4
»M
usstest du den Zeugen gleich verhaften?«, fragte Ernst Sutter.
»Hallo! Vielleicht ist es dir entgangen, aber der Zeuge ist einfach weggelaufen. Was hätte ich denn tun sollen?«
»Ich habe nicht gesagt, dass du ihm nicht hättest nachlaufen und ihn stellen sollen, aber ihn gleich zu verhaften, ist doch etwas unverhältnismäßig.«
»Er hat gelogen.«
»Weil du ihm Angst gemacht hast.«
»Ich? Der Typ ist einen Kopf größer als ich. Wie kann der vor mir Angst haben?«
Ernst gab einen Laut von sich, der mehr sagte, als Worte es in diesem Moment vermocht hätten. Es war offensichtlich, dass ihr Chef mächtig angefressen war. Dabei hatte sie nur ihre Arbeit gemacht. Der Zeuge hatte ihr keine andere Wahl gelassen, nur wollte ihr Chef das nicht verstehen.
»Hat er seinen Anwalt auf dich gehetzt?«
»Wenn es mal nur der Anwalt gewesen wäre. Er hat mächtig Dampf in den sozialen Medien abgelassen. Unser Facebookprofil hat schon lange nicht mehr so viele negative Einträge zu verzeichnen gehabt. Du weißt doch, seit die Presse in diesem Missbrauchsfall in Lügde die Sache mit den verschwundenen Datenträgern ausgeschlachtet hat, ist das Präsidium sehr vorsichtig aus Sorge, dass uns Ähnliches passieren könnte. Wir können uns derzeit keine Fehler erlauben.«
»Die Herren Schlipsträger in den oberen Etagen sollen sich mal nicht ins Hemd machen. Wo gehobelt wird, da fallen Späne.«
»Dass du immer so uneinsichtig sein musst.«
»Bin ich gar nicht. Du tust mir unrecht, ich habe nur meinen Job erledigt.«
»Ist ja gut.« Ihr Chef winkte genervt ab. Nele sah die Geste als kleines Zeichen ihres Sieges, da sie hartnäckig ihre Position verteidigt hatte. »Wo stehen wir in dem Fall?«
»Noch ziemlich am Anfang.«
Ernst hob seinen Kopf. Es war offensichtlich, dass er ihre Antwort nicht guthieß.
»Zumindest haben wir die Identität der Toten feststellen können. Christian geht davon aus, dass die Frau erwürgt wurde. Außerdem fanden sich Spermaspuren. Die Spurensicherung vermutet, dass sie vergewaltigt wurde. Ob das post mortem stattfand, können sie noch nicht sagen. Sie warten die Ergebnisse der Rechtsmedizin ab.«
»Du scheinst nicht überzeugt?«
»Na ja, es ist doch gut möglich, dass sie vorher einvernehmlichen Sex mit ihrem Freund hatte«, gab Nele zu bedenken. Sie wollte sich, im Gegensatz zu Christians Team, nicht sofort auf eine Vergewaltigung festlegen, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass es sich so verhalten hatte, recht groß war. Warum sonst sollte jemand eine junge Frau im Wald erwürgen? Doch auch darauf könnte es unzählige andere Antworten geben, die es noch zu finden galt.
»Und wer ist die Tote?«, fragte Ernst. Auf ihren Einwand mit der Vergewaltigung ging er nicht ein. Sein Blick verriet auch nicht, ob er ihrer Überlegung zustimmte. Obwohl Nele schon acht Jahre für ihn arbeitete, konnte sie ihren Chef und seine Gedankengänge nicht immer einschätzen.
»Natalie Pick, zweiundzwanzig Jahre alt. Ihre Eltern haben sie gestern Abend als vermisst gemeldet, weil sie nicht nach Hause gekommen ist, und bei ihrem Freund war sie auch nicht.« Christian hatte ihr das erst vor fünfzehn Minuten telefonisch durchgegeben.
»Hat die Handyortung etwas ergeben?« Der Blick ihres Vorgesetzten wanderte zum Bildschirm.
»Ja, das Handy wurde ganz in der Nähe des Tatorts gefunden, heute Morgen. Unsere Experten sind gerade dabei, es auf Spuren zu untersuchen und die Anrufe auszuwerten.«
»Gut, wir sehen uns um 18 Uhr zur Teambesprechung«, antwortete er, sein Blick verharrte auf dem Bildschirm, für Nele ein Zeichen, dass sie gehen konnte.
Auf dem Weg in ihr Büro wurde sie von Martin gestoppt, er arbeitete wie sie im Team von Ernst. »Und, vermisst du Anja schon?«, fragte er.
»Nein«, blieb sie kurz angebunden.
»Ist das nicht trotzdem komisch? Ihr habt so lange zusammengearbeitet.«
»Stimmt, aber wir waren nicht verheiratet. Das ist so mit Kollegen.«
»Sag mal, hast du tatsächlich diesen Zeugen verhaftet und mit aufs Präsidium genommen?«
»Ja, wieso lachst du?«
»Die Sache scheint nicht ganz so gut angekommen zu sein.«
»Ist das der eigentliche Grund für dieses Gespräch?« Nele wurde ungehalten. Wenn ihr Chef ihr Vorwürfe wegen ihres Übereifers machte, war das eine Sache. Aber wenn ein Kollege in dieselbe Kerbe schlug, nervte sie das gewaltig.
»Nein, nein.« Martin hob abwehrend die Hände. »Mit Anja wäre das vermutlich nicht passiert.«
»Das hat rein gar nichts mit Anja zu tun. Noch mal für dich und für alle anderen Lästerschwestern: Der Zeuge ist meinen Fragen ausgewichen und dann weggelaufen. Mir blieb gar keine andere Wahl, als ihn zu verhaften. Ein ordentliches Gespräch war nur auf dem Präsidium möglich. Lass Anja da aus dem Spiel«, wurde sie nun laut. Diese Vorwürfe musste sie sich nicht gefallen lassen, schon gar nicht von Martin, dessen Akte über Verfehlungen während des Dienstes sicherlich nicht die dünnste war.
»Komm mal runter«, blieb Martin gelassen. »Weißt du denn schon, wer dein neuer Kollege sein wird?«
»Nein, weiß ich nicht. Und wenn es nach mir ginge, brauchte ich auch keinen. Ich komme ganz gut alleine zurecht. Hast du denn was gehört?« Dass Martin sie ausgerechnet auf den potenziellen neuen Kollegen ansprach, hatte sicherlich einen Grund, denn er war bestimmt nicht auf Small Talk aus, dafür kannte sie ihren überehrgeizigen Kollegen nur zu gut. Zum Glück hatte er bereits einen Partner, der ihm zugeordnet war. Sie und Martin hätten als Team niemals funktioniert.
»Nichts Konkretes. Nur, dass er wohl nicht aus der Ecke kommen soll.«
»Aus der Ecke? Du meinst, nicht von der Mannheimer Polizei oder aus Baden-Württemberg?«
»Aus Norddeutschland, munkelt man.«
»Und wer soll das sein?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich denke, Ernst wird uns das bald mitteilen.«
»Verstehe. Gibt es sonst noch was?«
»Nein, warum fragst du?«
»Gut, dann kann ich ja weiter.« Ohne eine letzte Bemerkung von Martin abzuwarten, entfernte sie sich.
Wer wohl dieser neue Kollege war? Wenn der Flurfunk bereits meldete, dass es ein auswärtiger Kollege sein könnte, musste da was dran sein.
Es war nur komisch, dass Ernst noch kein Wort über ihn verloren hatte, schließlich hatte sie ein Recht darauf zu erfahren, mit wem sie zusammenarbeiten würde. Man konnte ihr doch nicht irgendeine beliebige Person vor die Nase setzen.
Ernst schon,
dachte sie leicht gereizt. Sie würde sich den Tag aber nicht mit Vermutungen über den neuen Kollegen vermiesen lassen, also holte sie ihre Sachen aus dem Büro, zog ihre Jacke an und verließ das Präsidium, um den Freund der Toten aufzusuchen.
»Kommen Sie doch bitte rein«, sagte Paul Biller und hielt der Kommissarin die Tür seiner Wohnung auf. Seine Augen waren gerötet, ein deutliches Anzeichen dafür, dass er geweint hatte.
Nele folgte ihm ins Wohnzimmer. Die Wohnung hatte eine überschaubare Größe, jedenfalls nach dem Flur und dem Wohnzimmer zu urteilen. Sie wirkte aufgeräumt, an der Wand hing ein großes Bild von ihm und Natalie. Beide lachten und wirkten sehr glücklich. Allerdings war so ein Bild nur eine Momentaufnahme, von solchen Dingen ließ sich Nele nicht täuschen.
»Der Verlust Ihrer Freundin tut mir leid«, versuchte sie, ihm ihr Beileid kundzutun. In solchen Dingen war sie noch nie besonders gut gewesen. Es war schon immer Anjas Stärke gewesen. Für Nele hatten Beileidsbekundungen während des Dienstes immer etwas Scheinheiliges, denn der Tod war nun mal ein Teil ihres Berufes und sie selbst stand in keiner persönlichen Beziehung zu den Toten, geschweige denn zu den Hinterbliebenen. Außerdem kam es nicht selten vor, dass einer der Angehörigen sich als Mörder entpuppte. Einem Täter dann sein Beileid für den Verlust einer Person auszusprechen, hatte schon etwas Zynisches, fand Nele.
»Danke. Ich kann es noch immer nicht verstehen. Warum ausgerechnet Natalie?« Er legte sich die rechte Hand vor die Augen. Es war offensichtlich, dass er wieder anfing zu weinen.
»Genau das will ich herausfinden. Wann haben Sie sich zuletzt gesehen?«
»Das war gestern Abend. Kurz nach 22 Uhr ging ihr Bus, ich glaube 22:15 Uhr oder so.«
»Hat sie kein Auto?«
»Nein. Sie macht eine Ausbildung und wohnt noch bei ihren Eltern.«
»Haben Sie ein Auto?«
»Ja, warum?«
»Warum haben Sie Ihre Freundin nicht nach Hause gefahren?«
Paul schaute sie entgeistert an. Dann brach er endgültig in Tränen aus. Er setzte sich auf die Couch.
Dass er etwas mit dem Mord zu tun haben könnte, schien in diesem Augenblick fern jeder Vernunft. So niedergeschlagen wie der Freund wirkte, müsste er schon ein sehr guter Schauspieler sein, um ihr das vorspielen zu können.
»Möchten Sie mir nun sagen, warum Sie Ihre Freundin nicht nach Hause gefahren haben?«, wiederholte sie ihre Frage, nachdem sie ihm etwas Zeit gegeben hatte, sich zu sammeln.
»Sie fährt immer mit dem Bus. Ihr Arbeitgeber hat ihr eine Dauerfahrkarte bezahlt. Ihre Eltern wohnen in Ludwigshafen, da macht es keinen Sinn, wenn ich sie jedes Mal nach Hause fahre.«
»Verstehe. Also spielen wirtschaftliche Gründe eine Rolle.«
»Meine Freundin wurde ermordet und Sie …« Paul sprach den Gedanken nicht aus, stattdessen schluchzte er. »Ich wünschte, ich hätte sie heimgefahren, dann wäre das alles nicht passiert.«
»Vermutlich nicht«, bestätigte sie.
Dass ihre ehrliche Antwort in diesem Moment unpassend war, erkannte sie sofort. Pauls Schluchzen wurde immer lauter, er schlug die Hände vors Gesicht.
»Brauchen Sie einen Arzt?«
Paul antwortete nicht.
Nele gab ihm etwas Zeit, um sich zu beruhigen, schließlich hatte sie noch ein paar Fragen und einen erneuten Besuch wollte sie sich und ihm wenn möglich ersparen.
»Hatte Natalie in letzter Zeit Ärger mit jemandem?«
»Ärger? Wie meinen Sie das?«, fragte Paul und wischte sich mit dem Ärmel seines Pullovers die Tränen vom Gesicht.
»Gab es jemanden, der ihr nachstellte, weil sie ihn abblitzen ließ? Verschmähte Liebe ist ein starkes Mordmotiv.«
»Nein, da war niemand. Natalie war keines dieser Mädchen, die mit anderen Männern flirten. Sie ging ja nicht mal feiern.«
»Hat sie ein Profil in den sozialen Netzwerken?«
»Sie meinen Facebook oder Instagram?«
»Ja.«
»Nein. Ich sagte ja, sie war anders. Sie war ruhig und schüchtern. Sie mochte Instagram nicht. Das war für sie alles verlogen.«
»Das ist für eine junge Frau sehr ungewöhnlich.«
»Sie war auch außergewöhnlich.« Zum ersten Mal schaute Paul sie an. Seine Augen strahlten.
»Hatten Sie Streit mit ihr?«
»Nein.« Seine Antwort wirkte nicht aufrichtig, sie kam zu schnell und Pauls Blick war dabei wieder zum Boden gewandert und dann zur Seite, aber nicht zu ihr.
»Sicher? Sie wissen, dass Sie nicht lügen dürfen. Das könnte sich während der Ermittlungen negativ für Sie auswirken.«
Paul schluckte. »Ich habe sie geliebt. Ich hätte ihr niemals etwas angetan. Sie ist das Beste, was mir je passiert ist. Das müssen Sie mir glauben.«
»Hatten Sie Streit?«, blieb Nele unbeeindruckt.
Wieder schluckte Paul, diesmal ließ er sich mit seiner Antwort Zeit. »Ja, aber es war nichts Dramatisches.«
»Was war der Grund?«
»Sie wollte eigentlich nach ihrer Ausbildung ab dem Sommer studieren, aber sie schien ihre Meinung geändert zu haben.«
»Inwiefern?«
»Plötzlich wollte sie sich vor dem Studium ein Jahr freinehmen, um nach Asien zu reisen.«
»Und was ist so schlimm daran?«
»Was wäre dann aus mir geworden? Ich kann meinen Job nicht ein Jahr ruhen lassen, dann verliere ich ihn. Das war sehr egoistisch von ihr.«
»Und, hat sie sich umstimmen lassen?«
Paul lachte auf, es war ein verkrampftes Lachen. »Da kennen Sie Natalie schlecht. So lieb sie war, so dickköpfig konnte sie sein. Ich weiß nicht, wer ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hat. Man konnte nicht mit ihr darüber diskutieren. Ein Jahr würde unsere Liebe locker aushalten, behauptete sie immer, und wenn sie es jetzt nicht machen würde, würde sie es ihr Leben lang bereuen.« Paul schüttelte den Kopf. »Nun ist es eh egal, jetzt ist sie tot.«
»Hier ist meine Karte, falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, was uns weiterhelfen könnte«, sagte Nele. Paul nahm die Karte und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden. »Wo ist die Haltestelle?«
»Wie bitte?«
»Na, die Haltestelle, die Natalie genutzt hat.«
»Ach so. Sie können sie gar nicht verfehlen. Aus der Haustür rechts, knapp dreihundert Meter.«
»Danke.«
»Ich begleite Sie zur Tür«, sagte er. Er wirkte inzwischen deutlich gefasster.
»Ich finde schon alleine raus«, entgegnete sie und wollte gerade gehen, als ihr noch etwas einfiel. »Das hätte ich fast vergessen. Eine Frage habe ich noch.«
»Ja, bitte?«
»Hatten Sie und Natalie Pick Sex, bevor sie Ihre Wohnung verlassen hat?«
Paul wirkte überrumpelt, es dauerte ein wenig, bis er sich gefasst hatte. »Nein, hatten wir nicht. Warum interessiert Sie das? Was hat das mit ihrem Tod zu tun?«
»Vermutlich nichts«, blieb sie vage und verließ die Wohnung.
Entweder hatte Paul Biller aus irgendeinem Grund gelogen oder Christian hatte mit seiner Annahme, dass Natalie vergewaltigt worden war, recht.
Sie ging zur Haltestelle, die etwas abseits lag. In der Nähe gab es keine Häuser, aus denen man einen direkten Blick auf die Haltestelle hatte, somit war es eher unwahrscheinlich, dass einer der Anwohner etwas gesehen haben könnte, dennoch würde sie Ernst bitten, Kollegen für die Befragung herzuschicken. Man konnte nie wissen.
Hat dich der Mistkerl hier überrascht und dich ins Auto gezerrt, um dich zu entführen?
, fragte sie sich, während sie die Haltestelle genauer unter die Lupe nahm. Oder vielleicht doch an der Haltestelle deiner Eltern?
Sie musste sich unbedingt auch dort umschauen. Dass Natalie woanders hingefahren sein könnte, wollte sie nicht glauben, dennoch würde sie auch die Busfahrer befragen, die zur möglichen Tatzeit die Strecke gefahren waren. Möglicherweise erinnerte sich einer an Natalie und wenn es richtig gut liefe, gäbe es sogar eine Kameraaufzeichnung aus dem Bus.
Ihr Bauchgefühl sagte ihr allerdings, dass Natalie den Bus nie betreten hatte und auch nicht in Ludwigshafen entführt worden war. Der Käfertaler Wald, wo man die Leiche gefunden hatte, war direkt nebenan. Warum sollte der Täter sie also in der Nähe der Eltern entführen, um die Leiche später in der Nähe des Wohnorts ihres Freundes im Wald zu verstecken?
Nele schüttelte den Kopf. Da blieb ihr Blick plötzlich an einer Stelle auf dem Asphalt hängen.
»Blut!«
-
Ende der Leseprobe –
Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das komplette Buch gibt es als Ebook oder Taschenbuch bei Amazon.de