Das Haus lag ganz am Ende der Gasse. Es handelte sich um ein ehemaliges Gesindehaus, das früher zu einer Mühle gehört hatte, erklärte ihr Gerg auf der Fahrt. Diese stand schon lange nicht mehr. Das Haus selbst, das ungefähr aus dem Jahr 1900 stammte, war ein Baudenkmal. Immer wieder kam es zu Diskussionen, da die Greitnerin, wie sie alle hier nannten, nicht die Mittel hatte, es wiederherzurichten. Im jetzigen Zustand war es jedoch ein echter Schandfleck für den Ort.
Gerg hatte angeboten, sie zu begleiten, aber Alexa wollte ihm nicht noch mehr Zeit stehlen. Nachdem sie ihm zum Abschied zugewinkt hatte, näherte sie sich langsam dem ockergelben Haus, das tatsächlich schon bessere Tage gesehen hatte. Einer der weinroten Fensterläden fehlte völlig, und an verschiedenen Stellen kam das rötliche Mauerwerk unter dem Putz zum Vorschein. Mit handwerklichem Geschick und einem Batzen Geld wäre daraus ein Schmuckstück geworden. Ein Haus in Alleinlage, mit Blick auf die Felder und einer Reihe von hohen alten Bäumen. Manch einer hätte für so was sicher ein Vermögen bezahlt.
Alexas Schritte knirschten auf dem Kiesweg. Auf der obersten der drei Stufen, die unter ein Vordach direkt zur Haustür führten, sah sie ein paar Teller und Schüsseln stehen, auf denen Essensreste lagen. Es roch nach altem Fleisch. Im Dämmerlicht suchte sie nach einer Klingel, doch als sie diese nicht finden konnte, klopfte sie an die Holztür.
Gespannt lauschte sie. Nichts war zu hören. Sie klopfte erneut, dieses Mal weniger zaghaft. Vielleicht hörte Fanny Greitner nicht mehr so gut oder hatte den Fernseher laufen.
Als die Tür sich schließlich öffnete, stand Alexa einer kleinen Frau in einer blauen Kittelschürze gegenüber, die ihr graues Haar zu einer Flechtfrisur hochgesteckt hatte und deren Rücken gebeugt war. Aus schmalen Augenschlitzen beäugte sie ihr Gegenüber.
»Guten Abend, Frau Greitner, bitte entschuldigen Sie die späte Störung. Mein Name ist Alexa Jahn von der Kripo Weilheim. Ich untersuche gerade einen Fall hier in der Gegend und hätte ein paar Fragen an sie. Dürfte ich kurz hereinkommen?«
»Wieso?«, fragte die Frau mit finsterem Blick.
»Vielleicht können wir uns kurz setzen, es dauert auch nur ein paar Minuten«, antwortete Alexa ausweichend, lächelte aber, um ihr zu zeigen, dass sie nichts im Schilde führte.
Die Frau zögerte, schaute an Alexa vorbei. »Sagen Sie einfach, worum es geht.«
Natürlich, schoss es ihr durch den Kopf: Ich bin ohne ein Auto da. Sie war zu Recht misstrauisch. Schnell zog sie ihren Dienstausweis heraus und hielt ihn der Frau hin.
Endlich trat die Greitnerin zur Seite und nickte kurz.
Alexa stand direkt in der Wohnküche des Hauses. Zu ihrer Linken gab es eine Eckbank mit einem großen Esstisch davor. Vor dem seitlichen Fenster befand sich ein weiterer schmaler Tisch, auf dem ein alter Nähkasten, diverse Socken und andere Stoffsachen lagen. Auf dem Kachelofen stand ein dampfender Topf.
Nicht die altbackenen Möbel waren es, die Alexa erstaunten, sondern die Tatsache, dass sie überall Katzen sah. Mindestens sechs konnte sie auf Anhieb zählen. Selbst aus dem Inneren der großen Anrichte auf der rechten Seite des Raumes sah sie die blitzenden Augen einer weiteren Katze leuchten. Es roch nach einem Gemisch aus abgestandener Luft, Schweiß, Katzenstreu und Kohl.
Die Frau rührte in dem riesigen Suppentopf, murmelte etwas Unverständliches, verschloss ihn mit einem Deckel und zog ihn mit gehäkelten Handschuhen ein Stück zur Seite, während zwei der Katzen mit erwartungsvollem Blick neben ihr herliefen, so als hofften sie auf Futter.
Dann kam die Greitnerin wieder zu Alexa zurück, räumte einen Stapel Tageszeitungen von einem der Stühle auf die Eckbank und wies darauf. Sie selbst setzte sich ebenfalls.
»Geht es um die Tote an der Demmelspitze?«, fragte Fanny Greitner sie unumwunden.
Verdutzt sah Alexa sie an. »Sie wissen davon?«
»Wer weiß denn nicht davon? Kommt ja nicht jeden Tag vor, dass eine Tote bei uns in den Bergen hängt.«
Eine weiße Katze mit roten Flecken sprang auf ihren Schoß, drehte sich einmal um die eigene Achse und rollte sich dann schnurrend zusammen. Der harte Blick der Frau veränderte sich, und mit einem kurzen »Na« begann sie das Tier zu kraulen.
»Während unserer Suche am Brauneck sind wir noch auf etwas anderes gestoßen. Eine Frau aus dem Ort hat mir gesagt, dass Sie im letzten Herbst eine Katze vermisst haben.«
»Welche Frau? Was wird über mich geredet?« Wieder hatte Fanny Greitner einen feindseligen Gesichtsausdruck, und ihre Hand verharrte kurz auf dem Tierrücken.
Da der Name der Pensionswirtin nichts zur Sache tat und sie kein böses Blut schaffen wollte, fuhr Alexa fort: »Hatte die Katze grau getigertes Fell?«
Die Augen der Frau, die ein trübes Grün hatten, waren gespannt auf Alexa gerichtet. Sie nickte. »Der Peterle.«
»Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber ich fürchte, wir haben Ihr Tier gefunden. Jemand hat es zu Tode gequält.«
Die Frau seufzte einmal tief, und schon kamen zwei weitere Katzen angelaufen und strichen maunzend um ihre Beine, so als wollten sie ihr Trost spenden. Sie schaute zu ihnen herab, lächelte kurz, blieb aber stumm. Dabei fuhr sie sanft über das Fell der anderen Katze.
Ihre Hände waren recht klein, hatten braune Altersflecken, und die Haut wirkte spröde. Ihre Fingernägel waren sorgfältig gekürzt. Sie war offenbar eine Frau, die viel anpacken musste. Vermutlich machte sie das Holz selbst, das rings um das Haus gestapelt war. Wie auch alles sonst hier, dachte Alexa und musste unwillkürlich an ihre eigene Mutter denken, die genauso autark war, aber sonst grundlegend anders. Gutmütig. Positiv.
»Ist so etwas schon häufiger vorgekommen?«, fragte Alexa sanft, war sich aber nicht sicher, ob die Frau sie gehört hatte. »Dass eines Ihrer Tiere verschwunden ist?«
Fanny Greitner zog hörbar die Nase hoch, dann hob sie die Katze auf ihrem Schoß kurz an, schlug die Beine übereinander und setzte das Tier sanft wieder ab.
Eine andere Katze auf der Eckbank war erwacht, machte sich lang, streckte die Glieder durch und kam auf Alexa zu. Sie hatte nur einen kurzen Stummelschwanz, dessen Bewegungen seltsam ungelenk wirkten. Als sie den Kopf hob, schaute Alexa in ein blindes Auge. Fast schien es, als würden die Tiere selbst eine Antwort geben.
»Wissen Sie, ich habe schon lange abgeschlossen mit den Menschen. Die meisten taugen nichts. Als die Arbeit noch so hart war, dass die Kerle abends müde ins Bett fielen, da war noch alles in Ordnung. Aber heutzutage … Die rasen mit ihren Autos, trinken zu viel und fühlen sich dann stark. Wissen nicht mehr, wohin mit ihrer Kraft. Beweisen ihre Männlichkeit, indem sie sich an Schwächeren vergreifen, an Kreaturen, die ihnen von Natur aus unterlegen sind, die …« Sie hielt mitten im Satz inne, aber Alexa wusste genau, worauf die Alte hinauswollte. »Die Irre mit ihren Katzen nennen sie mich im Dorf. Die denken, ich wäre verrückt geworden, nachdem mein Mann weg ist. Abgehauen, einfach so. Ohne mir was zu lassen. Aber das stört mich nicht. Ich habe nicht viel, das stimmt.« Sie zuckte die Schultern. »Und eine Schande für den Ort bin ich. Aber ich will Ihnen eines sagen: Ich bin viel besser dran, seit ich alleine bin. Tiere kennen keine Falschheit, solange sie genug zu Fressen haben und man sie gut behandelt.«
Ihre kleinen Augen ruhten wieder auf der Katze auf ihrem Schoß. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, während sie ihre Hand im Fell vergrub.
Die Worte der Frau waren bitter, jedoch machte sie nicht den Eindruck, als würde sie Groll gegen jemanden hegen. Im Gegenteil. Obwohl alles in ihrer Wohnung alt und abgenutzt war, schien sie eins mit sich und ihrer Umgebung, strahlte die Gewissheit aus, am richtigen Ort zu sein. Völlig gelassen, die schmalen Füße in ausgetretenen, etwas zu großen braunen Pantoffeln aus Cordstoff. Sie besaß nichts – und hatte doch im Grunde alles. Und auch wenn sie Menschen nicht zu mögen schien, den Tieren gegenüber hatte sie ein weiches Herz, das konnte man sehen.
Die Schranktür öffnete sich, und die Katze, die Alexa schon bemerkt hatte, kam daraus hervor, machte erst einen Buckel und streckte sich dann. Im Hintergrund wurde das hohe Maunzen von mehreren Kitten hörbar, die so winzig waren, dass ihre Augen noch geschlossen und ihre Bewegungen zittrig waren. Das Bauchfell der Mutter hing schlaff herunter, so als hätte sie schon Dutzende solcher Würfe hinter sich. Mit hoch erhobenem Schwanz eilte sie zu einer der Schüsseln, die Alexa erst jetzt neben dem Nähtisch wahrnahm, und begann zu fressen.
»Wenn Sie wissen wollen, ob ich es jemandem aus dem Ort zutraue, dass er meinen Peterle gequält hat, dann kann ich nur sagen: ja. Aber einen Namen, den kann ich Ihnen nicht nennen. Ich bin nicht von hier, müssen Sie wissen. Aufgewachsen bin ich in Fall. Ein paar Kilometer in Richtung Grenze. Aber nicht in dem Ort, den Sie jetzt unter dem Namen finden. Mein Heimatdorf liegt auf dem Grund des Stausees am Sylvenstein.« Sie seufzte. »Obwohl ich nun schon viel länger hier lebe als dort, bin ich immer noch die Zugezogene. Eine Fremde. Die Leute hier vergessen das nicht und lassen es mich spüren. Dass ich nicht dazugehöre. Deshalb könnte es jeder gewesen sein, Frau Kommissarin.« Sie sah zu ihr auf und fügte mit bitterer Stimme an: »Hier hassen mich alle.«