweisen können. Aber Zoes Aussage und die Tatsache, dass er auf der Hochzeit dabei gewesen war, waren einfach nicht ausreichend. Zumal Zoe gegenüber dem Staatsanwalt ausgesagt hatte, dass sie nicht zu hundert Prozent versichern könne, dass er der Entführer gewesen sei, weil sie sich nur an das Tattoo erinnere.
Aber so waren Ermittlungen und damit musste man als Polizist leben können, nicht jeder Fall konnte zur vollen Zufriedenheit aufgeklärt werden.
»Glaubt ihr, Elke und Arndt würden es gut finden, wenn ich auf ihrer Hochzeit ein paar meiner weltberühmten Würstchen spendiere? Ich könnte den Grillmaster machen.«
»Klar, warum nicht«, antwortete Aydin. »Ich kenne mindestens einen jungen Mann, der ausflippen würde, wenn du das machst.«
»Tolga! Dieser kleine Schatz hat eben Geschmack.« Walter richtete sich auf und seine Augen funkelten, er war in Aydins kleinen Bruder vernarrt und es machte ihn sehr glücklich, wenn Tolga eine Wurst nach der anderen bei ihm verdrückte. »Habt ihr heute eigentlich schon den Kölner Stadtanzeiger gelesen?«
»Ich dachte, du liest nur den Express?«, witzelte Brandt und steckte sich ein weiteres Stück Currywurst in den Mund. Danach gönnte er sich einen Schluck Pils aus der Flasche. Bis heute war es ihm nicht gelungen, Kölsch zu mögen. Er würde wohl immer ein Pils-Trinker bleiben.
»Ehrlich gesagt nicht. Was steht denn so Interessantes drin? Und hör nicht auf Brandt, der ist nur glücklich, wenn er seine dummen Scherze machen kann«, sagte Aydin.
»Ich bin da sehr entspannt. Das prallt alles an mir ab. Aber zurück zu dem Artikel. Man hat einen weltweiten Skandal um Organhandel aufgedeckt. Ein Whistleblower und ein privates Ermittlungsteam haben wohl dazu beigetragen, dass die Hintermänner aus Japan, China, Indien und der Ukraine gefasst wurden. Jugendlichen aus Indien, der Ukraine und China wurden Organe entnommen, um sie im Westen und Japan für teures Geld zu verkaufen.«
»Kranke Welt, in der wir leben«, Aydin schnaubte angewidert. »Wenn du arm, sehr arm bist, bist du diesen gierigen Geldmachern doch hoffnungslos ausgeliefert. Die in ihrem feinen Zwirn glauben, dass sie was Besseres wären. Da wird mir nur schlecht.«
»Du hast das doch nicht ohne Hintergedanken erwähnt, oder?«, fragte Brandt, da er noch etwas anderes hinter Walters Erzählung vermutete.
»Erinnert ihr euch an das Gespräch mit Joe und Walsh? Er hat doch gesagt, dass er nach Kiew und Tokio müsse. Haltet ihr das für einen Zufall?«
»Walsh?« Aydin machte große Augen. »Verdammt, ich muss den Artikel lesen. Aber du hast recht, an solche Zufälle glaube ich nicht.«
Brandt nickte nur, er hielt das auch für möglich, zumal Walsh jemand war, der sich tatsächlich für die Interessen der Schwächsten und für die Gerechtigkeit einsetzte, dennoch wollte er nicht in Aydins Lobhudelei einstimmen.
In Momenten wie diesen wurde ihm schmerzlich bewusst, was für ein gutes Leben er und seine Freunde hatten. Wie gut sie im Westen lebten und dass man sich das ab und an streng vor Augen führen musste, statt immer nur zu jammern.
Brandts Blick wanderte zu Walter, weil der plötzlich wie erstarrt auf die Eingangstür starrte.
Ein junger Mann mit Gitarre betrat den Imbiss und er lächelte, als er zu ihnen trat.
– ENDE –
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