Es war später Nachmittag, als Falck am Fučikplatz aus der Bahn stieg und die Straße Richtung Vogelwiese überquerte. Der Rummel war schon geöffnet, allerdings nur spärlich besucht, seitdem er vor zwei Wochen aufgebaut worden war. Die Fahrgeschäfte fuhren meist ohne Kundschaft, am Autoscooter warteten gelangweilt die halbstarken Aufpasser in ihren Jeanswesten, mit Zigaretten im Mundwinkel.

Ulrike erwartete ihn am ausgemachten Treffpunkt. Anstatt eines Kleides trug sie eine hellblaue Jeanshose und eine weiße Windjacke. Ihre lockigen Haare waren unfrisiert, nur durch einen Haarreif gebändigt. Sie hatten nichts Besonders vor, nur ein bisschen an der Elbe spazieren gehen und dann vielleicht noch über die Dimitroff-Brücke zum Goldenen Reiter, um dort ein Eis zu essen. Doch dass sich Ulrike nicht schick gemacht hatte, wunderte ihn etwas.

»Ulli!«, rief er ihr zu.

Sie drehte sich um und wartete, bis er vor ihr stand. Sie erwiderte seinen Begrüßungskuss, doch Falck spürte sofort, dass etwas anders war als sonst. Vielleicht hatte sie Streit mit ihren Eltern. Die beiden betrieben einen Eisenwarenhandel im Dresdner Stadtteil Plauen und hatten immer viel zu tun. Richtig warm war er mit Ulrikes Familie in den drei Jahren, die sie zusammen waren, nie geworden. Sie waren immer freundlich zu ihm, aber wirkten reserviert.

»Ist was?«, fragte er.

»Lass uns da langgehen!« Ulrike deutete auf einen Weg, der

»Wirst du nun zum Lehrgang delegiert?«, fragte sie nach einem längeren Schweigen.

»Na, ich hoffe doch. Eigentlich spricht ja nichts dagegen.«

»Dann wirst du also bald nach Aschersleben gehen?«

»Ja, sieht so aus.« Warum fragte sie ihn das? War sie womöglich schwanger? Das würde allerdings fast an ein Wunder grenzen, bei den wenigen Gelegenheiten, die sich in den letzten Monaten ergeben hatten. Außerdem nahm sie die Pille. Und wenn doch nicht? Für einen Moment wurden Falck die Knie weich. Dann würden sie wirklich bald heiraten müssen.

»Mensch, du …« Ulrike blieb kurz stehen, was ihn zwang, ebenfalls stehen zu bleiben, dann ging sie allerdings weiter, ohne noch etwas gesagt zu haben.

»Jetzt sag doch mal, Ulli, was ist denn los?«

»Ach, Mensch, Tobias, das ist doch alles blöd.«

»Was denn?« Er nahm sie sacht beim Arm, doch sie machte sich los und ging weiter. »Was ist denn so blöd?«, hakte er nach.

»Tobias, ich will das alles nicht mehr. Ich kann das auch nicht mehr. Ich mach Schluss!« Ulrike zuckte kurz mit den Achseln.

Falck war einen Moment stehen geblieben und musste sich dann beeilen, ihr hinterherzulaufen. »Bleib doch jetzt mal stehen! Was soll das denn bedeuten?«

Ulrike blieb unwillig stehen. Sie scheute sich, ihm in die Augen zu sehen. »Wir sehen uns so selten. Und die letzten Treffen waren irgendwie … so … öde. Und wenn wir miteinander schlafen wollen, müssen wir in die Laube von meinen Eltern.«

»Aber das ist doch alles …«

»Außerdem redest du nur von deiner Polizei. Immer wenn wir uns sehen, redest du davon. Und von dem Lehrgang.«

»Und alle fragen, warum wir noch nicht verheiratet sind und Kinder haben!«

Das war nun wirklich nicht seine Schuld, ärgerte sich Falck. Er hatte vielmehr das Gefühl, dass Ulrike ihm immerzu auswich bei diesem Thema. Doch er wusste aus Erfahrung, dass es keinen Zweck haben würde, hierüber zu diskutieren.

»Ulrike, das sind doch alles Dinge, die man ändern kann. Natürlich möchte ich dich heiraten und Kinder will ich auch!«

»Aber darum geht es nicht!« Ulrike stampfte mit dem Fuß auf und lief weiter.

»Nein?« Falck verstand nicht. Aber das hatte sie doch gerade gesagt. Er eilte ihr hinterher. »Dann sag mir doch, worum es geht!« Es war ihm peinlich, dass sie die Sache hier vor all den Leuten im Park ausfechten mussten, aber vielleicht war das ja genau der Grund gewesen, warum sie sich hier hatte treffen wollen. Damit sie nicht allein mit ihm war. Aber hieß das etwa, die Sache war für sie schon ausgemacht?

»Jetzt sag doch mal endlich was dazu!«

Ulrike riss wütend die Schultern hoch. »Verdammt noch mal, Tobias, die lachen mich aus, weil ich mit einem von der Polente zusammen bin. Daheim fragen sie mich dauernd, ob sie jetzt dies oder das überhaupt noch erzählen dürfen.«

Für einen Moment war Falck wie vor den Kopf gestoßen. Dass ihre Eltern ein Problem mit ihm hatten, wusste er, doch dass auch Ulrike mit seinem Beruf haderte, verletzte ihn sehr.

»Ulrike, das ist jetzt ungerecht. Du hast das immer gewusst. Ich trug sogar Uniform, als wir uns kennengelernt haben.«

»Ich weiß, ja.« Ulrike sah ihn nun endlich an, und es war fast tröstlich für ihn zu sehen, dass sie weinte. »Es tut mir ja auch leid. Aber du musst das verstehen, Tobias, ich will das nicht mehr, das alles hier.« Und sie machte eine hilflose vage Geste, die ihn und die ganze Umgebung einschloss.

»Jetzt guck doch nicht so! Siehst du denn nicht, was los ist? Ich will weg hier. Und zwar schnell. Ich wollte es dir aber wenigstens noch gesagt haben.«

Falck stand jetzt vor ihr, sah ihr in die hellgrauen Augen, sah das so vertraute Muster ihrer Sommersprossen auf der Nase, die aschblonden Locken. Das klang ganz nach einer Krise, dachte er sich. Bekam sie ihr Studium nicht hin? Sie hatte lang schon die Nase voll.

»Das ist doch Quatsch, oder?«, flüsterte er.

»Nein, Tobias, kein Quatsch.« Ulrike nahm eine Hand aus ihrer Jackentasche und hielt ihm den Verlobungsring hin. Sie musste ihn die ganze Zeit schon so gehalten haben. Da gab es kein Verhandeln, kein Überreden, kein Hinauszögern. Für sie war alles bereits geklärt.

Und wenn er an die letzten Wochen zurückdachte, dann hätte er es eigentlich bemerken müssen.

»Du darfst mir nicht böse sein!«, bat Ulrike. Falck konnte nicht antworten, so tief saß der Schmerz. Es ging ja nicht nur darum, dass ihn gerade seine Freundin verließ. Dass all ihre Zukunftspläne mit einem Schlag zunichtegemacht wurden. Mal davon abgesehen, dass er keine Ahnung hatte, wie er das seinen Eltern erklären sollte, dass er mit Mitte zwanzig wieder von vorne anfangen musste. Er fragte sich auch, mit was für einem Menschen er da all die Jahre zusammen gewesen war. Ulrikes Entscheidung konnte nicht von gestern auf heute gefallen sein. Warum hatte er das nicht schon früher gemerkt.

»Tobias, ich muss dich auch bitten …« Sie sprach es nicht aus. Doch Falck wusste genau, was sie sagen wollte. Von allen Verletzungen war das wie ein Stich ins Herz. Sie wollte von

Es durchfuhr ihn wie ein Blitz. Das konnte sie nicht tun, sie musste wissen, was das für ihn bedeutete. »Aber wir lieben uns doch!«

»Nee, das war mal. Ich hab dich mal geliebt, ja, kann sein. Aber inzwischen musst du dich vor allem mal fragen, ob du mich liebst oder die Deutsche Demokratische Republik.«

Was sollte das? Das waren zwei grundverschiedene Dinge und keine Frage von Entweder-oder.

»Ach, Tobias, du solltest dein Gesicht sehen. Du kapierst das nicht, oder? Du wärst ja auch am liebsten drei Jahre zur NVA gegangen!« Sie senkte die Stimme. »Als Nächstes willst du noch zur Stasi. Du verstehst nicht, was wirklich los ist, oder? Aber ich. Und ich halte das nicht mehr aus. Ich will leben, verstehst du?«

»Aber, Ulrike, wir … wir leben doch!« Er kam nicht an gegen die Verzweiflung, die sich in ihm breitmachte, und vermutlich sah man ihm das an.

»Nee, Tobias, wir leben nicht! Wir existieren nur!« Ulrike machte einen Schritt von ihm weg und hob die Hand zu einem letzten Gruß. »Ich hoffe, du verstehst das auch irgendwann. Mach’s gut!« Dann drehte sie sich um und ging davon.

Er sah sie weggehen, wartete noch auf eine Geste von ihr, einen Blick zurück, irgendetwas, das ihm Hoffnung gab. Vielleicht überlegte sie es sich ja doch anders, vielleicht würde sie zurückkommen. Doch nichts dergleichen geschah. Ulrike war schon so weit entfernt von ihm, dass er sie nicht mehr sehen konnte. Falck stand bei schönstem Wetter mitten in der Stadt, zwischen all den Menschen, und fühlte sich so verloren wie noch nie.