»Der Führungsanspruch der SED ist aus der Verfassung der DDR gestrichen, auf Antrag aller zehn Volkskammerfraktionen«, zitierte Schmidt am nächsten Morgen die Sächsische Zeitung. »Die DDR ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land. So lautet jetzt Artikel eins, Absatz eins. Gestern in der Volkskammer beschlossen. Und Gorbatschow war beim Papst, beide äußerten den Wunsch, die bilateralen Beziehungen auszubauen.« Schmidt sah auf. »Na, geht es euch jetzt besser?«

Falck und Bach sahen sich an und schüttelten die Köpfe. Es war Falcks zweiter Arbeitstag, und er hatte sich noch nicht einmal richtig von dem ersten Tag erholt.

Schmidt schnaubte. »Ja, warum auch? Große Gesten und Blabla, was wirklich wichtig ist, bestimmen andere im Kämmerchen. Die Müslifresser, die jetzt am runden Tisch sitzen, verschwinden demnächst in der Versenkung. Der Gewinner ist Kohl! Wartet es nur ab.«

Es war nicht herauszulesen, was Schmidt wirklich über all das dachte, stellte Falck fest. Begrüßte er die neue Freiheit? War er unsicher, was als Nächstes geschah? Orakelte er nur, oder waren das seine schlimmsten Befürchtungen?

Die Tür ging auf und Sybille Suderberg betrat den Raum. Sie trug ein neues, dem Wetter genauso wenig angemessenes Outfit wie tags zuvor. Die Parfümwolke folgte ihr verzögert, traf die drei im Zimmer aber mit umso größerer Wucht.

»Guten Morgen!«, sagte Suderberg und sah sich um.

»Morgen«, brummten Bach und Falck im Chor.

»Sie haben sich nicht wirklich um einen Arbeitstisch für mich gekümmert«, stellte sie enttäuscht fest.

»Ist ja auch nicht unsere Aufgabe!«, knurrte Schmidt hinter der Zeitung.

»Aber irgendwo muss ich sitzen«, meinte Suderberg vorwurfsvoll.

»Wir könnten den Tisch noch abräumen.« Falck deutete auf den Tisch, auf dem sich einiges stapelte. Da niemand darauf einging, stand er auf und begann, die oben liegenden Aktenordner abzutragen. Endlich kam Bach ihm zu Hilfe.

»Wir haben so was wie ein Lager am anderen Ende des Ganges.«

 

»Wo sind Sie denn untergekommen?«, fragte Steffi Bach, um das peinliche Schweigen nach der Umräumaktion zu durchbrechen. Hauptkommissarin Suderberg hatte an ihrem improvisierten Schreibtisch Platz genommen und den Inhalt ihrer Tasche vor sich ausgebreitet. Jetzt blickte sie sich mit einer Mischung aus Abneigung und Amüsement um.

»Ich habe mir selbst etwas gesucht«, antwortete sie.

»Aha, und wo?«, fragte Bach weiter und war offensichtlich froh, dass die neue Kollegin auf das Gespräch eingegangen war.

»Na ja, in einem Hotel. Offenbar gibt es sonst keine Unterkünfte, zumindest keine …« Sie verstummte und zuckte mit den Achseln.

… die ihrem Anspruch genügen, dachte Falck den Satz für sich zu Ende. Er hatte versucht, Suderbergs Alter zu schätzen, war sich aber unsicher. Sie musste um die dreißig sein, Mitte

»Und welches Hotel?«, fragte Bach hartnäckig weiter, um das Gespräch nicht einschlafen zu lassen.

»Das Bellevue, gleich hier die Straße runter.«

Falck sah auf und bemerkte im Augenwinkel auch eine Regung bei Schmidt. Das Bellevue war ein Devisenhotel und damit für den normalen DDR-Bürger tabu und sowieso nicht erschwinglich. Wahrscheinlich verbuchte die Kollegin das alles unter Spesen und würde ihrem Vorgesetzten alle möglichen Schauergeschichten über die Zustände in der DDR erzählen. Im Westen glaubten sie ihr bestimmt jedes Wort.

Jetzt fiel ihm ein, an wen ihn Sybille Suderberg erinnerte. Sie sah aus wie eine der abweisend dreinblickenden Frauen in dem Musikvideo von Robert Palmer, das er kürzlich gesehen hatte.

Suderberg räusperte sich. »Sagen Sie mal«, begann sie, »ich habe gehört, Ihnen ist gestern eine Leiche abhandengekommen?«

Schmidt schnaufte unwillig. »Nein, das stimmt so nicht. Es handelte sich um eine Frau, die man versehentlich für tot gehalten hatte.«

»Passiert … Ich meine, passiert das hier öfter?«, fragte Suderberg.

»Dass man jemanden fälschlich für tot erklärt? Nein!«, knurrte Schmidt.

Suderberg räusperte sich wieder und suchte offenbar nach den richtigen Worten. »Hören Sie, ich habe doch nur um Unterstützung gebeten, um in meinem Fall ermitteln zu können. Das ist hier keine Ost-West-Sache, oder so. Ich will Ihnen auch nichts über Ihre Arbeit erzählen. Ich war nur auf die Zustände hier … nicht ganz vorbereitet.«

Die Suderberg machte eine vage Bewegung in den Raum. »Na, ich war bisher noch nie in der Zone gewesen. Ich hätte nicht gedacht, dass wirklich alles so … so heruntergekommen ist. Die Straßen, die Häuser und dann der Dreck überall. Alles ist so grau. Die Luft ist verpestet, riechen Sie das gar nicht?«

Schmidt erhob sich schweigend, um demonstrativ das Fenster zu öffnen.

»In der Zone?«, fragte er, als er sich wieder hingesetzt hatte.

»Das sagt man doch so, oder? Zumindest bei uns. Die Zone. Ist doch nicht böse gemeint. Und ich weiß natürlich, dass hier die Russen schalten und walten. Aber ich hätte wirklich nicht gedacht, dass hier alles immer noch so kaputt ist. Hier stehen noch die Ruinen aus dem Krieg herum. Warum wurde das denn nicht längst wieder aufgebaut? Es waren doch mehr als vierzig Jahre Zeit. Diese alten Wohnhäuser überall, schrecklich! Haben die denn überhaupt Strom und Wasser?«

»Also erstens, wir haben alle Strom und Wasser, was denken Sie denn? Und zweitens, hier herrschte Sozialismus, verstehen Sie? Das lief hier anders als im Westen. Wer nicht spurte, ging ab in den Bau. Und die alten Häuser wurden absichtlich nicht instand gehalten, die sollten nämlich alle abgerissen werden, um Bauwerke im sozialistischen Antlitz errichten zu können. Und die Ruine der Frauenkirche, die Sie vermutlich meinen, ist ein Mahnmal gegen den Krieg. Wir zahlen übrigens immer noch Reparationsleistungen an die Russen. Das musste der Westen nie, soweit ich weiß.« Schmidt musste nach der langen Rede erst mal tief Luft holen. »Wissen Sie, Sie können nicht hierherkommen und Dinge behaupten, von denen Sie keine Ahnung haben, und uns einfach mal so unterstellen, dass wir alle bei der Stasi gewesen wären.«

»Sie waren also nicht bei der Stasi?« Sie hatte Schmidt

»Nein, war ich nicht!«, stöhnte Schmidt.

»Aber Sie sind doch schon ein paar Jahre bei der Kripo, nehme ich an. Da griff doch eins ins andere, oder nicht?« Die westdeutsche Kollegin ließ sich von Schmidts abweisender Art nicht irritieren.

Schmidt schloss für eine Sekunde die Augen. »Ja, zwangsläufig hatte man mit denen zu tun. Aber was wollen Sie denn damit sagen?«

Suderberg riss die Augen auf und hob abwehrend die Hände. »Gar nichts, nichts, wirklich. Ich dachte nur, dass es vielleicht hilfreich sein könnte bei der Suche nach unserem Täter!«

»Was meinen Sie mit es

»Na, die Mittel, die uns zur Verfügung stünden, die Stasi hatte doch überall ihre Finger drin, oder?«

»Kann schon sein«, knurrte Schmidt, »aber wir sind nicht von der Stasi!«

»Hab ich ja auch nicht behauptet. Regen Sie sich doch nicht gleich so auf.«

Bach erhob sich so schnell, dass es wie ein Aufspringen wirkte. »Wollen Sie uns vielleicht mal etwas über den Mann erzählen, den Sie suchen?«

Die Suderberg bedachte sie mit einem Blick, der Falck mitleidig vorkam und der Steffi Bach unwillkürlich dazu veranlasste, an sich hinunterzusehen. Es war nichts falsch an ihr, fand Falck, sie trug eine hellblaue Jeans und einen beigen Pullover. Bach war eigentlich sehr hübsch. Warum benahm sich die Suderberg so seltsam? Ob sie nur ihre Unsicherheit kaschierte? Aber eigentlich wirkte sie kein bisschen unsicher.

»Also gut«, sagte die Suderberg. »In den letzten Jahren kam es in der Frankfurter Rotlichtszene zu Konflikten, die auch

Falck betrachtete die Bilder. Sie zeigten einen jungen Mann, schmal, mit sauber gescheiteltem Haar und keinen besonderen Merkmalen.

Eine Weile war es still im Raum. Auch Schmidt schwieg, doch seine Skepsis war förmlich greifbar.

Suderberg nickte. »Zwei Tage nach dem Mauerfall kam es in der Nähe von Hannover zu einem schweren Autounfall. Ein Auto kam ohne Fremdeinwirkung von der Straße ab und brannte aus. Es gab einen Toten. Die Leiche war völlig entstellt. Es stellte sich heraus, dass das Auto gestohlen war. Bei der Leiche fand man Überreste von Papieren von Harald Spoon. Man ging also davon aus, dass er das Opfer war. Ich vermute jedoch inzwischen, dass der Tote im Auto nicht Harald Spoon war.«

»Wer dann?«, fragte Schmidt.

»Das wissen wir nicht. Aber Spoon hat wahrscheinlich dessen Identität angenommen.«

»Das scheint bei Ihnen ja öfter vorzukommen«, sagte Schmidt und grinste hämisch. Doch Falck sah, dass er sich im nächsten Moment dafür schämte. Was war nur mit seinem Vorgesetzten los? Hinter seiner griesgrämigen Miene schien eigentlich ein ganz umgänglicher Mensch zu stecken.

Die Suderberg strich sich über das blonde Haar, ihre rot geschminkten Lippen waren nur noch ein schmaler Strich. Durch Schmidts unnötige Bemerkung war es wieder still geworden. Bach verschränkte die Arme und sah mit finsterem Gesicht zu ihrem Vorgesetzten hin. Falck ertappte sich bei dem Gedanken: Früher war alles einfacher gewesen. Viel einfacher.

Schmidt klärte die Situation auf seine Art. Er zündete sich eine Zigarette an. »Na dann. Wollen wir mal zur Sache kommen!«, nuschelte er an der Kippe vorbei. »Wie wollen Sie vorgehen?«

»Ich hatte gehofft, man könnte vielleicht per Computer auf die Datenbanken der Meldeämter zugreifen. Wir müssen prüfen, wer in den letzten Wochen in die DDR eingereist ist.« Suderberg sah von einem zum anderen. »Aber … so läuft das hier nicht, oder?«, fragte sie konsterniert.

»Wir können uns mit einer Suchanfrage an das Meldeamt wenden«, erklärte Schmidt erstaunlich sachlich, »aber dazu müssten wir wissen, wen wir suchen. Und ich fürchte, die haben gerade viel zu tun. Momentan gehen täglich jede Menge Leute in den Westen. Außerdem ist davon auszugehen, dass der Gesuchte sich sowieso nicht ordnungsgemäß anmelden wird. Ich denke, wir müssen auf die gute alte Vorortermittlung zurückgreifen. Sie müssen doch einen konkreten Grund haben, warum Sie ausgerechnet nach Dresden gekommen sind.«

Suderberg nickte. »Vor zwei Wochen erfuhr ich eher zufällig, dass es bei einer Schlägerei in einer Diskothek einen Toten gegeben hat. Einen jungen Mann.«

»Stimmt. Ein gewisser Torsten Gwisdek«, bestätigte Schmidt und hatte bereits den richtigen Hefter bei der Hand. »Eine Schlägerei, offenbar von ihm selbst angezettelt. Er galt als aggressiv und gewalttätig. Er provozierte einen Streit, bekam aber selbst einen so heftigen Schlag ab, dass er sich buchstäblich das Genick brach.«

»Ich weiß. Ja, das war übel«, mischte sich Steffi Bach ein. »Wie dessen Kopf baumelte …«

»Das war kein Unfall«, sagte Suderberg. »Der Mann, den wir suchen, ist bewandert im Umgang mit Handwaffen, aber auch in tödlichen Kampftechniken. Es wäre nicht das erste Mal, dass er jemanden auf diese Weise umbringt.«

»Wie viele soll er denn schon umgebracht haben?«, fragte Schmidt.

»Sicher wissen wir von fünf, vermutlich aber zwanzig oder mehr.«

»Nicht Ihr Ernst!?«, rief Steffi Bach.

»Machen Sie mal halblang«, ermahnte sie Schmidt. »Wir sind hier solche Sachen nicht gewöhnt. So etwas gab es einfach nicht!«

»Höchstens auf staatlicher Ebene, oder?«

»Was soll denn das nun wieder heißen?«, entrüstete sich Schmidt.

»Das wissen Sie schon selbst!«

Es war, als schaute man streitenden Kleinkindern zu, dachte Falck und stand zu seiner eigenen Überraschung auf.

»Muss das immer sein?«, sagte er laut. »Können wir nicht einfach mal an die Arbeit gehen? Wir sind doch Polizisten, egal ob DDR oder BRD. Wie wäre es, wenn wir diesen Gwisdek mal unter die Lupe nehmen. Wenn der Auftragsmörder ihn umgebracht haben soll, dann muss es einen Grund dafür geben.«

»Da hast du recht, aber unsere Arbeit dürfen wir auch nicht vernachlässigen!«, unterbrach ihn Schmidt, der offenbar seine Vorgesetztenrolle in Gefahr sah. »Die Angelegenheit mit dem Vergewaltiger zum Beispiel. Frau Suderberg …«

»Hauptkommissarin Suderberg«, verbesserte sie.

Schmidt holte tief Luft. »Frau Hauptkommissarin Suderberg wird uns begleiten, damit sie einen Einblick in unsere Vorgehensweise bekommt. Soweit ich weiß, wohnte Torsten Gwisdek in der Neustadt, ebenso Heiko Rühle. Da können wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.«