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»W
ir werden dich vermissen«, sagte Nele.
»Ich euch auch. Macht mir den Abschied doch nicht so schwer.« Anjas Augen glänzten feucht, Nele sah ihr an, dass sie gegen die Tränen ankämpfte. »Hamburg ist ja nicht aus der Welt. Ihr seid immer alle herzlich eingeladen, mich zu besuchen.«
»Das werden wir, darauf kannst du wetten. Schneller als dir lieb ist«, bemerkte ihr Kollege Frederik.
»Ich würde mich sehr freuen.«
»Du weißt schon, dass es in Hamburg immer regnet«, machte Lorenz einen Scherz.
»So oft nun auch nicht«, entgegnete Anja und lachte.
»Wo die Liebe hinfällt«, sagte nun Beate.
»So ist es. Wo die Liebe hinfällt.« Anja presste die Lippen zusammen.
»Vielen lieben Dank noch mal für das Abschiedsgeschenk. Das wäre echt nicht nötig gewesen.«
»Haben wir gerne gemacht«, erscholl es fast im Chor.
Die Kollegen verabschiedeten sich einzeln mit einer Umarmung von ihr, dann verließen sie das Büro. Zum Schluss blieben nur Anja und Nele übrig.
»Es wird komisch sein ohne dich«, sagte Nele.
»Du bekommst doch bestimmt bald einen neuen Partner«, entgegnete Anja.
»Das wird aber nicht dasselbe sein. Wir waren ein supereingespieltes Team.«
Anja nickte nur, dann sagte sie: »Tu mir einen Gefallen und gib deinem neuen Kollegen wenigstens eine Chance.«
»Kollege? Weißt du schon, wer es wird?«
»Nein, ich weiß es nicht. Vielleicht ist es eine Frau. Am Ende ist es doch egal, du solltest bloß nicht sofort deine Krallen ausfahren.«
»Jetzt tust du mir aber unrecht. Ich bin nur ehrlich, was ist falsch daran?«
»Eigentlich nichts, nur kommt nicht jeder damit klar.«
»Das ist dann nicht mein Problem, aber genug spekuliert. Den neuen Kollegen werde ich so fair behandeln, wie ich es bei dir auch getan habe. Jetzt geht es erst mal um dich. Ich wünsche dir alles, alles Gute! Und wenn Jochen dir dumm kommt, kriegt er die hier von mir.« Sie erhob lächelnd ihre Faust.
»Danke, das wird sicher nicht nötig sein. Jochen ist einfach wunderbar. Ich freue mich schon so auf unsere gemeinsame Zukunft in Hamburg.«
Nele wiegte unmerklich den Kopf, sie hoffte, dass Anja recht behielte. Sie sah das Ganze etwas kritischer, aber das war eher ihren persönlichen Erfahrungen mit der Liebe geschuldet.
»Du solltest auch langsam jemanden für dein Herz finden. Die Zeit rennt.«
»Wenn es passt, dann passt es. Außerdem bin ich ein glücklicher Single. Eine Beziehung bedeutet auch immer, Kompromisse einzugehen, das muss ich mir gerade nicht geben.«
»Aber wie stellst du dir das vor? Dass dein Partner sich nur nach deinem Gusto richtet? Wie kann so eine Beziehung funktionieren?«
»Genau deswegen bin ich ja Single. Wenn sich meine Einstellung ändert, sehen wir weiter.«
»Das ist ganz schön egoistisch.«
»Nein, nur ehrlich.«
»Ich bin ja nach wie vor davon überzeugt, dass du einfach Bindungsangst hast.«
»Quatsch. Aber das steht doch gerade eh nicht zur Debatte. Jetzt geht es um deinen Abschied. Ich habe noch was für dich.« Sie ging zum Schrank und holte eine Weinflasche heraus. »Das ist ein Sauvignon Blanc aus der Region. Die Hamburger sind ja Biertrinker. Nicht, dass du deine Wurzeln vergisst.«
Anja zwinkerte nun doch eine Träne aus dem Augenwinkel. »Wie könnte ich als Winzertochter das je vergessen. Vielen lieben Dank.« Sie nahm die Flasche entgegen. »Ich muss los. Jochen wartet unten.« Sie drückte Nele an sich, dann verließ sie das Büro und ließ Nele alleine zurück.
Schon jetzt fühlte es sich komisch an. Immerhin war Anja sieben Jahre lang ihre Partnerin bei der Kriminalpolizei Mannheim gewesen und damit am Ende die Person, mit der sie die meiste Zeit verbracht hatte, da sie alleinstehend war.
Wenn sie es hätte entscheiden dürfen, hätte sie keinen neuen Partner bekommen. Alleine kam sie am besten zurecht, aber sie kannte ihren Chef, schon bald würde er ihr eine neue Person ins Büro setzen. Dass sie dabei ein Wörtchen mitreden dürfte, glaubte sie nicht und das fand sie überhaupt nicht fair.
In Gedanken ging sie durch, wer der neue Partner sein könnte. Es gab da ein, zwei Personen, mit denen sie gut konnte und denen eine Versetzung sicherlich nicht ungelegen käme, um die polizeiinterne Karriere zu fördern.
»Vielleicht sollte ich bei Cheffe mal auf subtile Weise den einen oder anderen Namen fallen lassen«, dachte sie laut.
Als das Telefon klingelte, schrak sie zusammen, so sehr war sie in Gedanken versunken. Sie nahm den Hörer ab.
»Ich fahr sofort los«, sagte sie, nachdem sie dem Anrufer eine Weile zugehört hatte.
Keine dreißig Minuten später war sie am Tatort, einem Waldstück beim Mannheimer Stadtteil Schönau. Unzählige Polizeifahrzeuge sowie das rot-weiße Absperrband waren zu sehen, die Kollegen waren also schon bei der Arbeit.
»Was ist passiert?«, fragte sie, als sie beim Team der Spurensicherung ankam. Auf dem Boden lag die Leiche einer jungen Frau.
»Wie wäre es erst mal mit einem Hallo?«, ätzte Christian Schneider, der Leiter der Spurensicherung.
»Hallo. Was ist passiert?«, wiederholte sie ihre Frage.
»Das wissen wir noch nicht. Aber die Würgemale am Hals deuten darauf hin, dass sie erwürgt wurde.«
Nele bückte sich, um die Leiche genauer zu betrachten. An ihrem Hals sah sie deutlich die Druckstellen, von denen Christian gesprochen hatte. Sie war zwar keine Rechtsmedizinerin, aber ihre Erfahrung sagte ihr, dass die junge Frau noch nicht lange tot war.
»Wer hat die Leiche entdeckt?«
»Ein Jogger. Er wird von Sanitätern betreut. Scheint ziemlich neben der Spur zu sein.«
»Verstehe.«
»Sicher?« Christian schaute sie prüfend an. »Sei nett.«
»Bin ich doch immer.« Sie ging zu dem Zeugen.
»Guten Tag. Sie haben die Leiche gefunden?«
Der Mann, den sie auf Anfang zwanzig schätzte, nickte nur. Er war ziemlich blass im Gesicht. Ob das am Schock lag oder seine natürliche Hautfarbe war, konnte sie schwer einschätzen.
»Wann haben Sie sie entdeckt?«
»Vielleicht vor zwei Stunden. So genau weiß ich das nicht.« Sein Blick wanderte zu seiner Uhr.
»Also gegen zehn?«
»Ja, so um den Dreh müsste das gewesen sein.« Der Zeuge wirkte seltsam nervös. Er blickte überall hin, nur nicht zu ihr.
»Joggen Sie hier regelmäßig?«
»Seit einem Monat versuche ich, jeden Tag zu joggen.«
»Verstehe.« Nele konnte ihm das kaum abnehmen, denn der Zeuge wirkte alles andere als sportlich. Er war sehr kräftig und wog bestimmt über hundert Kilo bei einer Körpergröße von vermutlich etwas mehr als einem Meter fünfundachtzig und überragte sie damit deutlich.
»Wie heißen Sie?«
»Luis.«
»Und weiter?«
»Stehr«, nuschelte der Mann, der augenscheinlich mit der robusten Art von Nele seine Schwierigkeiten hatte. Er wirkte eingeschüchtert. In Neles Augen war das einfach nur lächerlich, es gab schließlich überhaupt keinen Grund dafür.
»Ist das nicht mühsam, mit so einem Gewicht zu joggen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, Sie sehen nicht gerade wie der typische Jogger aus.«
»Darf ich deswegen nicht joggen? Ich habe über die Zeit mehr als siebzig Kilo abgenommen.«
»Verstehe. Können Sie das auch beweisen?«
»Warum? Worauf wollen Sie hinaus?« Luis wirkte noch irritierter als zuvor. Seine Blicke wanderten zu dem Sanitäter, der einige Schritte zur Seite getreten war, als sie die Befragung aufgenommen hatte. Der Sanitäter reagierte nicht auf seinen Blick.
»Ich würde gerne ein Foto von Ihnen sehen, mit Ihrem alten Gewicht.«
»Warum? Das geht jetzt gar nicht und ich weiß nicht, was das mit dem hier zu tun haben sollte.« Der Kopf des Mannes lief rot an. Sie konnte nicht einschätzen, ob es an der Nervosität lag oder ob er wütend wurde.
»Es geht darum, wie weit Ihre Aussage vertrauenswürdig ist. Wollen Sie mir bitte jetzt ein Foto mit Ihrem alten Gewicht zeigen?«, erklärte sie. Vielleicht war er nie derart übergewichtig gewesen, dann würde sie auch seine anderen Aussagen in Zweifel ziehen müssen. Vielleicht war er selbst in die Tat verwickelt, ein Freak, der glaubte, die Polizei an der Nase herumführen zu können. Die Abschürfungen auf dem rechten Handrücken des Mannes waren ihr nämlich nicht entgangen.
»Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das Foto zeigen sollte. Mein Gewicht hat rein gar nichts mit dem Mord zu tun. Ich bin nur zufällig auf die Leiche gestoßen. Sie sollten froh sein, dass ich die Polizei gerufen habe. Ich hätte auch einfach weiterlaufen können, wie der Mann vor mir.«
»Noch wissen wir gar nicht, ob es ein Mord ist. Wie kommen Sie darauf?«, bohrte Nele nach. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Wer sollte dieser ominöse andere Mann sein?
»Zeigen Sie mir jetzt das Foto? Sonst müssen wir unser Gespräch auf dem Präsidium fortführen«, drohte sie.
Doch statt zu antworten, lief der Zeuge einfach weg.