Ratlos stand Falck vor dem Haus in der Böhmischen Straße. Es befand sich auf halbem Weg zwischen der Martin-Luther- und der Rothenburger Straße. Die meisten Gebäude der Neustadt waren heruntergekommen, doch das hier wirkte abbruchreif. Tatsächlich war vom nächsten Haus im Block nur noch ein Schutthaufen übrig.

Falck probierte noch einmal vergeblich die Klinke, beide Schlüssel, die er erhalten hatte, passten nicht.

»Die Tür klemmt nur, das Schloss ist im Eimer«, sagte jemand von der Seite.

Falck hatte eine alte schwarze Lederjacke angezogen, die er mal von seinem Bruder bekommen hatte, und dunkelblaue Kordhosen. Der Typ, der ihn angesprochen hatte, trug einen grünen, viel zu großen Parka. Seine Haare waren lang und fielen ihm lockig über die Schultern. Er hatte einen Oberlippenbart, der albern wirkte in seinem jungen Gesicht. Er schob sich an Falck vorbei und trat heftig gegen die Tür.

»Wen suchst du denn eigentlich? Claudi?«

»Ich wohn jetzt hier«, antwortete Falck etwas vage.

»Ah, oben, in der leeren Bude? Willst du nicht reinkommen?« Er hielt die Tür auf.

»Doch!« Falck schulterte seinen Rucksack und folgte dem jungen Mann in den schmalen Hausflur, in dem es seltsam roch.

»Ich wohne hier unten. Wenn du was brauchst, klingle ruhig. Ich heiße übrigens Christian.«

»Ich studiere eigentlich. Aber ich bin geext. Muss mal sehen, wie es weitergeht. Und du?«

Er würde nicht ohne Grund exmatrikuliert sein, dachte Falck. »Bin auch geext, bin jetzt Heizer.« Er musste locker bleiben, nicht gleich übertreiben. »Na, ich geh erst mal hoch, man sieht sich.«

»Haste heute Abend schon was vor oder guckst du Kessel Buntes?«, fragte Christian und griente.

»Nee, hab nichts vor.«

»Dann komm runter, ich mach ’ne kleine Fete.«

»Ich überleg’s mir.« Das ging ja schneller als gedacht, staunte Falck und stapfte die Treppe hinauf. Auf dem kleinen Treppenpodest führte eine schmale Holztür zum Dachboden hinauf, die andere Tür musste seine Wohnungstür sein. Einer der Schlüssel passte, und Falck atmete erleichtert auf. Seine Erleichterung schlug allerdings schnell in Resignation um. Allein der Geruch, der ihm entgegenkam, war mehr als unangenehm: feucht, modrig, schimmelig. Schon im Korridor sah Falck Stockflecken an der Decke und den Wänden. Die Papiertapete löste sich an den Stößen. Der Fußboden bestand aus Dielenbrettern, die knarrten und quietschten, als er in die Wohnung trat. Unschlüssig stand er da, nahm dann den Rucksack ab, weil der Riemen ihm in die Schulter schnitt. Er stellte ihn so ab, dass er nur an einem Türrahmen lehnte.

In der Küche stand ein Holzofen wie bei den Schurigs, daneben ein Gasherd. Falck drehte an einem Regler und hörte das Gas strömen. Wenigstens das funktionierte. Aus dem Küchenfenster konnte er sehen, dass aus der Dachrinne unterhalb des Fensters eine armdicke Birke wuchs, die Dachziegel

Das Wohnzimmer war eigentlich groß, hatte aber eine Dachschräge. An der einzigen geraden Wand stand eine Schrankwand mit ein paar abgewetzten Büchern, ein paar staubigen Gläsern und einem alten Stern-Radio, an dem zwei Reglerknöpfe fehlten. Einen Fernseher gab es nicht. Der Stoff der Ausklappcouch und des dazugehörenden Sessels war grob wie ein altes Handtuch und verströmte einen Geruch wie Möbel, die lange in einer Gartenlaube gestanden hatten. Der Multifunktionstisch war auf die niedrigste Höhe gestellt. An den Wänden hingen zwei Bilder, Drucke von Gemälden bekannter DDR-Künstler. Doch die triste Winterlandschaft von Querner und Hakenbecks Peter im Tierpark konnten nicht von den Stockflecken und der durchhängenden Decke ablenken, die aussah, als ob sie jeden Moment herunterbrechen könnte. In der anderen Zimmerecke stand ein kleiner Kachelofen, und Falck war froh, dass es Frühling war und er aller Voraussicht nach nicht heizen musste.

Der Blick aus dem Wohnzimmerfenster war nicht weniger trübselig als die Wohnung. Graue Hauswände, krumme Dächer, enge Hinterhöfe, in denen blecherne Mülltonnen

Falck war ein Gedanke gekommen. Er ging wieder in den Korridor, doch außer der Küchen- und der Wohnzimmertür konnte er keine weiteren Türen entdecken. Es gab also kein Bad und damit auch keine Badewanne und keine Toilette. Er würde sich das Wasser auf dem Herd erwärmen und sich am Waschbecken waschen müssen, und die Toilette … Falck öffnete die Wohnungstür wieder und sah die Treppe hinunter.

»Oh nein«, stöhnte er. Zur Toilette musste er die halbe Treppe runterlaufen. Viel trostloser konnte er sich kaum fühlen in diesem Moment.

 

»Du bist der Neue?«, fragte eine junge Frau, als er gerade mit zwei vollen Stoffbeuteln vom Einkauf zurückkehrte und ins Haus wollte. Er schwitzte unter seiner Lederjacke und der muffige Geruch stieg ihm in die Nase.

Falck schätzte die Frau auf Anfang zwanzig. Sie war kleiner als er, hatte schwarze gelockte Haare und trug eine Latzhose aus Jeansstoff und einen weiten Nicki mit großen Ärmelausschnitten, die tiefe Einblicke gewährten und Spielraum für Fantasien zuließen. Sie war hübsch, irgendwie niedlich.

»Haste mir aufgelauert?«, fragte er zurück.

»Hätteste wohl gern!«, lachte sie.

»Bist du die Claudi?«, fragte er.

»Woher weißt du denn das? Bist du von Horch und Guck, oder was?«

»Dieser Christian hat es mir gesagt.«

»Ich wohne jetzt hier, ganz oben!«, wich Falck aus.

»Oben, echt? Kann ich die Bude mal sehen? Bloß mal gucken.« Sie sah ihn mit ihren braunen Augen treuherzig an.

»Da gibt’s aber nichts zu sehen, ist ’ne Bruchbude.«

»Trotzdem!«

Falck zuckte die Achseln. Warum nicht? Es war ja gar nicht seine Wohnung. »Na dann.«

 

Gemeinsam stiegen sie jetzt die Treppe hoch, und Falck wagte hin und wieder einen vorsichtigen Seitenblick. Claudia trug keinen BH, das war deutlich zu sehen. Was machte sie wohl beruflich? War sie verheiratet? Ob er sie einfach fragen sollte? Dann wäre wenigstens das peinliche Schweigen beendet. Doch er hatte keine Idee, wir er das anstellen sollte. Mit jeder Stufe rückte der günstige Moment in weite Ferne. Auf einmal kreuzten sich ihre Blicke. Claudia tat, als bemerkte sie es nicht. Oben angelangt rümpfte sie die Nase.

»Alles vergammelt hier drin«, entschuldigte sich Falck und schloss auf.

»Wurde ja auch nicht geheizt die letzten zwei Jahre.« Claudia betrat die Wohnung.

»Kanntest du den, der hier vorher gewohnt hat?«, fragte Falck.

Claudia nickte kurz. »Der wurde abgeholt. Hatte sich hier versteckt.«

»Versteckt?«

Claudia nickte wieder. »Kriegsdienstverweigerer. Wollte auch nicht Bausoldat sein. Kam aus Halle. Ist abgehauen, als sein Einberufungsbefehl kam. Hat sich hier versteckt. Fast zwei Jahre. Jetzt ist er in Bautzen.«

»Und seitdem war niemand in der Wohnung?«

Falck tat unwissend und zuckte mit den Achseln. »Hab einen Bescheid vom Wohnungsamt bekommen, dass ich die Wohnung beziehen darf.«

Claudia warf einen kurzen Blick in die Küche und ging dann ins Wohnzimmer. Falck beobachtete sie. Es war ein seltsames Gefühl, einfach so mit ihr zu reden. Ob sie ahnte, dass er ein Polizist war?

»Musst du auf dem alten Sofa pennen?«, fragte sie.

Falck folgte ihr ins Zimmer. »Ich fürchte, ja.«

»Ich kenne einen, der ’ne Matratze abzugeben hätte. Für einen Zehner, willste?«

»Klar, gern, wenn die noch gut ist.« Er wusste gerade nicht, was besser war, auf dem muffigen Sofa zu schlafen oder auf einer alten Matratze.

»Überhaupt, wenn du was brauchst, ich kann ein paar Sachen ranschaffen, ein Regal, ein bisschen Geschirr. Sogar einen Gummibaum.« Claudia lächelte verschmitzt. »Und wenn du mal in die Wanne willst, sag mir Bescheid. Nur den Ofen anheizen musst du selbst.«

»Warum machst du das denn alles?«

Claudia runzelte die Augenbrauen. »Wie meinst du denn das? Einfach so!«

Falck hob das Kinn. »Und die Kohlen zum Anheizen?«

Claudia lachte und winkte ab. »Die klauen wir uns. Wir machen später ’ne Fete, haste Lust zu kommen?«

»Hab aber nichts zum Mitbringen.«

»Bring dich mit!«