Am Morgen des 7. April 1867 trifft das Ehepaar Dostojewskij in Berlin ein. Weil »die öden Deutschen« in Berlin ihm »bis zur Wut auf die Nerven gingen«, wie Dostojewskij schreibt, reisen sie schon zwei Tage später weiter nach Dresden, wo sie sich für einige Zeit niederlassen wollen, damit der Schriftsteller sich in Ruhe seiner Arbeit widmen kann. In Dresden führt der erste Weg in die Gemäldegalerie zur Sixtinischen Madonna, von der Anna überwältigt ist. »Welche Schönheit, welche Unschuld und Trauer ist in diesem göttlichen Antlitz, wie viel Demut, wie viel Leiden in diesen Augen!« Das Ehepaar flaniert durch die Stadt und besichtigt die Brühl-Terrasse, wo sie das Mittagessen nehmen, sechs verschiedene Gänge mit Dessert à la carte für einen Taler, wie Anna, die die Haushaltsführung übernommen hat, akribisch notiert. Es muss sparsam gehaushaltet werden, denn in der Reisekasse herrscht Flaute. Die für den nächsten geplanten Roman Dostojewskijs erhaltenen 3000 Rubel Vorschuss sind noch vor der Abreise größtenteils für die Schuldentilgung draufgegangen.
Die Dostojewskijs mieten »für 17 Taler mit Wäsche und allem Notwendigen« zwei möblierte Zimmer in der Johannisstraße bei einer Mme Zimmermann, einer verwitweten Schweizerin, und richten sich häuslich ein. Die Nerven des Schriftstellers sind angespannt, und seine Gereiztheit führt immer wieder zu Streit aus nichtigsten Anlässen. Bereits in Berlin bemerkt er gegenüber seiner Frau, die einen winterlichen Pelzhut trägt, sie sei nicht zeitgemäß gekleidet und ihre Handschuhe seien hässlich. Sie erwidert auf diese taktlose Bemerkung, »wenn er glaube, ich sei schlecht gekleidet, dann sollten wir besser nicht zusammen gehen« und lässt ihn kurzerhand stehen. In Dresden wird die junge Frau sogleich mit einem »einfachen weißen Sommerhut aus grobem Stroh, mit Rosen auf der Krempe und mit zwei Samtbändern hinten« ausstaffiert.
Solcherlei Streitigkeiten und die darauffolgenden Versöhnungen sind, wie Anna Dostojewskajas Tagebuch zu entnehmen ist, in der nächsten Zeit an der Tagesordnung. Vor ihrer Abreise hatte sie ein Schreibheft gekauft, in dem sie während der Zeit ihres Auslandsaufenthalts ihre Eindrücke festhält. Sie notiert in Kurzschrift, was das Misstrauen ihres Mannes hervorruft. »Sicher ziehst du über mich her«, vermutet er.
Das Tagebuch ist ein Dokument der ersten Ehejahre. Die Aufzeichnungen des Erlebten und Gesehenen dienen ihr als Gedächtnisstütze für die Erzählungen, mit denen sie nach ihrer Rückkehr des für drei Monate geplanten Aufenthalts der Mutter und den daheimgebliebenen Verwandten von ihren Reiseerlebnissen berichten will. Zunehmend wird das Tagebuch aber auch zum Ort der Zuflucht und Reflexion über das Zusammenleben mit dem schwierigen und anspruchsvollen Schriftsteller. »Mein Mann war mir ein so interessantes und zugleich rätselhaftes Wesen«, schreibt sie später in ihren Erinnerungen, »mir schien, ich könnte ihn besser kennen und verstehen lernen, wenn ich seine Gedanken und Äußerungen aufschriebe. Auch war ich im Ausland ja vollkommen allein: Mit niemandem konnte ich meine Beobachtungen oder die manchmal in mir aufsteigenden Zweifel teilen. So war das Tagebuch ein Freund, dem ich all meine Gedanken, Hoffnungen und Befürchtungen mitteilte.« Das unmittelbare, persönliche Journal ist ein Zeugnis des Aneinander-Gewöhnens und Zusammenwachsens der ungleichen Ehepartner. Dostojewskij ist hier vor allem als Mensch, nicht als Schriftsteller beschrieben, über seine Arbeit erfährt man so gut wie nichts. Die spätere Veröffentlichung hat Anna Dostojewskaja beim Schreiben nicht im Sinn. Einige Jahre nach dem Tod Dostojewskijs beginnt die Schriftstellergattin mit der Übertragung ihrer stenographischen Aufzeichnungen in Normalschrift. Sie sind für sie eine wichtige Quelle bei der Niederschrift ihrer Erinnerungen. Während die Erinnerungen für die Veröffentlichung bestimmt sind und ein durchaus idealisiertes Bild des Schriftstellers zeichnen, verfügt Dostojewskaja für den Fall ihres Todes die Vernichtung ihrer Tagebücher. »Unter den von mir hinterlassenen Notizbüchern befinden sich zwei-drei-vier, die in Stenographie geschrieben sind. Sie enthalten mein Tagebuch, das ich von unserer Abreise ins Ausland 1867 an … geführt habe. Einen Teil des Tagebuchs habe ich selbst übertragen. Die restlichen Hefte bitte ich zu vernichten, da sich kaum jemand finden dürfte, der sie in Normalschrift zu übertragen vermöchte. Ich habe viele von mir selbst entwickelte Kürzel verwandt, jeder Fremde könnte sich beim Übertragen irren und etwas Falsches schreiben. Außerdem möchte ich auf keinen Fall, dass Außenstehende Zugang zu unserem intimen Familienleben erhalten. Deshalb bitte ich nachdrücklich darum, alle stenographierten Hefte zu vernichten.« Man kam Dostojewskajas Bitte nicht nach. 1923 wurde der von ihr übertragene Teil in Russland veröffentlicht. Ein zweiter Teil der nicht von ihr selbst übertragenen Tagebücher wurde nach der aufwendigen Rekonstruktion der alten sowie ihrer persönlichen Stenographiekürzel entziffert. Dabei entdeckte die Stenographin Z. M. Poschemanskaja, dass Dostojewskaja ihren eigenen Tagebuchtext bei der Übertragung in Normalschrift teilweise zensiert hatte. Seit den 1970er Jahren liegen die Tagebücher, nachdem deren dritter Teil aufgefunden und dechiffriert worden war, vollständig publiziert vor.
Trotz der immer wieder ausgetragenen Streitigkeiten ist die erste Zeit der Reise unbeschwert und die Neuvermählten verbringen fast so etwas wie Flitterwochen. Der Nachtarbeiter Dostojewskij steht spät auf und begibt sich zur Zeitungslektüre ins Café Français, am frühen Nachmittag trifft er seine Frau in der Gemäldegalerie. Nach der kulturellen Erbauung begibt man sich zum Essen mit anschließendem Kaffee oder Tee, danach ein Spaziergang am Elbufer und im Grand Jardin, dem Großen Garten, wo man mitunter »zu einem äußerst niedrigen Eintrittspreis (nämlich 2½ Silbergroschen)« den Kurkonzerten lauscht, anschließend ein paar kleine Einkäufe wie Zigaretten und Backwaren zum Tee und der tägliche Gang zum Hauptpostamt am Postplatz, um am Schalter für poste restante nach Briefen zu fragen. Den Abend verbringen die Eheleute in der kleinen Pension der Mme Zimmermann, wo sie beim Tee lesend zusammensitzen und Anna ihre Erlebnisse in ihrem Tagebuch festhält. Wenn sie zu Bett geht, macht Fedja, wie sie ihren Mann nennt, sich an die Arbeit. Er arbeitet an einem Aufsatz über den frühverstorbenen Wissarion Belinskij, der zu Beginn der 1840er Jahre seine ersten Schritte in die Literatur begleitet hatte und von dessen programmatischen Ideen er sich mittlerweile weit entfernt hat. Die Arbeit belastet ihn, und er ist unzufrieden.
Bald trübt nicht nur die ständige Gereiztheit des Schriftstellers, sondern auch ein Brief die Stimmung der jungen Ehefrau. Sie war misstrauisch geworden, da der Schriftsteller einige Tage zuvor einen Brief geschrieben hatte und dabei »schrecklich böse« gewesen war, ihr aber nicht gesagt hatte, worauf oder auf wen. Daraufhin hatte sie die Taschen ihres Mannes durchsucht – »das ist natürlich kein schönes Verhalten, aber was tun, ich konnte nicht anders«, notiert sie schuldbewusst. Nach der Lektüre ist sie erschüttert. Der Brief, den Dostojewskij noch vor seiner Abreise erhalten hatte, stammt von Apollinaria Suslowa. »Als ich den Brief gelesen hatte, war ich so aufgeregt, dass ich nicht mehr aus noch ein wusste. Mir wurde kalt, ich zitterte und weinte sogar. Ich fürchtete, die alte Neigung würde sich wieder regen und seine Liebe zu mir vergehen.« Anna erzählt ihrem Mann nicht von ihrem Vergehen, aber er spürt, dass etwas mit ihr ist. »Ich glaube, er ahnte, dass ich von dem Brief wusste; er fragte mich nämlich, ob ich eifersüchtig sei«, notiert sie.
Doch Annas Befürchtungen sind unbegründet. Dostojewskij versteht sehr gut, dass sie jene Frau ist, die er braucht, dass das Zusammenleben mit ihr sein Leben und seine Existenz als Schriftsteller beständig macht. »Anna Grigorjewna hat sich als stärker und tiefer erwiesen, als ich sie zuvor kannte«, resümiert er später, »und in vielen Fällen war sie schlicht mein Schutzengel; und sie hat zugleich so viel Kindliches und Erwachsenes einer Zwanzigjährigen, das wundervoll ist und natürlich unabdingbar ist, das zurückzugeben wohl außerhalb meiner Kraft und Begabung liegt.« Anna Dostojewskaja unterstützt ihren Ehemann bei seiner literarischen Arbeit, ist zwar selbstbewusst und gemäßigt modern, aber sie teilt und akzeptiert jene traditionellen Werte, die für ihn wichtig sind, und sie ist bereit, sich ihm anzupassen und ihn als Familienoberhaupt anzuerkennen.
Aus Dresden schreibt Dostojewskij Apollinaria Suslowa einen letzten Brief. Er berichtet ihr, die offenbar nichts von seiner Heirat wusste, von der Veränderung in seinem Leben, von seiner Arbeit und seinen Plänen für neue Werke. Es ist ein recht nüchterner Brief, am Ende jedoch wird er persönlich. »Dein Brief hat einen recht traurigen Eindruck bei mir hinterlassen«, schließt er. »Du schreibst, dass Du sehr traurig bist. Ich weiß nichts über Dein Leben des vergangenen Jahres, und was Dein Herz bewegt hat, doch nach allem, was ich über Dich weiß, ist es schwer für Dich, glücklich zu sein … Oh, meine Liebe, ich trage Dir kein wohlfeiles unvermeidliches Glück an. Ich achte Dich (und habe Dich immer geachtet) für die hohen Forderungen, die Du stellst, und zugleich weiß ich, dass Dein Herz nach Leben verlangt, Du aber die Menschen entweder für grenzenlos überragend oder gleich für niederträchtig und vulgär hältst. … Auf Wiedersehen, ewige Freundin! Lebe wohl, meine Freundin, ich drücke Dir die Hand und küsse sie.«
Es ist nicht Dostojewskijs abgekühlte Leidenschaft für Apollinaria Suslowa, die die junge Ehe bedroht, sondern seine zweite, wenigstens ebenso große Leidenschaft, nämlich jene für das Spiel. Nicht zuletzt aufgrund der angespannten materiellen Situation ist der Schriftsteller zunehmend vom Gedanken besetzt, zur Verbesserung der finanziellen Lage erneut sein Glück im Spiel zu suchen. Vielleicht war dies gar einer der wichtigsten Beweggründe für die Reise nach Deutschland.
»Nach etwa drei Wochen in Dresden«, erinnert sich die Schriftstellergattin später, »begann mein Mann plötzlich vom Roulette zu sprechen (wir erinnerten uns häufig daran, wie wir zusammen den Roman Der Spieler geschrieben hatten) und äußerte den Gedanken, dass er, wäre er allein in Dresden, augenblicklich abreisen würde, um Roulette zu spielen. Zu diesem Gedanken kehrte er wohl noch zwei Mal zurück und daraufhin fragte ich ihn, weil ich ihn in nichts einschränken wollte, warum er denn nicht fahren könne? Fjodor Michailowitsch wandte ein, es sei nicht möglich, mich allein zu lassen, zu zweit zu reisen aber sei zu teuer. Ich überredete meinen Mann, für ein paar Tage nach Homburg zu fahren, und überzeugte ihn, dass mir während seiner Abwesenheit schon nichts passieren würde. Fjodor Michailowitsch versuchte Ausflüchte, doch weil sein Wunsch, ›das Glück herauszufordern‹, sehr groß war, stimmte er zu, ließ mich in der Obhut unserer Zimmerwirtin zurück und fuhr nach Homburg. Ich versuchte sehr, nicht traurig zu sein, jedoch: als der Zug sich in Bewegung setzte und ich mich sogleich allein fühlte, konnte ich meine Verzweiflung nicht zurückhalten und begann zu weinen.«
»Die ganze Zeit habe ich an Dich gedacht«, schreibt Dostojewskij ihr am nächsten Tag, »und ich habe begriffen, dass ich einen so unverbrauchten, hellen, ruhigen, demütigen, wundervollen, unschuldigen Engel, der an mich glaubt, wie Du es bist, nicht verdient habe. Wie konnte ich Dich verlassen? … Gott hat Dich in meine Hände gegeben, damit das in Dir Angelegte, der Reichtum Deiner Seele nicht verloren gehe, sondern im Gegenteil reich und prächtig wachsen und blühen möge; er gab Dich mir, damit ich meine großen Sünden durch Dich büße, indem ich Dich Gott gereift, wissend, unversehrt, von allem Niederen und die Seele Tötenden wieder übergebe. … Anja, mein helles Licht, meine Sonne, ich liebe Dich! So fühlt und erkennt man also durch eine Trennung, wie sehr man liebt. Wir beginnen zusammenzuwachsen.«
Die nächsten knapp zwei Wochen – statt der geplanten zwei, drei Tage – werden zur Prüfung für die Eheleute. Dostojewskij besteht sie nicht. Wieder wird er mitgerissen vom Strudel der Spielsucht. Er sitzt stundenlang am Spieltisch, und wenn er gewinnt, setzt er alles wieder ein und verliert. Er ist überzeugt, dass er das Schicksal bezwingen kann, wenn er es nur vermag, sich nicht von seinen Gefühlen mitreißen zu lassen, wenn er kaltblütig und mit Vernunft spielt. In seinen täglichen Briefen an seine Anja bereut er, geißelt sich, beschwört seine Liebe zu ihr. Aber er glaubt, nicht abreisen zu können, ohne mit einem großen Gewinn zurückzukehren, der sie aus ihrer misslichen materiellen Lage befreit.
Anna versucht, gelassen zu bleiben. Sie schickt ihm Geld, damit er, der alles verspielt hat, ein Billett für die Rückreise bezahlen kann. Sie geht täglich zum Bahnhof, weil sie hofft, dass er zurückkommt, aber er hat schon wieder alles verspielt. »Anja, meine Liebe, meine Freundin, meine Frau, verzeih mir, nenne mich nicht einen Schuft!«, schreibt er ihr. »Ich habe ein Verbrechen begangen, ich habe alles verspielt, was Du mir geschickt hast, alles, bis auf den letzten Kreutzer.«
Als er am 27. Mai wieder in Dresden eintrifft, ist sie »unendlich glücklich«, »weil er doch endlich wieder bei mir war«. Bis auf weiteres gibt Dostojewskij sich von seiner Sucht kuriert und will sich wieder der Arbeit widmen. »Nun nur noch Arbeit und Schreiben, Arbeit und Schreiben, und ich werde nochmals beweisen, was ich kann!«
Anna Dostojewskaja ist zwar jung und möglicherweise auch ein wenig naiv, aber intuitiv verhält sie sich ihrem Mann gegenüber mit der Nachsicht, die es braucht, um ihn nicht noch mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie stellt ihre eigenen Gefühle und Ängste zurück, da sie an ihn und ihre Liebe glaubt, glauben will. Während Dostojewskij in Homburg vollkommen haltlos am Spieltisch seiner Leidenschaft freien Lauf lässt, hält sie ihre Gefühle im Zaum. Auch ihre Eifersucht auf Apollinaria Suslowa, die sie von Neuem ergreift, als ein weiterer Brief Suslowas eintrifft. Wieder greift die junge Ehefrau zu unlauteren Mitteln – sie entsiegelt den Brief und liest ihn: »Es war ein sehr dummer und plumper Brief, der keinen besonderen Verstand dieser Person zeigte«, notiert sie. Am nächsten Tag versiegelt sie den Brief wieder und übergibt ihn ihrem Ehemann nach seiner Rückkehr. Dass er ihr nicht von Suslowa erzählt, macht sie misstrauisch, und sie glaubt, er betrüge sie. »Mich kränkt es, dass er mich so hinters Licht führt«, beklagt sie sich im Tagebuch, »so bringt er mir doch nicht bei, wie man sich richtig verhält, sondern gibt mir genauso das Recht, vor ihm das zu verbergen, was ich verheimlichen will. Das ist wirklich nicht gut, besonders bei ihm, den ich immer für vorbildlich gehalten habe.« Dostojewskaja vermutet Suslowa in Dresden und meint, wenn der Schriftsteller ausgehe, treffe er sich mit ihr. Sie steigert sich in ihre Eifersucht hinein, sagt aber ihrem Mann nichts davon. Die Eifersucht ist unbegründet. Suslowa ist weit weg in Russland und versucht, ihr Leben in geordnete Bahnen zu lenken.
Die Dostojewskijs fassen den Plan, in die Schweiz zu reisen. Als Mitte Juni der von Katkow erbetene Vorschuss eintrifft, verlassen sie Dresden. Auf der Durchreise wollen sie für zwei Wochen in Baden-Baden Station machen – es ist offensichtlich, dass der Schriftsteller vom Spiel noch nicht lassen kann. »Er kehrte im Gespräch immer wieder zum Roulette zurück, es tat ihm leid um das verlorene Geld, und er gab allein sich selbst die Schuld an den Verlusten. Er war überzeugt, dass er das Glück mehrmals in Händen gehalten habe, es aber nicht habe halten können, weil er sich beeilt, die Einsätze geändert und verschiedene Methoden des Spiels probiert und deshalb letzten Endes verloren habe. … Er glaubte, wenn er zwei-drei Wochen in einer Stadt mit Spielkasino bleiben könnte und eine gewisse Summe zur Verfügung hätte, dann hätte er ganz sicher Erfolg; ohne sich beeilen zu müssen, könne er jene Methode des Spiels anwenden, bei der es unmöglich sei, nicht zu gewinnen, vielleicht keine große Summe, so doch genug, um die Verluste zu decken.« Anna kann sich der Überzeugungskraft ihres Ehemannes nicht widersetzen und ist mit einem Aufenthalt in Baden-Baden einverstanden. Sie hofft sogar, ihre Anwesenheit würde mäßigend auf ihren Mann einwirken. Aber die nächsten Wochen werden zu einem Alptraum.
Dostojewskij gewinnt und verliert, bereut, weint, erbettelt das letzte Geld, das Anna zurückgelegt hat, sie gibt es ihm, er verliert wieder. Er versetzt seinen Ehering, er versetzt ihren Ehering, ihren gesamten Schmuck, ihre Mantille, so dass sie nicht einmal mehr spazieren gehen kann. Annas Mutter schickt Geld, damit die ins Pfandhaus gebrachten Gegenstände ausgelöst werden können. Dostojewskij verspielt es. Die junge Frau ist verzweifelt. »Alles kam mir furchtbar traurig und schwer vor«, schreibt sie in ihrem Tagebuch. »Es ging nicht so sehr um den Verlust des letzten Geldes als darum, dass alles so sinnlos, so schwer war, alle diese Aufregungen und Sorgen, dass man an nichts anderes mehr denken konnte, dass die Gedanken nur noch um die 160 Goldstücke kreisten, die wir am Abend vorher noch gehabt hatten. Es war Wahnsinn hierzubleiben, denn jetzt hatten wir nichts mehr.«
In dieser angespannten Stimmung trifft Dostojewskij seinen Schriftstellerkollegen Iwan Turgenjew. Das Verhältnis zwischen ihnen ist nicht nur wegen der 50 Taler belastet, die Turgenjew Dostojewskij zwei Jahre zuvor geliehen hatte und die dieser selbstredend noch nicht zurückbezahlt hatte. Die beiden Schriftsteller sind charakterlich und durch ihre soziale Herkunft grundverschieden. Darüber hinaus sind sie, nachdem sie zu Beginn ihrer literarischen Karrieren für kurze Zeit einander durchaus in Sympathie verbunden waren, mittlerweile weltanschaulichen Gruppierungen zuzurechnen, die in tiefem Gegensatz zueinander stehen. Turgenjew ist überzeugter »Westler«, fühlt sich gar als Deutscher, während Dostojewskijs russophile Einstellung zunehmend von einem unduldsamen Messianismus geprägt ist. Er verachtet die Deutschen. »In Deutschland hat mich vor allen Dingen die Dummheit des Volkes entsetzt; sie sind so maßlos, so unermesslich dumm«, schreibt Dostojewski seinem Freund Apollon Majkow.
Dieser tiefe Gegensatz bricht nun auf. Dostojewskij wirft Turgenjew Atheismus und Russophobie vor, die in dessen soeben erschienenen Roman Rauch zum Ausdruck komme, Turgenjew sagt, er schreibe an einem großen Aufsatz gegen alle Russophilen und Slawophilen. »Ich riet ihm«, schreibt Dostojewskij, »der Bequemlichkeit halber … ein Fernrohr zu bestellen. ›Warum?‹, fragte er. Ich antwortete: ›Richten Sie das Teleskop auf Russland und betrachten Sie uns. Sonst ist es doch schwierig, Genaues zu erkennen.‹ Er ärgerte sich maßlos.«
Der Konflikt hat auch ein literarisches Nachspiel. In der Figur des eitlen und affektierten, unterwürfigen und schwächlichen Semjon Jegorowitsch Karmasinow schafft Dostojewskij in Die Dämonen eine bösartige Karikatur Turgenjews. Dieser trägt es mit Fassung. Erst über ein Jahrzehnt später wird es kurz vor Dostojewskijs Tod anlässlich der Feierlichkeiten zur Einweihung des Puschkin-Denkmals in Moskau zu einer spektakulären Aussöhnung der beiden Schriftsteller kommen.
Nach sieben Wochen »in der Hölle« von Baden-Baden begreift Dostojewskij, dass es so nicht weitergehen kann. Die Eheleute beschließen abzureisen und setzen ihren Entschluss gleich am nächsten Tag in die Tat um. Zu groß ist die Verlockung des Spiels. Sie wollen nach Genf, wo das Leben günstig ist und es kein Kasino gibt. »Ich freute mich, wenigstens eine weitere Stadt auf meiner Reise zu sehen«, notiert Anna Dostojewskaja am 22. August 1867. Am Morgen des nächsten Tages, Anna ist schon dabei, Reisesack und Koffer zu packen, eilt der Schriftsteller nochmals an den Spieltisch und verliert fast alles, so dass ein letztes Mal der Pfandleiher aufgesucht werden muss, damit die Billetts nach Genf bezahlt werden können. Dostojewskaja gibt die letzten Schmuckstücke, die ihr geblieben sind – eine Brosche und mit Brillanten und Rubinen besetzte Ohrringe, das Hochzeitsgeschenk ihres Ehemannes. Sie ahnt, dass dieser Schmuck auf immer verloren ist, aber dieser Einsatz ist ihr nicht zu hoch, um der Hölle zu entkommen. »Ich war überglücklich, dass wir endlich diese verfluchte Stadt verließen, ich glaube, dass ich nie mehr hierherkommen werde … so viel Kummer hat mir diese Stadt gebracht«, schreibt sie.
In Genf kommen die Dostojewskijs ein wenig zur Ruhe. Sie mieten ein chambre garnie, und das Leben verläuft wieder wie in Dresden in geordneten Bahnen. Am 12. September, nach julianischem Kalender der 30. August, also Annas 21. Geburtstag, besuchen sie den Ersten Internationalen Friedenskongress im Palais Electoral. Genf ist seit Mitte der 1860er Jahre das Zentrum der politischen russischen Emigration. Seit 1865 lebt der Philosoph und Schriftsteller Alexander Herzen hier, der die Zeitschrift Die Glocke (Kolokol) herausgibt, die erste unzensierte russische Zeitschrift, die großen Einfluss auf die reformorientierten und revolutionären Kräfte hat, und ein halbes Jahrhundert darauf wird der spätere Führer der Bolschewiki, der sich den Kampfnamen Lenin gegeben hat, hier eine Weile seines Exils verbringen.
Giuseppe Garibaldi, der italienische Freiheitskämpfer und populäre Protagonist des Risorgimento, der italienischen Einigungsbewegung zwischen 1820 und 1870, ist als Gast auf dem Kongress angekündigt und auch Michail Bakunin, der heute weltberühmte Anarchist, der Mitglied der auf dem Kongress gegründeten Internationalen Friedens- und Freiheitsliga wird, hält eine Rede, in der er für die Zerschlagung des Russischen Reiches wie auch der europäischen Zentralstaaten und deren Ersetzung durch von unten aufgebaute Föderationen freier Völker plädiert. Eine radikale politische Einstellung, die Dostojewskij selbstredend vehement ablehnt, denn wie bei seinen bisherigen Aufenthalten in Westeuropa sucht er geradezu nach Bestätigung seiner Ressentiments und Vorurteile gegen »den Westen«.
»Habe ich Ihnen vom Friedenskongress berichtet, der hier veranstaltet wurde?«, schreibt er im September Apollon Majkow. »Es waren 4 Tage Geschrei und Zwist. Tatsächlich bekommen wir bei uns zu Hause einen falschen Eindruck von diesen Dingen, da wir nur davon lesen und Berichte darüber hören. Nein, man sollte das alles mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören.« Selbstverständlich pflegt Dostojewskij während des Aufenthalts in Genf mit den ihm ideologisch fern stehenden Landsleuten keinerlei Kontakt. Lediglich Nikolaj Ogarjow, Freund Alexander Herzens und Mitherausgeber der Zeitschrift Die Glocke, sucht sie gelegentlich auf, versorgt sie mit russischen Zeitschriften und Büchern und leiht ihnen bisweilen ein wenig Geld.
Die Umstände sind widrig. Dostojewskij leidet an häufigen epileptischen Anfällen, nach denen er sich jeweils einige Tage erholen muss, und die finanzielle Situation ist unverändert schlecht. »Ich stehe spät auf, heize den Kamin (es herrscht fürchterliche Kälte)«, berichtet der Schriftsteller Mitte Januar 1868 seiner Nichte Sofja, »wir trinken Kaffee, dann setze ich mich an die Arbeit. Danach gehe ich um vier Uhr in ein Restaurant, wo ich für 2 Franken esse (mit Wein). Anna Grigorjewna zieht es vor, zu Hause zu essen. Dann gehe ich ins Café, trinke Kaffee und lese die Moskauer Nachrichten und Die Stimme bis zum letzten Buchstaben. Schließlich gehe ich eine halbe Stunde durch die Straßen, um etwas Bewegung zu haben, dann nach Hause und wieder an die Arbeit. Dann heize ich erneut den Kamin, wir trinken Tee und wieder an die Arbeit. Anna Grigorjewna sagt, dass sie furchtbar glücklich ist. Genf ist langweilig, finster, eine protestantisch dumme Stadt, mit schlechtem Klima, doch das ist umso besser für die Arbeit.«
In Genf stellt Dostojewskij endlich den Artikel über Belinskij fertig, der ihn bereits in Dresden belastet hatte. »Ich habe diesen verfluchten Artikel wohl insgesamt fünf Mal geschrieben«, berichtet er Apollon Majkow. »Schließlich habe ich irgendwie einen Artikel zustande gebracht – aber er ist derart schlecht, dass es mir die Seele umdreht.« Im September kann er ihn endlich nach Moskau schicken. Schließlich hält es ihn nicht mehr, und seine Spielleidenschaft treibt ihn ins Kasino des Walliser Kurorts Saxon les Bains. Drei Mal reist er dorthin, drei Mal kehrt er vollkommen mittellos zurück. Manchmal wissen die Dostojewskijs nicht, wie sie den Tag überstehen sollen. Doch jedes Mal ist der Schriftsteller nach seiner Rückkehr geläutert und stürzt sich in die Arbeit an seinem neuen Roman.
»Wie niederträchtig das alles doch ist«, wirft Anna Dostojewskaja ihrem Mann entgegen, als er im November aus Saxon les Bains zurückkehrt, wo er wieder die gesamte Habe aufs Spiel gesetzt und verloren hat. »Der Roman, der Roman allein wird uns retten«, schwört der Schriftsteller. »Voller Liebe und Hoffnung werde ich mich an die Arbeit machen.« Im Oktober 1867 hatte er die Arbeit an dem neuen Roman begonnen, dessen erster Teil im Januar 1868 erscheinen soll. Michail Katkow, der Herausgeber des Russischen Boten, hatte auf das geplante neue Werk bereits einen stattlichen Vorschuss bezahlt, die Arbeit am Manuskript kommt jedoch nur langsam voran. Im Dezember verwirft Dostojewskij alles bisher Geschriebene und beginnt von vorne. »Ich habe alles aufs Spiel gesetzt, wie beim Roulette, und gehofft, dass sich alles beim Schreiben ergibt«, gesteht er Apollon Majkow. Und er gewinnt. Mit Unterstützung seiner Ehefrau, die auch diesen Text, wie alle folgenden Werke, nach seinem Diktat stenographiert, entstehen innerhalb von 23 Tagen die ersten fünf Kapitel des neuen Romans, in dem Dostojewskij einen »vollkommen guten und schönen Menschen« darstellen will, der sein ihm liebstes Geschöpf wird – Der Idiot, der »große tieftraurige und lächerliche Clown der Weltliteratur«, ein Antagonist zu den Protagonisten seiner Zeitgenossen wie Iwan Turgenjew und Nikolaj Tschernyschewskij.
Lew Nikolajewitsch Myschkin, der Spross eines verarmten Fürstengeschlechts, kehrt nach einem vierjährigen Aufenthalt in einer Schweizer Nervenheilanstalt aufgrund seiner Epilepsie, den ihm Gönner ermöglicht haben, nach Sankt Petersburg zurück. Seine gesamte Habe trägt er in einem Bündel mit sich. Dieser merkwürdige Mensch mit der Seele eines unschuldigen Kindes, uneigennützig und voller Mitgefühl für das Leid anderer, ist in den Augen dieser ein »Idiot«. Er gerät in Kreise von Millionären, Geschäftsmännern, Generälen und geldgierigen Hochstaplern, die das neue »verwestliche« Russland symbolisieren, das vom unheilbringenden beginnenden Kapitalismus infiziert ist. Seine Annäherung an die Welt, in der alle traditionellen Werte ihre Bedeutung verloren haben, in der einzig Eigennutz und Betrug herrschen – »An Gott glauben sie nicht, an Christus glauben sie nicht!« –, ist von Beginn an zum Scheitern verurteilt.
Nach seiner Rückkehr nach Russland sucht Fürst Myschkin die Familie des Generals Jepantschin auf, mit dessen Gattin er verwandt ist. Dort fällt sein Blick auf das Porträt Nastasja Filippownas, das ihn mit seinem Ausdruck grenzenloser Tragik tief beeindruckt. Die kluge, begabte und willensstarke Nastasja Filippowna ist die Tochter eines verarmten Gutsbesitzers, die vom wohlhabenden Nachbarn erzogen wurde, der sie, als sie herangewachsen war, zu seiner Geliebten gemacht hatte. Sie kann diese schändliche Lage nicht hinnehmen und will für ihre Erniedrigung an der Gesellschaft Rache nehmen. Sie verliebt sich in Fürst Myschkin, der ganz anders ist als jene Vertreter der Adelsgesellschaft, von denen sie umgeben ist. Er erwidert ihre Liebe, allerdings eher mitfühlend als leidenschaftlich. Um sie aus ihrer Lage zu befreien, bietet er ihr an, seine Frau zu werden, sie aber will den unschuldigen Knaben nicht ins Verderben stürzen und entscheidet sich für den Kaufmann und Millionär Parfen Rogoschin, der sie maßlos liebt. »Lebe wohl, Fürst, zum ersten Mal bin ich einem Menschen begegnet«, sagt sie Myschkin zum Abschied.
Nastasja Filippowna sieht Myschkins Glück in der Ehe mit der hübschen und klugen Aglaja, der Tochter des Generals Jepantschin, die in ihn verliebt ist, und versucht sie zu überreden, seine Frau zu werden. Der Fürst ist zwischen Nastasja und Aglaja hin- und hergerissen. Und entscheidet sich doch für »die große Sünderin« Nastasja. Am Tag ihrer Trauung mit Myschkin läuft Nastasja mit den Worten »Rette mich! Bring mich fort!« zum in der Menge stehenden Rogoschin. Er bringt sie zu sich nach Hause, wo er sie in einem Anfall von Eifersucht ermordet. In der Nacht wachen der verzweifelte Rogoschin und Myschkin am Bett der Getöteten. Als Rogoschin am nächsten Morgen verhaftet wird, ist Myschkin in seine Krankheit zurückgefallen, er versteht die Situation nicht, erkennt niemanden und kehrt, nunmehr unheilbar seelisch krank, ins Sanatorium in der Schweiz zurück.
Einige der Figuren seines Romans seien schlicht Porträts, bekennt Dostojewskij in einem Brief an Apollon Majkow. Fürst Myschkin trägt deutliche autobiographische Züge – er leidet, wie der Schriftsteller, an Epilepsie, war ein schwärmerischer junger Mann und vier Jahre lang dem Leben entrissen –, die literarische Figur im Sanatorium, der Autor in Zuchthaus und Verbannung. Prototyp Nastasja Filippownas, bei der alle Handlungsfäden zusammenlaufen und die somit im Zentrum des Romans steht, ist Dostojewskijs erste Ehefrau Maria Dmitrijewna. »Sie haben gelitten und sind dieser Hölle entkommen«, sagt Fürst Myschkin zu ihr – er ist der Einzige, der ihr Trauma und ihr Bestreben versteht, dem Schmutz und der Niedrigkeit, die sie umgeben, zu entfliehen. Zu Beginn liebt Myschkin Nastasja, die jedoch erkennt, dass er lediglich Mitgefühl für sie empfindet. Ähnlich wie Maria Dmitrijewna hin- und hergerissen war zwischen Dostojewskij und Wergunow, schwankt Nastasja zwischen ihren Gefühlen für Myschkin und Rogoschin. Zugleich erinnert das Porträt der »stolzen Schönheit« mit »verletztem Herzen« indes auch an Apollinaria Suslowa, und im Verhältnis Nastajas und Tozkijs, des Gutsbesitzers, der die »zarte Seele« in ihrer Jugend verführt hatte, reflektiert Dostojewskij seine Hassliebe zu Suslowa.
Als Vorbild für Aglaja, die wie die »neuen Frauen« der Generation der 1860er Jahre bestrebt ist, der Welt »nützlich zu sein«, diente dem Schriftsteller Anna Korwin-Krukowskaja. Wie diese ist Aglaja klug und unabhängig, liest verbotene Literatur und versucht, aus ihrem »Nest« in Freiheit zu gelangen: »Ich will nicht auf ihren Bällen tanzen, ich will nützlich sein«, formuliert sie ihren Leitsatz. Sie versteht Myschkin, den sie für »den aufrichtigsten und wahrhaftigsten Menschen« hält, besser als alle anderen. Aglaja liebt diesen »Sonderling« und ist bereit, seine Frau zu werden, denn sie hat die Vorurteile der Gesellschaft überwunden, zugleich behandelt sie ihn hochmütig und schämt sich seiner Handlungen, die anderen unverständlich bleiben. Im Kampf um sein Herz erwartet sie von ihm entschiedenes Handeln, wobei sie vergisst, dass er, der Mitleid mit allen hat, dazu gar nicht fähig ist.
Im Januar 1868 schickt Dostojewskij den ersten Teil des Romans an den Russischen Boten. Die Kritik nennt den Roman »phantastisch« und fern jeder Realität. »Beschreibt denn mein phantastischer ›Idiot‹ tatsächlich nicht die Wirklichkeit, ja die alltägliche Wirklichkeit! Ja, gerade in unseren Zeiten müssen solche Charaktere in den von der Scholle entwurzelten Gesellschaftsschichten existieren, Gesellschaftsschichten, die in Wirklichkeit zunehmend phantastisch werden.« Das breite Publikum ist von dem Roman begeistert. »Überall, in den Klubs, in kleinen Salons, in den Eisenbahnabteilen« spricht man über Dostojewskijs neuen Roman, »von dem man sich bis zur letzten Seite nicht losreißen kann.«
Der Alltag ist aber nicht nur mit der Arbeit am neuen Roman ausgefüllt, sondern auch mit den Vorbereitungen auf die Geburt des ersten Kindes. Schon in Baden-Baden hatte Anna Dostojewskaja immer wieder über Übelkeit geklagt, und bald war klar gewesen, dass sie schwanger ist. Ende November ist eine Hebamme gefunden, unter deren sorgsamer Beobachtung die werdende Mutter fortan steht. Bis zum letzten Tag ihrer Schwangerschaft stenographiert sie den neuen Roman ihres Mannes und schreibt den Text danach ins Reine.
Als am Abend des 4. März 1868 die Wehen beginnen, ist der Schriftsteller außer sich. Die Hebamme muss mehrfach herbeieilen, aber die erfahrene Geburtshelferin beruhigt den aufgeregten Ehemann, dass es noch eine Weile dauern wird. »Oh, ces russes, ces russes!!«, schüttelt sie den Kopf. Als die Geburt gegen Morgen des nächsten Tages schließlich kurz bevorsteht, verbietet die resolute Mme Barraud dem Ehemann kurzerhand, das Geburtszimmer zu betreten, damit sie und ihre Helferin ungestört ihrer Arbeit nachgehen können. Als endlich der Schrei des Neugeborenen ertönt, springt Dostojewskij, der betend im Nebenzimmer wartet, auf, begehrt wild klopfend Einlass vor der verschlossenen Tür, stürmt dann ans Bett und küsst seiner Frau überglücklich die Hände. »Wir hörten, dass eine der beiden Damen sagte: ›Un garçon, n'est-ce pas?‹, und die andere antwortete: ›Fillette, une adorable fillette!‹.«
Die Hebamme sagt, sie habe noch nie einen werdenden Vater gesehen, der derart außer sich ist und schüttelt wieder den Kopf: »Oh, ces russes, ces russes.«
Dostojewskij ist ein überglücklicher Vater. »Er wollte stets dabei sein, wenn das Mädchen gebadet wurde, und half mir dabei, wickelte es selbst in das Piqué-Tuch … trug sie in seinen Armen und ließ seine Arbeit liegen, kaum dass er ihre Stimme hörte. Seine erste Frage, wenn er erwachte oder nach Hause zurückkehrte, war stets: ›Was ist mit Sonja? Geht es ihr gut? Hat sie gut geschlafen, getrunken?‹. Stundenlang saß Fjodor Michailowitsch an ihrem Bett, sang ihr Lieder vor und sprach mit ihr.«
Die Tochter wird auf den Namen von Dostojewskijs Lieblingsnichte Sofja getauft. »Anja hat mir eine Tochter geschenkt«, schreibt der Schriftsteller seiner Schwester Vera, »ein liebes, gesundes und kluges Mädchen, das mir so ähnlich sieht, dass es geradezu lachhaft ist. Sie beide sind in wundervollem Zustand, und ich hoffe auf Gottes Hilfe, dass auch weiterhin alles zufriedenstellend verläuft.«
Gott enttäuscht Dostojewskijs Hoffnung. Im Mai erkältet sich die kleine Sonja bei einem Spaziergang, beginnt zu husten und bekommt hohes Fieber. Der Arzt, der jeden Tag nach dem Säugling sieht, ist sicher, dass Sonja wieder gesund wird. Dostojewskij wacht besorgt an ihrer Wiege. Am 24. Mai stirbt das Neugeborene. »Tief erschüttert und traurig über den Tod unseres kleinen Mädchens war ich auch furchtbar besorgt um meinen Mann: er war wild verzweifelt, weinte und heulte wie eine Frau, als er beim erkalteten Leichnam seines Lieblings stand, und bedeckte ihr blasses, kleines Gesicht und ihre Hände mit heißen Küssen. Eine solch wilde Verzweiflung habe ich nie zuvor gesehen«, erinnert sich Dostojewskaja. Drei Tage später kleiden sie den Leichnam des Kindes in ein Totenkleid aus weißem Atlas, legen es in den mit Atlas ausgeschlagenen kleinen Sarg und begraben ihre Sonja in der Kinderabteilung des städtischen Friedhofs Plainpalais. Jeden Tag gehen sie ans Grab und beweinen ihr Kind. »Es war uns so schwer, Abschied zu nehmen von unserer unermesslich teuren Kleinen, die wir aufrichtig und zutiefst liebgewonnen hatten.«
Anfang Juni verlassen die Dostojewskijs Genf, wo sie alles an ihr verstorbenes Kind erinnert, und lassen sich am gegenüberliegenden Ufer des Genfer Sees im kleinen, eleganten Kurort Vevey nieder. Sie sind zu dritt, denn Annas Mutter war aus Russland in die Schweiz gekommen, um ihrer Tochter bei der Sorge für das Neugeborene zur Hand zu gehen. Nun versucht sie der untröstlichen jungen Mutter, die ihr Kind zu Grabe tragen musste, in ihrem Kummer eine Stütze zu sein. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, sie ist ganz krank vor Trauer«, schreibt Dostojewskij. »Anja ist mager geworden, ihre Nerven sind zerrüttet, und ich weiß nicht, was werden soll.«
Die trauernden Eltern stürzen sich in die Arbeit, um sich von ihrem Verlust abzulenken. »Ich gebe ihr viel zu tun, aber sie ist immer sehr schnell damit fertig, so dass die Pein von neuem beginnt. Ich sehe, dass sie Zerstreuung braucht. Aber wenn das Schicksal einmal zuschlägt, dann von allen Seiten: Wir haben keine Mittel, um in eine größere Stadt überzusiedeln (nach Florenz oder Neapel). … Eine Großstadt mit Museen, Gemäldegalerien usw. (wie in Dresden letztes Jahr) würde sie ablenken: Sie ist eine Liebhaberin der Kunst, sieht sie sich gern an und bildet sich gern. … Und nun sind wir von Genf hierher nach Vevey übergesiedelt, und alles ist nicht nur so hässlich wie überall, sondern sogar noch schlimmer.«
Die Arbeit am Idiot muss vorangetrieben werden, damit wenigstens die bescheidenen Einnahmen für die literarische Arbeit weiterfließen. Michail Katkow bezahlt seit einiger Zeit das Honorar für den Roman in Raten à 100 Rubel im Monat, und dies reicht gerade so für das Leben.
»Die ganzen vierzehn Jahre unseres Zusammenlebens haben wir keinen so traurigen Sommer verlebt wie jenen im Jahr 1868 in Vevey«, erinnert sich Anna Dostojewskaja später. »Das Leben stand für mich und meinen Mann gleichsam still; all unsere Gedanken, all unsere Gespräche gingen um die Erinnerung an Sonjetschka und an jene glückliche Zeit, als sie unser Leben erleuchtete. Jedes Kind, dem wir begegneten, erinnerte uns an unseren Verlust. … Ich vergoss viele Tränen meines kleinen Mädchens wegen.«
Die Zuflucht in die Arbeit bringt keine Erleichterung. Dostojewskij ist »bis zum Ekel« unzufrieden mit seinem Roman. »Ich strenge mich furchtbar an weiterzuarbeiten, aber ich kann es nicht«, schreibt er. »Meine Seele ist krank. Jetzt mache ich mich mit letzter Anstrengung an den 3. Teil. Wenn ich ihn irgendwie hinbekomme, so werde ich gesund, wenn nicht, bin ich verloren.« Darüber hinaus gibt es Anzeichen dafür, dass Dostojewskijs Korrespondenz aufgrund einer Verleumdung von der Polizei in Petersburg überwacht wird. Offensichtlich ist der Pope in Genf ein Zuträger der zaristischen Geheimpolizei, und Dostojewskijs Kontakt zum revolutionär eingestellten Nikolaj Ogarjow hat seinen Verdacht geweckt. Briefe kommen nicht an, und ein anonymes Schreiben informiert den Schriftsteller, dass er bei seiner Rückkehr nach Russland peinlich genau kontrolliert würde.
Im September nehmen die Dostojewskijs Abschied von der ungeliebten Schweiz und reisen nach Italien. Einige Zeit bleiben sie in Mailand, aber es ist unwirtlich kalt und regnerisch. Darüber hinaus gibt es hier keine Cafés, in denen russische Zeitungen und Zeitschriften ausliegen, was Dostojewskijs Befindlichkeit nicht eben hebt. Immer wieder klagt er darüber, von Russland abgeschnitten zu sein. »Mein Leben hier wird mir immer schwerer«, klagt er Apollon Majkow. »Es gibt nichts Russisches – nicht ein russisches Buch, nicht eine russische Zeitung habe ich in den letzten 6 Monaten gelesen.« Trotzdem ist er glücklich, denn Anna ist die richtige Frau an seiner Seite, und »wir lieben einander mehr als 1½ Jahre zuvor.« Im Dezember reisen die Dostojewskijs weiter nach Florenz, nehmen ein Zimmer unweit des Palazzo Pitti und genießen die Ablenkung, die das kulturelle Besichtigungsprogramm bietet. Sie finden auch eine Bibliothek, in der russische Zeitungen ausliegen, und nach dem Essen begibt sich der Schriftsteller nun täglich zur Lektüre in den Lesesaal.
Das Jahr 1869 beginnt glücklich: Anna Dostojewskaja ist wieder schwanger. »Unsere Freude war grenzenlos, und mein Mann begann, mich ebenso aufmerksam zu umsorgen wie in der ersten Schwangerschaft«, erinnert sich Anna Dostojewskaja. »Seine Sorge ging so weit, dass er jenen Band des soeben erschienenen Romans Krieg und Frieden von Graf Lew Tolstoj, in dem der Tod der Gattin des Fürsten Andrej Bolkonskij bei der Geburt ihres Kindes beschrieben wird, vor mir versteckte. Fjodor Michailowitsch befürchtete, die Darstellung des Todes würde einen allzu starken und bedrückenden Eindruck auf mich machen. Ich suchte den verschwundenen Band überall und machte meinem Mann Vorwürfe, dass er dieses interessante Buch verlegt hatte.«
In Florenz schließt Dostojewskij die Arbeit am Idiot ab. Ein Jahr lang hat er Monat um Monat »3½ Druckbogen«, also um die 50 Seiten geschrieben. Aber er kann sich keine Ruhe gönnen, denn die finanzielle Situation ist wie immer prekär. Als endlich wieder eine größere Geldanweisung von Katkow als Vorschuss auf einen neuen Roman eintrifft, reisen die Dostojewskijs Ende Juli über Venedig, Triest und Wien nach Prag, wo sie den Winter verbringen wollen. Da sie dort jedoch keine möblierte Wohnung finden können, fahren sie drei Tage später weiter nach Dresden, wo Anna Dostojewskaja am 26. September 1869 mit einer Tochter niederkommt. »Vor drei Tagen wurde meine Tochter LJUBOW geboren«, berichtet der Schriftsteller. »Alles verlief ausgezeichnet, das Kind ist groß, gesund und eine Schönheit. Anja und ich sind glücklich.« Ljubow heißt Liebe.
Der »Zuchthausarbeiter« der Literatur schreibt unermüdlich. In Dresden entsteht die Erzählung Der ewige Gatte, ein Eifersuchtsdrama, das aus einem Dreiecksverhältnis resultiert und Anfang 1870 erscheint. Nach dessen Abschluss macht Dostojewskij sich wieder an ein großes Werk, in dem er sich den politischen Themen der Zeit zuwendet: Die Dämonen. Doch die ewige Geldnot drückt auf die Seele. »Wie soll ich arbeiten, wenn ich hungrig bin, wenn ich, um an zwei Taler für ein Telegramm zu kommen, meine Hose versetzen muss!«, schreibt Dostojewskij. »Ach, zum Teufel mit meinem Hunger! Aber meine Frau stillt das Kind, was ist mit ihr, die ihren letzten warmen Wollrock versetzen muss! Hier schneit es bereits den zweiten Tag … und sie könnte sich erkälten!« Die materielle Not weckt in ihm wieder seine Leidenschaft für das Spiel, und er fährt nach Wiesbaden, um im Kasino erneut sein Glück zu versuchen. »Meine Teure, meine ewige Freundin, mein himmlischer Engel, Du verstehst natürlich – ich habe alles verspielt«, schreibt er seiner Frau wenige Tage später. »Anja, ich liege Dir zu Füßen und küsse sie und weiß, dass Du das volle Recht hast, mich zu verachten und zu denken: ›Er wird wieder spielen.‹ Wie kann ich Dir nur schwören, dass ich es nicht tun werde? … Denke nicht, ich sei verrückt, Anja, mein Schutzengel! Mir ist etwas Großes geschehen, die widerwärtige Wahnvorstellung, die mich fast zehn Jahre gequält hat, ist verschwunden. Zehn Jahre lang (oder besser gesagt, seit dem Tod meines Bruders, als mich die Schulden plötzlich erdrückten) habe ich davon geträumt, zu gewinnen. Ich habe davon geträumt, mit Leidenschaft, voller Ernst. Nun ist es vorüber! Es war wirklich das letzte Mal! Glaubst Du, Anja, dass nun meine Hände von den Fesseln befreit sind? Ich war gefesselt vom Spiel, nun werde ich an die Arbeit denken und nicht mehr nächtelang vom Spiel träumen, wie es früher war … Anja, glaube mir, dass unsere Auferstehung angebrochen ist und glaube mir, dass ich von heute an das Ziel erreiche – Dich glücklich zu machen!«
Anna Dostojewskaja ist erleichtert. »Ich konnte nicht sofort glauben, dass ich wirklich so glücklich sein sollte, Fjodor Michailowitschs Abkehr vom Spiel zu erleben!«, heißt es in ihren Erinnerungen. »Er hatte es mir schon häufig versprochen, aber sein Versprechen nie gehalten. Doch dieses Mal war es zum Glück nicht nur ein Versprechen, es war tatsächlich das letzte Mal, dass er Roulette spielte.«
Im Juli 1871 ist auch der Auslandsaufenthalt der Dostojewskijs zu Ende. Schon lange wollen sie beide wieder in die Heimat. Durch den Deutsch-Französischen Krieg, der seit Juli 1870 Europa in Atem hält, ist die politische Lage angespannt. Mit dem Frieden von Frankfurt am 19. Mai 1871 ist der Krieg zwar beendet, aber der nationalistische Taumel, in dem sich Europa befindet, stößt den Schriftsteller ab. »Wenn Sie nur wüssten, welchen Ekel bis aufs Blut, bis hin zum Hass, Europa in diesen vier Jahren in mir geweckt hat«, schreibt er Apollon Majkow.
Als Ende Juni eine Geldanweisung über 1000 Rubel vom Russischen Boten für den neuen Roman eintrifft, sind die Dostojewskijs endlich in der Lage, ihre offenen Rechnungen zu begleichen und die Billetts für die Heimreise zu bezahlen. Vor der Abfahrt erinnert sich der Schriftsteller des anonymen Briefs, den er in der Schweiz erhalten hatte. Dostojewskij ist zwar empört über die Verdächtigungen, denn er ist durchaus kein Gegner des Zarismus, und die Jahre in Europa haben seine Ablehnung von Liberalismus und Moderne noch verstärkt, aber er ist doch immer noch ein ehemaliger Staatsverbrecher und fürchtet Schwierigkeiten. »Wir heizten den Kamin an und verbrannten unsere Papiere. So wurden die Manuskripte … vernichtet. … Es gelang mir lediglich, die Notizbücher zu den Romanen zu retten und meiner Mutter zu übergeben, die im Herbst ebenfalls nach Russland zurückkehren wollte.« Sie gibt ihrer Mutter allerdings nicht nur die Notizbücher ihres Mannes mit, sondern heimlich auch ihr Journal des ersten Jahres ihres Aufenthalts, das so ebenfalls erhalten blieb.