»Genosse Falck, kommen Sie rein!«

Falck betrat das Büro seines Vorgesetzten. »Genosse Oberleutnant«, grüßte er.

Exner, Oberleutnant der VP, knapp vierzig, mit kurzem dunklem Haar und Oberlippenbart, hieß Falck, auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Hinter Exner an der Wand, zwischen den beiden Fenstern, hing ein Bild von Erich Honecker. Auf seinem Schreibtisch standen zwei grüne Telefone und eine Zwischensprechanlage. Falck mochte Exner. Er war ein ruhiger, besonnener Mann, der ihn jetzt forschend ansah.

»Geht es Ihnen gut, Genosse?«, fragte er.

»Ja. Danke der Nachfrage.« Genau genommen ging es ihm nicht gut. Spätestens auf dem Weg zurück zur Katharinenstraße war ihm bewusst geworden, was eigentlich geschehen war, was er gesehen hatte. Wetzig war nicht sein erster Toter gewesen. Aber er war so knapp vor seinem Erscheinen gestorben, dass Falck noch die Wärme seines Körpers hatte spüren können. Außerdem bekam er einfach den Gedanken nicht aus dem Kopf, dass er einen Mord hätte verhindern können, wäre er rechtzeitig da gewesen.

»Sie wirken unzufrieden, gibt es etwas, das Sie sagen möchten?« Exner drehte skeptisch fragend den Kopf zur Seite.

»Ich habe den Eindruck, dass der ermittelnde Hauptmann vor Ort meine Aussage nicht ernst genommen hat.«

»Weil Sie glauben, Wetzig sei von zwei Männern über das

Falck nickte. Er musste vorsichtig sein. Schon lang hatte er das Gefühl, als ob man seinen Diensteifer mit einer gewissen Belustigung betrachtete.

»Das wäre fast schon eine politische Sache. Einen ABV, einen Volkspolizisten zu ermorden.«

Falck sah auf. Was sollte das? Exners Aussage war ebenso unnötig wie Schmidts Bemerkung, Wetzig könnte noch leben. Er hatte den Mann schließlich nicht umgebracht, und es änderte auch nichts an dem Tatbestand, ob das nun politisch war oder nicht.

»Genosse Oberleutnant, ich will konstruktiv zur Aufklärung des Vorfalls beitragen. Es muss doch möglich sein, eine beige Simson ausfindig zu machen, die im näheren Umkreis gemeldet ist. Selbst wenn es fünfzig wären, anhand der Helme könnte ich den Kreis der Verdächtigen einschränken. Wenn dann noch jemand darunter ist, der vielleicht schon einmal straffällig geworden ist …«

Exner bremste ihn ein. »Das ist alles richtig, Genosse. Aber etwas Vertrauen müssen Sie der kriminalistischen Abteilung unseres Organs schon entgegenbringen.«

»Das tue ich doch«, beeilte Falck sich zu sagen. Nur diesem komischen Schmidt vertraute er nicht, der zu bequem war, eine Treppe hochzusteigen, wenn es ihm nicht erforderlich schien. Falck bemühte sich, das Thema zu wechseln. »Darf ich fragen, Genosse Oberleutnant, weshalb ich Wetzig ursprünglich zugeteilt werden sollte? Hauptmann Schmidt deutete an, dass es um ein Sexualdelikt ging.«

Exner nickte. »Vorletzte Nacht hat jemand eine junge Frau bis nach Hause verfolgt. Sie kam von der Gymnastik, gegen zehn Uhr abends war das. Es handelt sich um eine Frau Pliske, wohnhaft in der Talstraße 8. Sie ist Lehrerin. Ihre Haustür war

»Konnte sie den Mann beschreiben? Oder eine der anderen betroffenen Frauen?«, fragte Falck. Es war bekannt, dass in der Dresdner Neustadt allerhand seltsames Volk wohnte, Studenten, junge Paare in wilder Ehe, aber auch Asoziale, ehemalige Knastis, Punker. Kein Wunder, wenn es hier zu solchen Vorfällen kam.

Exner schüttelte den Kopf. »Es wird gerade geprüft, ob ein entlassener Sexualstraftäter in die Gegend gezogen ist oder sich einer der Anwohner in früheren Zeiten auffällig zeigte.«

»Genosse Oberleutnant, wenn ich einen Vorschlag machen dürfte?«

»Nur zu.«

Vielleicht machte er sich jetzt vollends zum Idioten. Egal. Falck holte noch einmal Luft. »Also, von anderen Genossen weiß ich, dass sich gelegentlich Schutzpolizisten in Zivil zur Unterstützung der Genossen der Kripo unter die Bevölkerung mischen. Vielleicht sollte ich mich auch auf diese Art und Weise umhören? Vielleicht gelänge es mir, Kontakt aufzunehmen und mehr zu erfahren. Vielleicht könnte ich den Besitzer der Simson ausfindig machen oder hören, was man über Wetzigs Tod so erzählt?«

»Sie möchten gern Geheimagent spielen?« Exner hob belustigt die Augenbrauen.

Entmutigt sackte Falck in sich zusammen.

»Es stimmt allerdings, dass die Kripo gelegentlich um Unterstützung bittet. Da geht es jedoch eher um Bagatelldelikte oder kleinere Einbruchreihen. In diesem Falle wäre es ein eher außergewöhnliches Vorgehen, erst recht in Zivil.« Exners

»Ich könnte womöglich auch über die sexuellen Übergriffe etwas in Erfahrung bringen«, hakte Falck nach und wusste gar nicht recht, was er mit seiner Hartnäckigkeit eigentlich bezweckte. Lag es daran, dass er sich doch für Wetzigs Tod verantwortlich fühlte?

»Ich denke darüber nach. Immerhin haben Sie sich für den Mittleren Dienst beworben, das könnte sich gut in Ihrem Lebenslauf machen. Noch dazu sind Sie jung und geeignet, sich unter solche Leute zu mischen, voller Tatendrang, praktisch veranlagt. Verheiratet sind Sie immer noch nicht, oder?«

Falck schüttelte den Kopf. Er wusste, dass er mit seinen fünfundzwanzig Jahren eigentlich schon längst verheiratet sein und Kinder haben sollte, wie so ziemlich jeder, den er kannte, inklusive seiner Geschwister. Doch Ersteres würde sich bald ändern, nachdem Ulrike nach Monaten freundlichen Zuredens endlich zugestimmt hatte, nächstes Jahr nach Beendigung ihres Studiums zu heiraten. Zweiteres würde sich dann wohl auch bald einstellen, allein, um endlich eine richtige Wohnung zu bekommen. Zeit wurde es in jeglicher Hinsicht. Mit dreiundzwanzig war Ulrike beinahe schon zu alt für ein erstes Kind.

Exner schürzte die Lippen. »Ich werde den Vorschlag bei den entsprechenden Stellen anbringen. Sie bekommen Bescheid, Genosse. Bis dahin sind Sie wieder dem normalen Streifendienst zugeteilt.«

Falck nickte zögernd. Das klang wie eine vertuschte Absage. Er kannte das Prozedere. Die meisten Vorschläge wurden so lange zerredet, bis alles vergessen war.