Falck taumelte und hielt sich am Türrahmen fest. Er hatte zu viel Bier getrunken, vertrug den Pfefferminzschnaps nicht, und vom Essen hatte er kaum etwas abbekommen. Sein Vorhaben, den einen besagten Mann zu finden, war bald gescheitert. In seinen Augen sahen hier alle gleich aus.

Nun sah er Claudia auf der Sofalehne sitzen und sich auf die Schulter irgendeines bärtigen Typen stützen. Sie blickte immer wieder zu ihm herüber, beinahe als wollte sie ihn provozieren. Und tatsächlich fühlte Falck so etwas wie Eifersucht aufkeimen, dabei kannte er sie noch keine vier Stunden.

Inzwischen war es ruhig geworden, die Wohnung hatte sich geleert.

»Komm doch her!«, rief Christian und winkte ihn zu sich auf eine zweite Couch.

Falck nickte und schwankte, als er sich vom Türrahmen abstieß. Er setzte sich zwischen Christian und einen anderen Kerl und schloss kurz die Augen, bis die Welt wieder stillstand.

Corina saß neben ihrem Bruder. Nach dem ersten Zusammenbruch bei der Begrüßung war Holgers Stimmung wieder in Freude umgeschlagen. Es wurde viel getrunken, laut gesungen, Anekdoten wurden erzählt. Jetzt aber waren die Gespräche ernster geworden.

»Willste noch ein Bier?«, fragte Christian. Falck schüttelte den Kopf.

»Sag mal, Christian, stimmt das mit dem ABV?«, fragte er

»Ach, die spinnen doch, der ist besoffen übers Geländer gestürzt.«

»Kanntest du den denn?«, fragte Falck.

»Jeder hier kannte den. Der rückte uns ständig auf die Pelle. Wohnerlaubnis, Perso und so weiter. Dabei kannte der uns doch alle längst.«

Falck winkte ab, als wäre das egal. »Kennst du einen mit ’ner Simse? Ich hab eine, aber die fährt nicht mehr. Ich bräuchte ein paar Teile.«

Christian hob unbestimmt die Schultern und sah sich um. »Weiß nicht.«

»Du hast keine?«

»Vielleicht hab ich ja eine, aber die Teile brauch ich selbst!«

»Christian, kannste mal kommen?«, rief jemand aus dem Korridor. Christian stand auf und kletterte über die Rückenlehne.

Damit war Falck sein Gesprächspartner abhandengekommen. Da sich niemand weiter um ihn kümmerte, beschränkte er sich darauf, den anderen zuzuhören.

»Bini haben sie gleich rübergeschafft. Freigekauft«, sagte jemand halblaut.

»Wirklich?«, fragte eine Frau erstaunt.

»Klar, das geht jetzt ganz schnell.«

»Haben sie mir auch angeboten«, flüsterte Holger. »Sie haben mir gesagt, ich könnt direkt in den Westen, wenn es mir hier nicht mehr gefällt. Ich müsste nur einen Antrag schreiben. Aber wozu? Ich will ja hierbleiben, ich will doch nur studieren, was ich will, und nicht ständig kontrolliert werden.«

»Mensch, Holger, hätteste doch …«, sagte jemand.

»Was denn?«, erwiderte Holger aufgebracht. »Das wäre denen doch nur recht, wenn sie alle loswerden, die meckern.

»Ist ja gut, ich meine ja nur, jeder will weg, und du hättest können und bist nicht weg!«

»Dann mach doch ein paar Plakate und geh in den Knast«, fuhr Holger auf.

»Holger, nicht streiten!«, mahnte eine junge Frau mit kurzen Haaren, die am Fenster stand.

»Ich streite nicht, aber denkst du etwa, das war …« Er musste sich sammeln, was ihm nur schlecht gelang. »Denkst du etwa, das war Spaß da drin?«

»Holger, lass doch!«, flüsterte Corina.

»Ja, ihr redet, aber ihr wart nicht da drin. Sie stecken dich in deine Zelle, da hast du nichts, da wird jede Minute zur Qual. Du hast nur zu spuren und freust dich auf den Ausgang. Und wisst ihr, was das bedeutet? Der sogenannte Ausgang ist ein Loch, so groß wie ein Zimmer, ohne Dach, aber mit Maschendraht drüber, als ob ich zehn Meter hochspringen könnte.« Holger wischte sich mit den Handballen über die Augen.

»Für die bist du der letzte Dreck. Das machen sie dir ganz schnell klar. Und wenn du einmal das Maul aufmachst, kriegste vierzehn Tage Iso, da siehste nur deinen Wärter und sonst niemanden. Zwei Wochen nur die Wände anstarren, du darfst dich tagsüber nicht mal hinlegen. Da verblödest du!«

»Holger, aber das ist nun doch vorbei!«, versuchte Corina ihn zu trösten.

»Nichts ist vorbei! Die haben mir drei Jahre meines Lebens gestohlen. Drei Jahre lang sagen sie dir, dass du ein Verräter bist, dass du schlimmer bist als ein Mörder oder ein Kinderschänder. Du bist froh, wenn du was arbeiten darfst, damit du mal andere Leute siehst und rauskommst aus deiner Zelle. Die geben dir zensierte Briefe, da ist alles rausgeschnitten. Und jedes kleinste Vergehen wird bestraft. Hast du dir einen Stift

Christian war wieder über die Lehne zurück auf das Sofa gestiegen und hatte sich auf seinen alten Platz gequetscht. »Holger, so was darfst du nicht sagen!«, mahnte er, was die Stimmung vollends zum Kippen brachte.

»Nee, gar nichts darf ich sagen«, flüsterte Holger nach einer kurzen Zeit, in der alle schwiegen. »Ich hab mich schon strafbar gemacht. Ich hätte gar nichts erzählen dürfen.« Holger langte nach seiner Bierflasche und trank sie leer. »Ein paar Wärter gab es, die waren menschlich. Aber es gab einen, Kante haben sie den genannt, sein Gesicht hab ich mir gemerkt. Das merke ich mir für immer, und irgendwann nehme ich mir den vor. Irgendwann.«

Falck fühlte sich unwohl und hilflos. Er saß eingezwängt zwischen Leuten, für die der Sozialismus ein Feindbild war. Es war stickig, die Stimmung gedrückt und ihm war übel vom Alkohol und von den Gedanken, die in seinem Kopf kreisten. Wie viele solcher Leute gab es? Und war es wirklich so schlimm im Gefängnis, dass man die Beherrschung verlor und weinte, vor allen anderen? Immerhin musste er doch gewusst haben, was er da tat, als er Plakate machte.

»Ich geh mal Luft schnappen«, sagte Falck.

 

Draußen war es kühl. Er zog die Schultern hoch, blieb im Hauseingang stehen. Eine kleine Gruppe von Leuten stand vor der Tür. Hinter sich hörte er Schritte, die junge Frau mit den kurzen Haaren kam die Treppe herunter. Er ließ sie vorbei.

»Wo wohnst du eigentlich?«, fragte sie ihn unvermittelt.

»Hier. Ganz oben. Wieso?«

»Ach so«, meinte sie und klang enttäuscht. Ehe Falck

»Nee, ich bleib noch«, antwortete dieser auf ihre leise Frage. Die junge Frau stöhnte auf und kam ins Haus zurück, ohne Falck zu beachten.

»Jetzt sag doch mal, warum fragst du?«, rief Falck ihr hinterher.

»Ach, egal!«, erwiderte sie und ging wieder in die Wohnung.

Auf einmal stand Claudia neben ihm. Sie war mit draußen gewesen, doch im Dunkeln hatte Falck sie nicht erkannt.

»Lass sie mal.«

»Wer ist denn das?«

»Das ist Nadine.«

»Und was ist mit ihr?«

»Sie sucht jemanden, der sie nach Hause bringt. Der ist kürzlich einer gefolgt.«

»Soll heißen?«

»Auf dem Heimweg ist ihr abends einer nachgelaufen. Der Typ hat sie von hinten gepackt, hat ihr den Mund zugehalten und sie angetatscht. Aber dann hat er sie plötzlich losgelassen und ist fortgerannt.«

»Einfach weggerannt?«

Claudia nickte und verzog fragend die Mundwinkel. »Seltsam, oder?«

»Glaubst du das? Es soll ja vor Kurzem schon mal passiert sein.« Vielleicht war das eine erste Spur?

»Sie ist eine Freundin von Hans und Yvonne, die ist in Ordnung. Aber Leute erzählen auch gern mal solche Geschichten, um sich wichtig zu machen. Die Kinder erzählen ja auch ständig von einem Kinderfänger, der hier rumlaufen soll.«

»Du hast Kinder?«

Falck war erstaunt. Ob die Schuldirektion wusste, mit welcher Klientel sich ihre Hortnerin abgab? Er sah sich unauffällig nach Nadine um. Er könnte ihr anbieten, sie heimzubringen. Vielleicht erfuhr er dann mehr.

»Wollen wir noch mal reingehen?«, fragte er.

Claudia hängte sich vertraut bei ihm ein. »Klar, komm!«