Sie traten in den kahlen Raum, der an den Wänden in Weiß mit einem rundum laufenden blauen Streifen gefliest war, der mit der Farbe der Türen harmonierte, während der Boden ein helles Grau aufwies. Die Neonlampen an der Decke waren genau wie die Seziertische aus glänzendem Metall und tauchten den Raum in ein grelles Licht. Wieder einmal staunte Alexa über die penible Sauberkeit, die in solchen Räumen herrschte. Nirgends auf dem Metall konnte sie einen Fingerabdruck entdecken.
Bernhard Krammer ging vor. Sie musterte ihn. Er war groß, schlank, sein Haar war ergraut, aber er wirkte nicht alt. Sein Gesicht war von Narben überzogen. Sie fragte sich, welchen Grund es dafür geben mochte.
Nachdem er den Gerichtsmediziner begrüßt hatte, stellte er schon Alexa vor: »Rudi, das hier ist die ermittelnde Beamtin aus Deutschland, Kommissarin Jahn. Dr. Hellinger ist der fähigste Mann am Institut und weit über die Grenzen Österreichs bekannt«, fügte er noch an. Dann wandte er sich direkt an Hellinger: »Kannst du uns schon etwas zu dem Fund sagen?«
Der Mediziner hob kurz seine behandschuhte Hand, hielt sich aber nicht mit langen Grußformeln auf, was Alexa mehr als recht war. »Die Frau war bereits seit zwei oder drei Tagen tot, bevor wir sie gefunden haben. Da ich keinen Hinweis darauf habe, wo die Leiche gelagert wurde, kann ich keine präziseren Angaben zu dem Zeitraum machen. Leider. Ihr Alter würde ich auf Mitte vierzig schätzen. Keine Kinder. Es liegt nach allem, was ich sehen kann, auch kein Sexualdelikt vor.«
Krammer atmete schwer. »Ein schwacher Trost, wenn man bedenkt, was ihr nach ihrem Tod angetan wurde.«
Alexa nickte. Der Fund in den Bergen zuvor hatte sie bereits geschockt. Aber dieses gesichtslose Leichenfragment, das alles Menschliche verloren hatte, war noch weit schlimmer, denn es wirkte auf dem metallenen Tisch eher wie ein Stück Vieh in einer Schlachterei. So sorgsam der Täter den Oberkörper präpariert und angezogen hatte, so nüchtern war er hier vorgegangen: Er hatte sie in einen Plastiksack gesteckt und scheinbar achtlos in den See geworfen. Wie passte das zusammen?
»Generell weist ihr Unterleib keine Verletzungen auf«, fuhr Hellinger fort. »Weder alte noch neue. Sie hatte keinerlei Knochenbrüche, es gibt keine Schnitte und nur ein paar kleinere Hämatome.«
»Also nichts, was ihre Identifizierung erleichtern würde«, folgerte Krammer.
Der Rechtsmediziner deutete auf die Stelle, an der der Fuß abgetrennt war. »Eigentlich sollte ich mich nicht so aus dem Fenster lehnen mit meinen Vermutungen – immerhin seid ihr die Ermittler –, aber ich denke, der Mann wusste genau, was er da tut. Er war vielleicht kein Profi, aber er kannte sich aus. Er hat zunächst das Fleisch und die Sehnen mit einem sehr scharfen Messer durchschnitten und erst danach mit einer Axt den Knochen glatt durchtrennt.«
»Wie kommst du zu dieser Einschätzung?«, fragte Krammer, bevor Alexa es tun konnte.
»Eine Leiche zu zerteilen ist viel schwerer, als man gemeinhin glaubt. Ich weiß, wovon ich spreche, es ist schließlich mein Job. Normalerweise sehe ich verschiedene grobe Einschnitte in der Haut, so als müsse der Täter erst probieren, welchen Druck er auszuüben hat, welche Technik am zielführendsten ist.«
»Und diese Art von Probeschnitten fehlt hier?«, schloss Alexa aus seinen Ausführungen.
Hellinger nickte und deutete nun auf die oberen Schnittstellen. »Hier wird es ganz deutlich: Der Unterleib ist sorgsam zerteilt worden. Das war kein Täter, der in Raserei verfallen ist oder in einem Blutrausch war. Ich würde eher sagen, er ist sehr langsam vorgegangen. Ordentlich. Mit Sorgfalt. Wenn ihr versteht, was ich meine.«
»Dann fühlte er sich sicher. Und hatte keine Angst, dass der Mord entdeckt werden könnte«, murmelte Alexa mehr zu sich selbst als zu den anderen. Er musste also wissen, dass die Tote nicht vermisst werden würde. Was wiederum bedeutete, dass er sie vor dem Mord gekannt hatte. Oder sie zumindest schon länger unter seiner Beobachtung stand. In jedem Fall wusste er einiges über sie und ihr Umfeld. Außerdem war er vermutlich an einem so entlegenen Ort, dass er keine Angst haben musste, entdeckt zu werden, als er über sie herfiel. Ihr Blick wanderte zu einem der alten weißen Sprossenfenster, hinter denen sie in der Ferne den Kamm des Karwendelgebirges aufragen sah.
»Noch etwas macht mich in meiner Beurteilung stutzig«, fuhr Hellinger fort. »Wir konnten nicht die winzigste Spur an der Toten finden. Keine Fasern, keine Fingerabdrücke.«
»Also trug er Handschuhe«, warf Krammer ein. »Was wiederum dafür spricht, dass er ganz genau wusste, was er tat.«
»Das denke ich auch. Und er hat sie sehr gründlich gewaschen. Nachdem er sie zerteilt hat.«
Alexa starrte auf die Leiche, versuchte sich vorzustellen, wie der Täter sein Opfer nach dem Mord reinigte, mit einem Tuch oder mit einem Duschkopf alles von ihr wusch, was ihnen hätte helfen können, ihn zu überführen.
Noch ein anderer Gedanke ging ihr durch den Kopf. Etwas, das ihr beinahe absurd erschien, in Anbetracht des Zustandes der Leiche: dass er sich auf diese Art von ihr verabschiedet hatte. Eine letzte Geste sozusagen. Sie zu säubern, ihr eine gewisse Reinheit zurückzugeben.
»Die Welt wird immer verrückter«, riss Krammer Alexa aus ihren Gedanken. »Und die Menschen immer bestialischer. Wenn du sagst, er ging langsam vor, dann hat er das Ganze vermutlich richtig genossen, hat vielleicht in ihrem Blut gebadet oder etwas ähnlich Perverses getan. Ich kann es kaum fassen. In meiner ganzen Laufbahn habe ich so etwas noch nicht erlebt.«
Alexa sah Krammer erstaunt an. Er interpretierte die Details völlig anders als sie. Und ganz offensichtlich schien ihn der Fall sehr mitzunehmen. Er war noch blasser als vorhin im Flur und fuhr sich ständig mit der Hand durchs Gesicht. Sie überlegte kurz, ob sie ihrem letzten Gedanken Ausdruck verleihen sollte, der in eine gegenteilige Richtung führte, hielt sich dann aber zurück, denn schon setzte Hellinger seine Ausführungen fort.
»Ich habe den Kollegen in Deutschland kontaktiert, der Ihre Tote vom Berg untersucht hat.«
Gespannt sah Alexa Hellinger an und bemerkte etwas zu spät, dass sie offenbar vor lauter Aufregung die Innenseite ihrer Lippe aufgebissen hatte. Sie schmeckte Blut.
»Wir haben die Führung der Bauchschnitte verglichen und sind uns zu fünfundneunzig Prozent sicher, dass beide Leichenteile zu derselben Person gehören. Der DNA-Vergleich braucht noch ein paar Stunden, aber wir können schon jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Sie beide denselben Täter suchen.«
Alexas und Krammers Blicke trafen sich für einen Moment. Doch sofort wandte sich Krammer wieder ab. »Auf einem Berg, in einem See … Ich möchte gar nicht wissen, wo das Versteck für den Fuß sein wird. Womöglich in einer Höhle. Wie krank ist dieser Kerl eigentlich?«
Wieder verkniff sich Alexa einen Kommentar. Dieser Mord schien besonders perfide zu sein – und der Täter ausgesprochen gerissen. Aber Krammer hatte sie mit seinem Kommentar auf ein interessantes Detail aufmerksam gemacht: Der Täter hatte sie bisher nur an Orte geführt, wo andere Menschen ihren Urlaub verbrachten, Entspannung und Ruhe suchten. Und vielleicht wollte er genau diese stören.