»Ich erzähle Ihnen mal was, Leutnant«, wurde Falck am nächsten Morgen von Schmidt empfangen, kaum dass er das Büro betreten hatte. »Ich habe gestern ausführlich herumtelefoniert. Unter anderem mit dem Bestattungsinstitut. Da gibt’s eine ordentliche Schieflage. Dieser Fall vom letzten Jahr, mit der jungen Frau. Da werden Sie heute zuerst hinfahren, Sie und Bach. Vielleicht gibt es ja doch einen Zusammenhang mit unseren verschwundenen Toten. Danach fahren Sie auf die Kamenzer und fragen sich mal zu der Tasche durch. Adresse vom Finder ist hier in der Mappe. Außerdem habe ich Druck gemacht wegen der Fotos von Rühle. Die sind auch in der Mappe. Damit klappert ihr alle belästigten Frauen ab.«

Falck war unentschlossen, ob es sich überhaupt lohnte, die Jacke auszuziehen. Eigentlich war er froh, im Warmen zu sein. Außerdem duftete es nach Kaffee.

Frau Zille half ihm bei der Entscheidung. Sie kam mit Kaffee ins Zimmer. »Guten Morgen, Herr Leutnant«, begrüßte sie ihn und stellte die Tasse auf seinen Platz.

»Danke«, murmelte Falck. Dann nickte er den beiden Kolleginnen zu, die bereits an ihren Schreibtischen saßen und in ihren Tassen rührten. Steffi Bach nickte kurz zurück.

Der Abend gestern war lang geworden und sehr persönlich. Weil sie nicht nur ein Bier getrunken hatten, sondern mehrere, weil sie sich hatten anstecken lassen von der Stimmung um sie herum, in einer Kneipe, die es vor einer Woche noch

»Und noch was, Leute, ich habe mich nach dem Burghardt umgehört, ihr wisst schon, der Typ, der bei Rühle wohnt. Das war hochinteressant. Die beiden saßen zusammen in Bautzen und waren sogar eine Zeitlang Zellengenossen. Burghardt saß wegen schwerer Körperverletzung. Ich werde heute übrigens mit Kommissarin Suderberg unterwegs sein.«

Falck und Bach sahen auf.

»Hauptkommissarin«, verbesserte diese. Sie sah müde aus und trug die Sachen vom Vortag. Ob sie Schmidts Plan begrüßte, ließ sie nicht erkennen. Als sie am Kaffee nippte, verzog sie das Gesicht. Alle sahen es, doch niemand sagte etwas dazu, es war eben kein Westkaffee.

 

»Ich glaube, sie hat im Büro geschlafen«, sagte Bach, als sie sich in den Trabant gezwängt hatten. Falck hatte Bach einmal mehr das Steuer überlassen.

»Wie meinst du das?«, fragte er.

»Sie hat im Büro übernachtet.«

»Warum sollte sie? Sie hat doch ein Hotelzimmer.«

»Vielleicht hatte sie ja noch zu tun«, überlegte Bach laut. »Vielleicht hat man ihr Zugang zu Akten gegeben. Aber seltsam ist das schon. Ich bezahle doch nicht einen Haufen Kohle,

»Vielleicht sind die drüben wirklich froh, sie los zu sein.«

»Vielleicht wurde der Kallbusch ja wirklich umgebracht, überleg mal.«

»Der Gerichtsmediziner hat den Unfall mit der Scherbe bestätigt. Kallbusch hatte sogar Schnittwunden an den Handflächen.«

»Die könnten auch daher kommen, dass er sich die Scherbe aus dem Hals gezogen hat. Aber was, wenn er wirklich umgebracht wurde? Von der Mafia? Die kommen jetzt alle rüber und stecken ihre Reviere ab. Jeder, der dabei stört, wird umgelegt. Am Ende haben die den Toten selbst entsorgt. Das kann zu einem richtigen Krieg ausarten. Die Suderberg fühlt sich nicht ernstgenommen, dabei ist die Sache unter Umständen mehr als ernst.«

»Ist sie auch, aber unsere Sache ist auch ernst«, sagte Falck.

»Ja, stimmt schon. Zu wem fahren wir zuerst?«

»Ich würde zuerst die Frauen auf der Liste aufsuchen. Zwei kenne ich vom letzten Jahr noch. Frau Hauke und Frau Pliske, die Lehrerin an der hundertdritten POS. Fahren wir erst mal dorthin.«

 

Sie warteten im Gang vor dem Lehrerzimmer. Frau Pliske wurde von der Schulsekretärin aus dem Unterricht geholt. Falck sog tief den nostalgischen Schuldunst ein. Seine Schule hatte genauso ausgesehen. Tausende Schulen in der DDR sahen so aus: zwei lange Gebäudeteile, verbunden durch drei Treppenhäuser, mit Innenhöfen, die nicht betreten werden durften, drei Schulhofausgängen und einem Haupteingang. Kinderbilder hingen an den Wänden über glänzenden Ölsockeln, Tannenzweige als Weihnachtsdekoration, der

»Wie früher, oder?«, sprach Bach seine Gedanken aus.

Die Sekretärin kam mit der Lehrerin die Treppe hinunter.

»Guten Tag«, begrüßte Bach die Frau und hatte, wie selbstverständlich, wieder die Initiative übernommen. »Gehen wir hinein.«

Frau Pliske nickte. Ihr Blick war an Falck hängengeblieben. Das Lehrerzimmer war leer, und sie setzten sich an den ersten Tisch.

»Sie kennen Leutnant Falck noch?«

»Ja.« Frau Pliske nickte schüchtern.

»Frau Pliske, ich will es kurz machen. Wir haben eine verdächtige Person verhaftet, der wir einige sexuelle Übergriffe zur Last legen.« Bach nahm die Fotos von Heiko Rühle aus der Tasche und legte sie vor der Frau auf den Tisch. »Können Sie den Mann als denjenigen erkennen, der Sie damals angegriffen hat?«

Frau Pliske zog eines der Fotos zu sich und betrachtete es lange. Rühle hatte sich für das Foto das Gesicht waschen müssen, doch die Nase war nach wie vor geschwollen und vom Kajalstift war ein Rest sichtbar.

»Man hat mich ja damals weggeschickt bei der Polizei«, sagte die Lehrerin.

Bach nickte. »Ich weiß. Aber jetzt wird der Fall noch mal aufgerollt. Die Zeiten haben sich geändert.«

Die Lehrerin nickte langsam. Sie zögerte. »Ich habe ja den Mann nicht richtig sehen können.«

Bach und Falck schwiegen.

»Also … Ich glaube, er ist es. Ja.«

»Sind Sie sicher?«, entfuhr es Falck. Damit hatte er eigentlich nicht gerechnet.

»Ja, das Haar war allerdings viel kürzer.«

Frau Pliske wiegte den Kopf. »Ich habe ihn schon sehen können, kurz.« Sie tippte auf die Profilaufnahme. »Die Nase, die hatte so einen Knick, als wäre sie schon mal gebrochen gewesen. Doch, ja, der ist es.«

 

»Wenn er es ist, dann verstehe ich es nicht.« Falck und Bach standen jetzt vor dem Haus in der Jordanstraße, in dem Nadine Hauke wohnte. Sie war einkaufen, hatte eine Nachbarin gesagt, müsste aber bald zurück sein. »Wieso soll ein Schwuler Frauen überfallen? Warum bestiehlt er sie nicht, wenn er es doch sonst tut?«

»Man muss nicht alles verstehen. Dafür gibt es Psychiater.« Bach sah sich um und hatte sich eine Zigarette angezündet. »Ganz schön depri, wie das hier alles aussieht. Was das kosten wird, das alles aufzubauen.«

»Mit den aktuellen Mieten wird man das niemals aufbauen können. Die Leute, bei denen ich wohne, bezahlen nicht mal hundert Mark für vier große Zimmer. Zwanzig Mark bekommen sie von mir noch dazu.« Gerade erst letztes Wochenende hatte es in Falcks Haus einen Dachschaden gegeben, den sie nur notdürftig hatten reparieren können.

»Ich bin eh gespannt, die müssen sich ja was einfallen lassen, sonst rennen irgendwann alle in den Westen. Vielleicht tauschen sie unser Geld in D-Mark ein. Fragt sich nur, zu welchem Kurs?«

Das konnte sich Falck nicht vorstellen. Wie sollte man das wertlose Geld eintauschen können, wenn eine Büchse Cola schon sechs Mark kostete? In diesem Verhältnis würde sein Gehalt gerade fünfzig D-Mark wert sein. Ein Brötchen heute für zehn Pfennige würde nicht einmal zwei Pfennige Westgeld

»Aber gestern Abend, das war schon cool, oder?« Bach zwinkerte. »Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können.«

Falck nickte, war sich aber nicht ganz im Klaren, was Steffi Bach genau meinte. Er traute sich auch nicht nachzufragen. Diese Aufbruchstimmung, diese gelöste Atmosphäre, die vielen lachenden Menschen voller Ideen und Hoffnungen? Er hatte auch schlecht geschlafen, doch in seinen wirren Träumen war immer Claudia mit dem Kinderwagen erschienen.

»Da kommt sie!«, sagte er. Nadine Hauke schob einen Kindersportwagen vor sich her.

»Sag mal, Tobias. Was geht denn hier vor sich?«, grinste Bach frech.

»Damit hab ich nichts zu tun!«, verteidigte sich Falck. Diesmal ergriff er die Initiative und ging der Frau entgegen. Als sie ihn sah, versteinerte sich ihr Gesicht. Langsam kam sie den beiden Polizisten entgegen.

»Was willst du hier?«, fragte sie Falck.

»Ich muss dir ein Foto zeigen und dich fragen, ob das der Mann war, der dich letztes Jahr angegriffen hat.«

»Nee, Tobias, lass mich in Ruhe! Ich hätte ja nicht gedacht, dass du einer von denen bist!«

Einer von denen. Das hieß Stasi.

»Ich bin Polizist. Ein ganz normaler Polizist.«

»Ganz normale Polizisten gibt’s nicht. Ihr habt alle mitgemacht bei der Scheiße! Lass mich jetzt!«

»Du sollst dir doch nur das Bild ansehen!«, versuchte es Falck noch einmal.

»Frau Hauke, es geht um die Ergreifung eines Sexualstraftäters. Sie könnten uns helfen, ihn zu identifizieren, damit

»Auf einmal interessiert euch das!« Nadine schüttelte wütend den Kopf und wollte sich an ihnen vorbeidrängen. Das Kind im Wagen sah sich zu seiner Mutter um. Es spürte offenbar die angespannte Stimmung und begann zu weinen.

Bach fasste Nadine am Oberarm. »Mich hat das schon immer interessiert!«

»Also gut, zeigt her, aber schnell, Micha wird es kalt und mir auch!«

Bach holte die Fotos heraus, die Nadine skeptisch betrachtete. Dann verzog sie das Gesicht.

»Da!« Sie deutete auf eines der Bilder. »Der Schneidezahn mit der abgebrochenen Ecke.«

Bach drehte das Bild um. Tatsächlich fehlte Rühles linkem Schneidezahn eine kleine Ecke. »So etwas hatte der Täter damals?«

»Ja, es fiel mir auf.«

»Sie würden also sagen, er könnte es gewesen sein?«

»Ja, könnte er. Und jetzt lassen Sie mich!«

 

»Guten Tag. Kripo Dresden!«, stellte Bach sich dem alten Mann vor, der vor der angegebenen Adresse den Gehweg fegte. »Sind Sie derjenige, der die Tasche in der Mülltonne gefunden hat?«

Der alte Mann, der über seiner Steppjacke eine Lederschürze trug, nickte und stellte seinen Besen an die Hauswand.

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Tonnen!« Er marschierte in die Hauseinfahrt.

»Wir wollen die Tonnen gar nicht sehen, uns interessiert …« Bach verstummte, denn der alte Mann hörte ihnen nicht zu. Wortlos folgten sie ihm also in den Hinterhof, wo die blechernen runden Mülltonnen in Reih und Glied standen.

»Vielen Dank«, sagte Bach laut. »Sagen Sie, kennen Sie alle Leute hier?«

»Ja, alle. Schon lange.«

»Gibt es da vielleicht jemanden, der Ihnen seltsam vorkommt?«

»Wie meinen Sie denn das?« Der Mann runzelte die Stirn.

Bach hob die Hände und sah Falck an. »Sag du doch mal was!«

»Gibt es jemanden, der ausschließlich schwarze Kleidung trägt? Der sich ungewöhnlich benimmt?«

»Nein. Das sind alles ordentliche Leute.«

»Und Sie haben auch nichts Außergewöhnliches beobachtet? Dass jemand etwas Schweres ins Haus transportierte, zum Beispiel?«

Der Mann schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Wir können doch nicht alle Wohnungen durchsuchen«, murmelte Bach.

»Wer die Tasche in die Mülltonne geworfen hat, wissen Sie also auch nicht?«

»Nein, tut mir leid.«

 

»Nervt mich voll, dass der Alte sich im BMW durch die Gegend kutschieren lässt und einen Mörder sucht, während wir uns mit diesem Kleinkram hier auseinandersetzen dürfen«, murrte Bach, als sie wieder im Trabant saßen.

»Der Alte?«, wiederholte Falck. »Der ist doch nicht mal vierzig, oder?«

»Tut aber so, als wäre er sechzig.« Bach blinkte und fuhr aus der Lücke.

»Dann müssen wir mit Leichenhunden der Spur nachgehen.«

»Haben wir doch längst. Zwei Tote sind uns bereits abhandengekommen!«

Bach nickte und verzog den Mund. »Ich seh das so: Die Frau war nicht tot. Sie ist in einem unbeobachteten Moment aufgestanden, hat den Rettungswagen verlassen und ist losmarschiert.«

»Und dann hat sie einen Schuh und die Tasche in die Mülltonne geworfen?«

»Lass mich mal ausreden! Sie ist losmarschiert, hat unterwegs den Schuh verloren und die Tasche. Dann hat sie jemand aufgegabelt, erste Hilfe geleistet, und nun liegt sie anonym in irgendeinem Krankenhaus oder ist da sogar gestorben. Jemand anderes fand Tasche und Schuh und hat das Zeug weggeworfen.«

»Wir hätten doch davon erfahren, wenn eine alte Frau gefunden worden wäre.«

»Warum? Jemand hilft einer alten Frau, bringt sie ins Krankenhaus, dort stirbt sie. Wieso sollten wir das erfahren?«, fragte Bach.

»Na gut, das war die Frau vom Unfall. Und der Tote aus Hamburg?«

»Den hat die Mafia weggeräumt. Vielleicht schicken sie ihn nach Hamburg, als Warnung an alle, die sich hier einmischen wollen!«

Falck schnaubte. »Du hast zu viele Gruselfilme geguckt!«

»Ach ja? Und dass einer rumläuft und unter unseren Augen zwei Leichen entwendet, das glaubst du? Da klingt mir meine Theorie plausibler.«

»Und was ist mit der verschwundenen Leiche vom letzten Jahr? Schmidt hat gesagt, das wäre gar nicht geklärt, nur vertuscht!«

»Da fahren wir jetzt hin und fragen nach.«