»Was hat er gesagt?«, fragte Bach. »Hab nur die Hälfte verstanden.« Sie hatte ihre Hände tief in die Manteltaschen gesteckt und die Schultern hochgezogen. Aber selbst der dicke Schal um den Hals konnte nicht verhindern, dass sie zitterte vor Kälte. Man hörte ihre Zähne klappern.

»Er will uns nicht im Stich lassen«, grunzte Schmidt. Was er davon hielt, war deutlich herauszuhören. »Gemeinsam werden wir diesen Weg in die deutsche Zukunft meistern«, fuhr er fort. »Ich kotz gleich!«

Kurz vor Weihnachten hatte sich der westdeutsche Bundeskanzler angekündigt, um auf dem Platz vor der Ruine der Frauenkirche zu reden. Eine riesige Menschenmenge hatte sich versammelt, um Kohl zu hören. Langsam löste sich die Menge jetzt auf, und zusammen mit vielen anderen ließen sich Schmidt, Falck und Bach über die Brühlsche Terrasse in Richtung Carolabrücke treiben.

»Aber die Leute waren offenbar zufrieden, sonst hätten sie ihm nicht so zugejubelt«, sagte Bach. Die Aufregung der Menschen war förmlich mit den Händen zu greifen gewesen. Eine besondere Schwingung hatte in der Luft vibriert, eine Stimmung, die Aufbruch und ein neues Leben versprach.

Schmidt, der einen Schritt vorausging, winkte mürrisch ab. »Die denken nur an die vielen Dinge, die sie kaufen wollen. Dass sie nichts geschenkt bekommen, das wollen sie nicht hören. Läuft doch alles auf Wiedervereinigung und Westgeld

»Die wollen nur richtiges Geld für ihre Arbeit«, antwortete Bach.

Falck hielt sich raus aus der Diskussion. Er wusste eigentlich gar nicht, was er denken sollte. Sich zu entscheiden, musste man erst einmal lernen. Kommt die D-Mark, bleiben wir, hatten die Leute skandiert, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr! Helmut Kohl hatten sie wie einen Heilsbringer empfangen, als ob er es gewesen wäre, der die Mauer zu Fall gebracht hatte. Somit hatte das Ganze schon seine eigene Dynamik bekommen und hatte nicht mehr viel mit dem zu tun, was die Menschen einst gefordert hatten, damals, im Oktober, in Plauen, Leipzig oder anderswo. Meinungsfreiheit war das Ziel gewesen, Reisefreiheit. Freiheit eben. Von einem vereinten Deutschland, von der D-Mark war da noch keine Rede gewesen.

Schmidt schüttelte nur den Kopf. »Wenn ich das schon höre: Mein Ziel bleibt die Einheit unserer Nation. Könnten wir nicht erst mal versuchen, ob wir es so hinkriegen? Als eigener Staat.«

»Wenn es die geschichtliche Stunde zulässt!«, ergänzte Bach den Satz von Kohl. »So hat es sich zumindest angehört!«

Aber Schmidt war jetzt richtig in Fahrt. »Und dann noch: Gott segne unser deutsches Vaterland! Vor der Ruine einer Kirche!« Schmidt knallte sich den Zeigefinger gegen die Stirn. »Das ist doch blanke Ironie!«

Bach schloss jetzt zu Schmidt auf und hakte sich vertraulich bei ihm ein. »Beruhig dich mal, Chef! Vielleicht wird alles gar nicht so schlimm. Denk nur mal an die Möglichkeiten, die wir alle haben werden.«

Falck folgte den Kollegen mit ein paar Meter Abstand. Knapp zwei Wochen waren seit dem dramatischen Einsatz

Falck tat wieder seinen normalen Dienst, ohne Vorbehalt, ohne Rückenschmerzen und doch als ein anderer Mensch. Er war nicht mehr derselbe. Spätestens seit dem Moment, als er den Abzug betätigt hatte.

»Und ist dir noch was aufgefallen, Chef?«, fragte Bach, die sich nach Falck umgesehen hatte, und hielt Schmidt auf.

»Was?«, fragte Schmidt misstrauisch.

»Unser Tobi hier, der ist ein Genie!« Bach wartete, bis Falck herangekommen war. Sie war fröhlich und aufgedreht.

»Ein Genie? Warum?«, fragte Schmidt nach und wusste es vermutlich schon.

»Der hat’s im Blut, der hatte immer recht. Mit dem Leichen-Typen, mit dem Burghardt und mit der Suderberg.«

Schmidt nickte. »Stimmt. Und das ist ätzend, wenn du mich fragst. Aber wisst ihr was? Mir ist kalt, ich will ins Warme. Gehen wir in den Meißner Weinkeller oder ins Töpp’l! Ich geb auch einen aus! Obwohl du ja eigentlich dran wärst, Tobias, du hast noch nicht mal deinen Einstand gegeben!«

Bach unterbrach ihn. »Es ist sowieso zu spät, wir kriegen nirgendwo mehr einen Platz.«

»Vielleicht hilft ja Westgeld weiter?«, fragte plötzlich eine vertraute Stimme. Hauptkommissarin Suderberg stand hinter ihnen und lächelte in ihre verblüfften Gesichter.

»Na ja, ich … also, ich wollte mich entschuldigen bei Ihnen, bei Ihnen allen. Ich habe mir nicht anders zu helfen gewusst. Und hier war alles so ganz anders, als ich mir es vorgestellt hatte. Außerdem wollte ich mich bedanken. Vor allem bei Ihnen!« Sie streckte Falck die Hand entgegen, die dieser in seiner Verblüffung zaghaft annahm.

»Danke!«, sagte Suderberg. »Na, also dann …« Sie wollte sich angesichts der ausdruckslosen Mienen der drei Ost-Kollegen abwenden und gehen, da schnellte Bach vor und hielt sie am Arm fest.

»Nischt is, wir gehen jetzt einen heben und Sie kommen mit!«