Leseprobe: Kapitel 1
F ür sie bin ich sicher wieder Luft, dachte er, als er die Küche betrat, um sich einen Kaffee zu holen. Sie war auch gerade dort und griff nach einem Becher, ohne ihn zu fragen, ob er auch einen wolle, dabei hatte sie ihn sicher bemerkt.
Leichte Verärgerung keimte in ihm auf. Ohne etwas zu sagen, nahm er sich ebenfalls einen Becher und schaute verlegen zu, wie sie sich Kaffee einschenkte.
»Du kannst«, sagte sie dann und verließ den kleinen Raum. Sein Herz raste, seine Hände wurden feucht und seine Kehle trocken, während er seinen Becher mit Kaffee füllte. Sie hatte mit ihm gesprochen!
Sie ist freundlich, weil ihr Kollegen seid, ermahnte er sich sofort, nicht zu viel in diesen kurzen Satz hineinzuinterpretieren.
»Hast du den Kaffee gemacht?«, wurde er da ruppig aus seinen Gedanken gerissen.
»Nein«, antwortete er gereizt und warf seinem Kollegen einen Blick zu.
»Gut, dann kann man ihn ja trinken. Diese Plörre letztens ging gar nicht. Das war kein Kaffee, das war purer Matsch.« Jochen schüttelte den Kopf und drängte ihn wie nebenbei zur Seite, während er sich einen Becher nahm, um ihn zu füllen.
»Pass doch auf«, blaffte er diesen überheblichen Schönling an.
»Leicht gereizt, der Kollege? Achte auf deine Wortwahl, du Freak.« Jochen machte einen Schritt auf ihn zu und sah ihn drohend an, dann verließ er die Küche. »So ein Trottel«, hörte er ihn noch sagen.
Er schnaufte und nahm einen großen Schluck Kaffee. Am liebsten wäre er rausgerannt und hätte diesem eingebildeten Idioten die Faust zwischen die Zähne geschoben. Doch stattdessen schluckte er seine Wut herunter, auch wenn es ihm unendlich schwerfiel. Mit seinem Becher in der Hand trottete er zu seinem Arbeitsplatz und ließ sich auf seinen Stuhl sinken, dann setzte er die Kopfhörer auf und startete das Programm.
Sogleich klingelte es. Er nahm das Gespräch an. »Hallo, hier ist der Kundenservice von GoMobile. Wie kann ich dir helfen?«, fragte er so freundlich wie möglich, dabei kostete es ihn unendliche Mühe, seine schlechte Laune nicht herauszubrüllen. Er hasste seine Arbeit, aber er brauchte diesen Callcenter-Job.
»Endlich habe ich jemanden dran. Zwanzig Minuten, das kann doch nicht euer Ernst sein, ganz zu schweigen von dieser automatischen Ansage, durch die man sich durchkämpfen muss, bis man bei euch gelandet ist«, machte der Kunde seinem Ärger Luft. Seiner Stimme nach zu urteilen, konnte er höchstens zwanzig sein. Ein Blick auf den Bildschirm verriet ihm, dass er recht hatte. Der Anrufer hieß Max. Da er über die im System hinterlegte Mobilfunknummer anrief, konnte er sämtliche registrierten persönlichen Daten des Kunden einsehen.
»Hallo, Max, wie können wir dir behilflich sein?«, fragte er, noch immer bemüht, freundlich zu bleiben.
»Wie wohl, du Scherzkeks. Warum rufe ich wohl an? Mein blödes Handy geht nicht. Euer Netz taugt nichts.«
»Das ist sehr schade, dass du Empfangsschwierigkeiten hast, aber sicherlich weißt du, dass es nicht unser Netz ist. Wir sind nur ein Provider, der auf die Netze der großen Anbieter setzt. Ich sehe in deinen Vertragsunterlagen, dass dein Vertrag über das O2-Netz läuft. Bist du vielleicht gerade in einer ländlichen Region unterwegs?«
»Ja, bei meinen Eltern in Kraichtal. Trotzdem kann es doch nicht sein, dass ich kein Netz habe. Wir sind doch kein Dritte-Welt-Land. In der Bahn telefonieren geht auch nicht. Das ist doch reine Kundenverarsche.«
»Jedes Dritte-Welt-Land hat ein besseres Netz als O2«, rutschte es ihm heraus.
»Na super! Wollen Sie mir jetzt helfen oder nicht? Ich muss ein paar Sachen runterladen, aber so langsam, wie das Internet hier ist, klappt das nie.«
»Versuchst du, über dein Mobilfunkgerät eine Datei runterzuladen?«
»Ja, du Schlauberger. Warum rufe ich sonst wohl an?«
»Ich dachte, du hättest beim Telefonieren Probleme wegen der Funklöcher«, versuchte er zu erklären, schließlich hatte Max von Schwierigkeiten mit dem Netz gesprochen.
»Wenn ich schlechten Empfang habe, dann habe ich wohl auch eine schlechte Internetverbindung. Ganz ehrlich, die hellste Leuchte scheinst du nicht gerade zu sein«, machte sich Max über ihn lustig. Immer wieder wechselte er vom Sie zum Du.
Der Callcenter-Agent schluckte die Wut herunter. Der Job brachte es leider mit sich, dass er sich so einiges gefallen lassen musste, aber sicherlich nicht, sich von einem Dreikäsehoch beleidigen zu lassen.
»Max, ich bin hier, um dir zu helfen, aber dafür möchte ich dich bitten, sachlich zu bleiben.« Allein, dass sie die Kunden duzen mussten, missfiel ihm, er fand das unprofessionell, aber es war nun mal die Vorgabe der Geschäftsleitung und er war nur ein kleiner unbedeutender Telefonagent.
»Verdammt. Euer Drecksnetz geht nicht und ich soll sachlich bleiben?«, platzte Max der Kragen.
Du hirnloser, kleiner Vollidiot, warum nutzt du nicht den Internetzugang deiner Eltern? , wäre ihm fast herausgerutscht, doch stattdessen sagte er: »Ich möchte dich bitten, deinen Ton zu mäßigen, sonst muss ich die Verbindung unterbrechen.«
»Sie wollen einfach auflegen, nachdem ich zwanzig Minuten in der Warteschleife war? Das ist doch nicht Ihr Ernst! Helfen Sie mir lieber, mein Problem zu lösen. Dafür bezahle ich Sie doch«, brüllte Max.
»Dir kann man nicht helfen«, schäumte er und beendete das Gespräch. »So ein Idiot«, rief er lauter als beabsichtigt. Einige Kollegen schauten ihn erschrocken an. »Was guckt ihr? Müsst ihr nicht arbeiten?«
Die anderen drehten sich schnell um und sagten nichts. Nur Jochen und ein anderer Schönling schauten zu ihm rüber. »Der Freak hat einfach seine Nerven nicht im Griff«, hörte er Jochen zu seinem Freund sagen.
Der hat gut lachen. Für ihn ist das nur ein Studentenjob, aber ich mache das hier jeden Tag, weil es mein Beruf ist. Soll ich mich deshalb von jedem Idioten beleidigen lassen? Er spürte, dass nicht viel fehlte und er vor Wut platzen würde. Noch so ein Anruf und er würde explodieren.
Also stand er auf, nahm seinen Becher und eilte zur Toilette. Dort schloss er sich in eine Kabine ein und schlug mit der Hand gegen die Wand.
Diese Wut, die in ihm schlummerte, wollte einfach nicht verfliegen. Er brauchte dringend einen Kaffee, aber einen starken, nicht dieses weichgespülte Zeug, das es hier gab. Seine Chefin hatte ihm leider untersagt, Kaffee zu machen, da sich angeblich zu viele Kollegen beschwert hätten, er sei viel zu stark, weil er viel zu viel Kaffeepulver benutzte. Bestimmt war Jochen diese Petze, der hatte auch ein super Verhältnis zur Chefin und überhaupt mochte ihn jeder, nur er hasste ihn, weil er wusste, was für eine falsche Schlange dieser Lackaffe war.
Bestimmt mochten die anderen Jochen, eben weil er so attraktiv war. Er selbst hingegen wurde wegen seines Äußeren kaum wahrgenommen, deswegen mieden ihn die meisten.
»Ich hasse euch alle«, machte er seinem Ärger Luft. Dann hörte er, wie die Tür zur Toilette geöffnet wurde.
»Wo ist denn dieser Freak?«, hörte er Jochen fragen. Es war offensichtlich, dass er nicht alleine war.
»Keine Ahnung. So wie der vom Stuhl aufgesprungen ist, könnte man meinen, den hat was gestochen«, lachte die andere Stimme. Das konnte nur Markus sein. Jochens Kumpel. Dass beide gemeinsam zur Toilette gingen, um Zeit zu schinden, war mehr als offensichtlich.
»Der tickt doch nicht ganz sauber. Kein Wunder, dass die Mädels Angst vor ihm haben.«
»Na ja, manchmal hab ich auch eine Gänsehaut, wenn er dich so anstarrt, als würde er dir am liebsten das Herz rausreißen.«
»Du Depp, der ist doch der größte Schisser auf der Welt. So ein Loser, ein echtes Opfer«, lachte Jochen seinen Freund aus.
Das anschließende Wassergeräusch ließ darauf schließen, dass beide die Toilette benutzt hatten.
»Egal, was geht am Wochenende?«
»Ich treffe mich mit Linda.«
»Hast du sie endlich so weit?«
»Klar, war doch nur eine Frage der Zeit. Welche Frau kann meinem Charme schon widerstehen?« Jochen lachte überheblich.
Er hörte, wie sie sich die Hände wuschen, danach klappte die Tür, offensichtlich hatten beide die Toilette verlassen. Er atmete erleichtert aus, aber sein Magen krampfte sich zusammen. Die Information, dass seine heimliche Flamme mit diesem ekligen, eingebildeten Jochen ausgehen würde, war ein Tiefschlag für ihn.
Was hat er, was ich nicht habe?, dachte er und knirschte mit den Zähnen.
Konnten Frauen wirklich so oberflächlich sein, dass sie auf jemanden wie Jochen hereinfielen, nur weil er groß und durchtrainiert war?
Wie es schien, war es so. Das machte ihn einfach rasend und ein gehässiges Lachen stieg in ihm auf. »Linda, Linda, er wird dich verarschen, wie all die Frauen vor dir. Aber selbst schuld, wenn du auf Arschlöcher stehst.«
Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, verließ er die Kabine und wusch sich das Gesicht, dann schaute er sein Spiegelbild an. Wassertropfen lagen auf seiner blassen Haut. Sein Blick wirkte ernst und seltsam verloren, desillusioniert. Ein Gedanke machte sich in ihm breit, den er lieber schnell verdrängte.
Er trocknete sich die Hände ab und verließ die Toilette.
»Du sollst zur Chefin kommen«, sprach ihn sein Kollege Manuel auf dem Flur an.
»Jetzt?«
»Ja.«
»Was will sie denn? Das kann ich grade echt nicht gebrauchen.«
»Keine Ahnung, aber du solltest sie nicht warten lassen.«
Er presste die Luft zwischen den Zähnen heraus und ging zum Büro seiner Chefin.
Keine fünf Minuten später verließ er es wieder mit knallrotem Kopf.
»Diese verdammte Schnepfe«, rief er, als er zu seinem Platz eilte. Rabiat packte er seine Sachen zusammen und stürmte wutentbrannt aus dem Großraumbüro.
»Ich und nicht teamfähig! Was für ein Unsinn. Sieht sie nicht, dass mich die Leute mobben?«, schimpfte er, nachdem er das Gebäude bereits verlassen hatte und auf dem Weg Richtung Bushaltestelle war. Da er Abendschicht gehabt hatte, war es schon recht dunkel, nur die Straßenlaternen erhellten den Weg. Es waren kaum Fußgänger unterwegs.
Als er die Haltestelle erreichte, kam auch schon sein Bus. Er stieg ein und suchte sich einen freien Platz.
»Ich brauche diesen Drecksjob nicht«, sagte er zu sich und schaute aus dem Fenster. »Das Gehalt reicht ja nicht mal für ein eigenes Auto. Eine Ausbeuterfirma ist das.« Dennoch wusste er, dass das so nicht stimmte. Er brauchte die Arbeit, weil er notorisch pleite war. Und noch etwas anderes machte ihm Sorgen: seine Mutter!
Sie würde sicherlich sehr erbost sein und ihm ihre ewige Standpredigt halten, dass er zu faul sei, nicht teamfähig und mit Druck nicht klarkomme. Dass es am Ende seine Schuld sei, dass er den Job verloren habe.
Dabei war er sich keiner Schuld bewusst, seine Chefin mochte ihn einfach nicht. Dass er die Kunden angegangen habe, war eine genauso billige Ausrede wie die, dass er zu oft den Arbeitsplatz verlasse.
»Alles Lügen. Sie konnte mich von Anfang an nicht leiden.«
In seiner Wut hätte er fast seine Haltestelle verpasst, doch er konnte noch schnell aus dem Bus springen. Dabei stolperte er, konnte den Sturz aber noch abfangen.
»Das hätte mir noch zu meinem Glück gefehlt«, sagte er erleichtert.
Der ganze Tag war einfach zum Vergessen. Erst die Kollegen, die ihn ständig mobbten, diese dämlichen Kunden, die nur anriefen, um ihren Frust an ihm auszulassen, und dann noch seine behinderte Chefin, die ihm falsche Dinge unterstellte.
Die Kolleginnen hätten angeblich Angst, mit ihm in der Abendschicht zu arbeiten, weil er sie so anstarren würde, hatte sie ihm außerdem noch offenbart.
Er schüttelte den Kopf. »Alles Lügen. Sie wollte mich von Anfang an nicht in ihrem Team haben und hat nur nach einer faulen Ausrede gesucht, um mir zu kündigen. Diese falsche Schlange.«
Er knirschte mit den Zähnen, eine dumme Angewohnheit, wenn er wütend wurde.
»Ich war eh überqualifiziert für diesen Rotz«, versuchte er sich den Jobverlust schönzureden. »Ich habe Informatik studiert, was soll ich da in so einem dämlichen Callcenter?«
Vor dem kleinen Einfamilienhaus angekommen, trat er nicht sofort ein, sondern überlegte kurz, was er seiner Mutter sagen sollte. Sie anzulügen, war keine Option.
»Die alte Hexe findet alles heraus«, murmelte er. »Die Wahrheit ist noch immer die beste Verteidigung, schließlich bin ich hier das Opfer.«
Er atmete tief ein und aus und öffnete die Haustür.
»Hallo, mein Sohn«, begrüßte ihn seine Mutter. Ihr Blick ging zu ihrer Armbanduhr.
»Hallo, Mutter.«
»Hast du Hunger? In der Küche ist noch Suppe von gestern, ich kann sie dir aufwärmen.«
»Wäre nicht schlecht.«
»Wie war dein Tag?«
»Geht so.«
»Was heißt, geht so?« Seine Mutter schaute zu ihm auf, sie war über einen Kopf kleiner als er und korpulent, ihr Blick wirkte streng, ja geradezu prüfend. Eine Augenbraue hob sich.
Sie riecht den Braten , dachte er ängstlich. Auch wenn er ihr mit seinen ein Meter neunzig körperlich überlegen war, war sie immer noch seine Mutter. Und auf Streit mit ihr hatte er keine Lust, also würde er es lieber schnell hinter sich zu bringen.
»Meine Chefin hat mich heute gemobbt«, antwortete er, hängte seine Jacke an die Garderobe, stellte seinen Rucksack ab und ging an ihr vorbei in die Küche. Die Straßenschuhe behielt er an.
»Deine Chefin hat dich gemobbt? Was soll das heißen?« Sie folgte ihm. »Warum sollte dich deine Chefin mobben? Hast du wieder Ärger gemacht?«
»Nein, Mutter. Diesmal bin ich wirklich unschuldig. Sie mag mich nicht, genau wie die anderen auch. Nur weil ich schlauer bin als sie.«
»Red nicht so einen Blödsinn! Was ist passiert?« Ihr Blick war bohrend, als würde sie mit einer Nadel in sein Gehirn stechen, um seine Lüge zu enttarnen.
»Machst du mir die Suppe warm?« Er nahm am Küchentisch Platz.
Seine Mutter trat an den Kühlschrank, holte den Topf heraus und stellte ihn auf den Herd. »Möchtest du was trinken?«
»Ja, Cola.«
Sie holte die Colaflasche und ein Glas und reichte ihm das Getränk. »Hast du den Job verloren?«
»Wie kommst du darauf?«
»Weil du mein Sohn bist, du Trottel.« Sie schüttelte den Kopf und nahm einen Kochlöffel, um die Suppe umzurühren.
»Der Job war scheiße. Als Informatiker bin ich eh dafür überqualifiziert.«
»Informatiker? Du?« Seine Mutter lachte. »Dafür muss man sein Studium schon beenden. So kann das wirklich nicht weitergehen.«
»Wie?«
»Wie? Na so. Der wievielte Job ist das jetzt, den du verloren hast? Und immer sind die anderen schuld. Ich habe wirklich einen Versager zum Sohn. Du bist ein elender Nichtsnutz! Aber was wundere ich mich, dein Vater war auch so ein Versager. Tu mir und dir nur einen Gefallen und komm nie auf die dumme Idee, einmal selbst Vater zu werden.«
»Warum sagst du so etwas Gemeines? Ich war wirklich unschuldig. Diese Schlampe von Chefin hatte mich schon immer auf dem Kieker.«
»Ich kann diese Ausreden nicht mehr hören. Willst du wieder von Hartz IV leben?«
»Na ja, erst mal gibt es Arbeitslosengeld. So schlecht ist das gar nicht. Nach dem anstrengenden Job kann ich eine kurze Auszeit gut gebrauchen«, antwortete er und lachte. Im selben Moment erhob seine Mutter den Kochlöffel und schlug ihm damit auf den Kopf.
»Spinnst du?«, brüllte er.
Sie schlug ihn noch mal und noch mal. Schützend hielt er die Hände vor seinen Kopf, trotzdem wurde er immer wieder getroffen.
»Du jämmerlicher Versager. Du bist wie dein Vater!«, schrie sie. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Stimme hatte einen bedrohlichen Tonfall angenommen.
»Hör auf!«, brüllte er zurück, aber seine Mutter dachte gar nicht daran. Sie schlug weiter auf ihn ein.
Er wusste sich nicht mehr anders zu helfen, er schubste sie weg, sprang auf und floh aus der Küche.
Im Flur schnappte er sich seine Jacke und verließ die Wohnung. Sein Kopf tat weh und als er mit der rechten Hand an sein Haar fasste, erschrak er. Seine Hand war rot.
»Ich blute, verdammt.« Angst überkam ihn, doch dann erkannte er, dass es nur von der Suppe kam, die wohl an dem Kochlöffel geklebt hatte.
Dass seine Mutter wieder so ausgerastet war, machte ihm zu schaffen. Diese Anfälle ertrug er immer weniger und er wusste, dass er irgendwann zurückschlagen würde. Darüber dürfte sie sich dann allerdings nicht wundern. Als er noch ein Kind war und sie ihn geschlagen hatte, hatte er sich nicht wehren können, doch jetzt sah die Situation anders aus.
Trotzdem hast du Angst vor ihr!
Er glaubte zu wissen, dass die Wut seiner Mutter in Wahrheit nicht ihm, sondern seinem Vater galt, der sie hatte sitzen lassen, als sie noch schwanger war. So lange er sich zurückerinnern konnte, hatte sie nie ein gutes Wort über ihn verloren. Gerade wenn sie betrunken war, war es für ihn als Kind am schlimmsten gewesen. Sie hatte immer einen Vorwand gesucht, um ihn wie aus dem Nichts zu schlagen und zu quälen. Aber seine Geduld würde ein Ende haben, schon sehr bald, das ahnte er in diesem Augenblick.
Mit fünfunddreißig Jahren war er kein Kind mehr, das sich von seiner Mutter schlagen oder herumschubsen lassen musste. Er war ein Mann, der mitten im Leben stand und vielleicht gerade etwas Pech mit seinem Job hatte, dennoch änderte das nichts daran, dass er ein erwachsener Mann war.
Sein Magen knurrte, aber nach Hause zu gehen, war keine Option. Nicht solange seine Mutter diese Wut in sich trug.
Was war denn so schlimm daran, eine Zeit lang von Arbeitslosengeld oder Hartz IV zu leben? Damit gab der Staat einem doch die Gelegenheit, sein Leben neu zu ordnen. Schließlich hatte er lange genug in die Kassen eingezahlt, da war es an der Zeit, dass er auch einmal etwas zurückbekam. Dass er in Wahrheit bislang öfter arbeitslos als beschäftigt gewesen war, verdrängte er schnell.
Der Hunger trieb ihn weiter, er musste etwas essen, das stand außer Frage. In seiner Jackentasche fand er zehn Euro, das sollte reichen. Nur, wo sollte er um diese Uhrzeit noch etwas zu essen finden? Immerhin war es kurz vor 22 Uhr und in seiner Ecke hatten die Imbissbuden längst geschlossen.
Die einzige Möglichkeit war, mit dem Bus zum Bahnhof zu fahren, um dort etwas zu holen. Da er eine Monatsfahrkarte besaß, musste er sich wegen der Kosten vorerst keine Sorgen machen.
Also ging er Richtung Haltestelle, sein Kopf schmerzte noch immer. Hätte es keine Straßenbeleuchtung gegeben, hätte er schon nichts mehr gesehen, denn um diese Zeit verkehrte so gut wie kein Auto auf der Straße.
An der Haltestelle stand eine Person, eine junge schlanke Frau, die mehr als einen Kopf kleiner war als er. Er warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie war hübsch, schien ihn allerdings wie gewohnt nicht wahrzunehmen. Kein Wunder, für solche Frauen war er einfach Luft. Da bemerkte er, wie sie ein paar Schritte zurücktrat, auf die Laterne zu.
Damit, dass ich für solche Frauen Luft bin, habe ich gelernt, zu leben, aber ich bin doch kein Monster!, dachte er verärgert.
Er musste ihr auf irgendeine Weise Angst eingejagt haben, warum sonst sollte sie sich von ihm entfernen und sich direkt unter die Laterne stellen? Glaubte sie, da wäre sie sicherer?
»Du musst keine Angst vor mir haben«, versuchte er der jungen Frau klarzumachen. Doch sie antwortete nicht, stattdessen griff sie nach ihrem Handy. Er machte einen Schritt auf sie zu. »Ich sagte doch, du musst keine Angst vor mir haben.«
Wieder sagte sie nichts, sondern trat einen weiteren Schritt zurück, was ihn noch mehr verärgerte. Sie hielt inzwischen das Handy ans Ohr.
»Hat man dir nicht beigebracht, zu antworten, wenn man mit dir spricht? Das ist sehr unhöflich«, wurde er ärgerlich. Sie schien jetzt mit jemandem zu telefonieren.
»Lassen Sie mich in Ruhe oder ich rufe die Polizei«, sagte sie laut.
Da setzte etwas in ihm aus. Er verstand selbst nicht, was mit ihm geschah, aber plötzlich packte er sie und hielt sie fest. Sicher hatte sie die Nummer des Notrufs längst eingetippt, um tatsächlich die Polizei anzurufen, und eine Anzeige war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Nach dem Jobverlust wollte er seiner Mutter nicht eine weitere Vorlage geben, um wütend auf ihn zu sein.
»Lassen Sie mich los«, schrie die junge Frau.
Instinktiv hielt er ihr den Mund zu und drückte sie an sich. Aufgrund ihrer Körpergröße und ihrer schlanken Statur fiel ihm das nicht besonders schwer. »Bist du endlich still! Ich will dir nichts tun.«
Aber statt Ruhe zu geben, damit er das Missverständnis aus der Welt schaffen könnte, schlug sie wie verrückt um sich, daher wurde sein Griff fester. Jetzt hatte er sie im Schwitzkasten und noch immer hielt er ihr den Mund zu, aus Sorge, dass sie schreien könnte.
Wie eine Wilde versuchte sie sich zu befreien, weshalb ihm nichts anderes übrig blieb, als ihren Hals noch enger zuzudrücken und weiterhin die Hand auf ihren Mund zu pressen. Ihre Füße hatten schon keinen Bodenkontakt mehr, weil er so viel größer war und sie im Schwitzkasten hochgehoben hatte.
Die junge Frau röchelte, aber er ließ nicht locker.
Dann wurden das Röcheln und der Widerstand weniger, bis sie sich nicht mehr wehrte.
»Endlich hast du verstanden«, sagte er. »Aber wehe, du fängst wieder an zu schreien. Dann werde ich richtig ungemütlich.« Er atmete heftig aus. Das Adrenalin, das ihm in dem Moment durch die Adern schoss, gab ihm ein Gefühl, das er nicht einordnen konnte.
»Es ist deine Schuld. Ich wollte nur mit dem Bus fahren. Warum musstest du so eine Szene machen? Wenn ich schlank und sportlich gewesen wäre, hättest du das bestimmt nicht gemacht. Das hier ist allein deine Schuld.«
Er löste den Griff vollständig und die junge Frau schlug unsanft auf den Asphalt auf.