ELF

Am nächsten Morgen weckte mich Glockengeläut, aber kein echtes, merkte ich, als Luc neben mir schlaftrunken nach seinem Handy griff und die Glocken zum Verstummen brachte. Ein paar ärgerlich gemurmelte Sätze auf Französisch, ein Ruckeln und Sich-aufsetzen im Bett, dann ein »Je viens!«. Hastiges Zurückschlagen der Bettdecke, kurzer Abstecher ins Bad, eiliges Anziehen.

»Die Polizei«, erklärte er mir. »Es gibt neue Erkenntnisse. Ich muss so schnell wie möglich zum Gendarmerie-Posten nach Schlettstadt.«

Die Morgensonne schien freundlich ins Zimmer, das ganz in Weiß und Blau eingerichtet war, mit Muscheln, Netzen und kleinen Holzbooten als Dreingabe. Ein Raum, der zum Davonsegeln einlud, der die Weite und das Meer versprach, aber uns hatte man gerade mittels einer kalten Dusche an Land zurückbeordert.

»Was für neue Erkenntnisse?«, fragte ich und verschwand ebenfalls im Badezimmer.

»Wollte ich auch wissen«, rief Luc mir hinterher. »Aber es gibt keine Auskunft am Telefon.«

»Soll ich mitkommen?«, fragte ich, als ich mir im Zurückkommen die Haare trocken rubbelte.

Luc schüttelte den Kopf. Meine Sache, halt dich da raus, sagte sein Blick.

»Rufst du mich danach an?«

Luc versprach es. Ein schweigsames Frühstück, eine eilig getrunkene Tasse Kaffee, ein halbes Brötchen für jeden, keiner von uns rührte die üppige Wurstplatte an. Luc fuhr mich ins Dorf zurück, ein hastiger Abschiedskuss, in Gedanken war er woanders.

Die Welt lässt sich nicht aussperren, dachte ich. Man kann ihr ein paar Stunden stehlen, für einen Moment abtauchen, sie eine Zeit lang links liegen lassen. Aber sie holt dich immer wieder ins wirkliche Leben zurück.

Und das wirkliche Leben sah so aus, dass ich frisch verlassen vor der Linde stand.

Weshalb war Luc eigentlich gestern hier gewesen? Nur meinetwegen? Ohne vorher zu klären, ob ich überhaupt da war? Oder hatte er die Rheinseite wegen etwas anderem gewechselt? Etwas, das mit dem Mord an seinem Vater zu tun hatte? Es war sein gutes Recht, mir nichts über Emile Murnier zu erzählen, genauso wie es mein gutes Recht war, mehr über den Mann erfahren zu wollen, in dessen Rücken mein Messer steckte. Martha wusste etwas über den alten Murnier, aber würde sie mit mir reden? Und wenn ja, würde sie mir die Wahrheit sagen? Dann fiel mir Antoinette ein. Bestimmt eine ergiebige Quelle, sie musste Murnier schon von Kindesbeinen an kennen. Ich wählte ihre Nummer. Sie nahm nicht ab, auch sprang kein Anrufbeantworter an.

Auf der B 3 tobte der morgendliche Verkehr, vor dem Elektrogeschäft warteten Mütter darauf, die Straße überqueren zu können, um die lieben Kleinen im Kindergarten abzuliefern, beim Ganter Beck frühstückten zwei Installateure an den Stehtischen. Vor dem Queen’s Pub stapelten sich die weißen Plastikstühle in drei krummen Türmen, die Holzstühle der Linde lehnten einzeln an Tischen. So früh morgens war rechts und links der B 3 noch keine Kneipenzeit. Joe schlief wahrscheinlich noch den Schlaf der Gerechten oder Ahnungslosen, aber in der Linde mussten Martha und Edgar bereits beim Frühstück sitzen.

Edgar las immer die Zeitung, Martha hörte immer Radio. Edgar aß immer ein »Schleckselbrod«, Martha immer einen Apfel. Zusammen tranken sie vier Tassen Kaffee, Edgar mit Milch, Martha schwarz. Martha zählte Edgar immer auf, was er den Tag über erledigen musste, Edgar brummte immer ein Ja oder ein Nein. Am Ende faltete Edgar immer die Zeitung zusammen, und Martha wischte mit dem Handrücken die Krümel vom Tisch. So war das immer schon, und so würde es auch bleiben. Die zwei hatten sich über die Jahre zusammengerauft, aneinander abgeschliffen, bekämpft und ihre Pfründe abgesteckt. Der eine war ’s Deckele, der andere ’s Häfele. Die zwei gehörten zusammen auf immer und ewig. Eigentlich …

Ich steckte das Handy ein, griff entschlossen nach meinem Autoschlüssel, setzte mich hinters Steuer und machte mich auf den Weg nach Straßburg. Heute Nachmittag, wenn mein Patissier-Kurs zu Ende war, nach meinem Besuch bei Antoinette, würde ich nachsehen, ob Martha wieder am Herd stand und Edgar sich endlich beruhigt hatte.

Kaum hatte ich den Achersee und den doppelten Kreisverkehr – Kreisverkehr, übrigens etwas, das die Deutschen gerne von den Franzosen übernommen hatten – zur Autobahn hinter mir gelassen, tauchten wieder die Maisfelder auf. Der feuchte Boden – Rheinauenland, erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch Kanäle trockengelegt – eignete sich besonders gut zum Maisanbau. Hier hatte es schon immer Mais gegeben, lange bevor sein inflationärer Anbau den gesamten Oberrheingraben überzogen, mehr noch, sich der Mais überall in Europa wie eine Seuche ausgebreitet hatte. Ausbeutung des Bodens für Viehfutter und Biosprit. Unsere Nachkommen würden uns deswegen verfluchen.

Zwischen den Maisfeldern blitzte gelegentlich ein Blumenfeld auf: Gladiolen, Dahlien, Sonnenblumen zum Selbstpflücken. Gladiolen und Dahlien je siebzig Cent, Sonnenblumen kosteten ein Euro pro Stück. Bunte Farbkleckse, kleine Erholungsinseln für die Augen in dieser Maisgrün-Hölle. Am Rande der Felder dienten Holz- oder Blechkisten als Kasse. Luc hatte sich gestern darüber gewundert, dass das in Deutschland funktionierte, in Frankreich würde man die Blumen »einfach so« mitnehmen. »Aber hier in Deutschland zahlen die Franzosen«, hatte ich geantwortet, denn es gab etliche Blumenfelder in Grenznähe, und die Kunden waren meist Franzosen. »Wenn sie nicht bezahlten, würde kein deutscher Bauer so ein Feld weiter betreiben.«

»Nun ja«, hatte Luc gemeint. »Vielleicht passen sie sich jenseits der Grenze den Gebräuchen des Nachbarlandes an?« Auch jetzt sah ich wieder zwei Autos mit Elsässer Kennzeichen vor einem Gladiolenfeld parken.

Ich erinnerte mich, dass es Gerti war, Felix’ Mutter und Marthas Freundin, die in Fautenbach das erste Blumenfeld angelegt hatte. Am Ende der Scherwiller Straße, kurz vor der Auffahrt zum Zubringer. Jeder hatte damals geunkt, dass sie mit dem Feld nichts verdienen würde, aber das stimmte nicht. Gerti legte im Laufe der Jahre sogar ein zweites Feld an und hatte in der Gegend viele Nachahmer gefunden. Sie legte nicht nur Blumenfelder an, sie besaß auch einen wunderbaren Garten, der sich neben dem zubetonierten Hof der Spedition Ketterer wie ein Paradies ausmachte. Sie hatte als Erste Physalis und Kiwis gezogen und sogar eine Bougainvillea-Staude zum Blühen gebracht. Blumen gehörte ihre Leidenschaft, sie besaß zwei grüne Daumen, mit Menschen konnte sie es nicht so gut. Irgendwas an dem Foto, das sie mit Martha und Murnier zeigte, hatte mich irritiert. Jetzt, wo ich über Gerti nachdachte, fiel mir ein, was es war. Auf dem Foto strahlte Gerti, wirkte voller Lebensfreude, aber so hatte ich sie weder als Kind noch später je erlebt.

Manchmal war sie spätnachmittags in der Linde aufgetaucht. Immer entschuldigte sie sich für den unangemeldeten Besuch, immer brachte sie einen Blumenstrauß mit. Den hatte Martha in der großen grünen Vase auf den Tresen gestellt, bevor sie sich mit Gerti in den hintersten Winkel der Küche zurückzog, darauf bedacht, dass keiner von uns mitbekam, worüber sie redeten. Wenn Gerti ging, hatte sie es immer eilig gehabt, war schnell durch die Tür gehuscht. Martha hatte danach geseufzt, den Kopf geschüttelt oder betrübt aus dem Fenster gesehen.

Als Kind hatte es mich nicht interessiert, über was die beiden Frauen sprachen, aber Gerti hatte für mich immer etwas Erloschenes, etwas Gebrochenes ausgestrahlt. Wie jemand, dem man den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Wie jemand, der glaubte, sich für seine Existenz entschuldigen zu müssen. Felix, stellte ich beim Nachdenken fest, war ein bisschen so, wie ich Gerti in Erinnerung hatte. Auch er hatte das Strahlen aus Kindertagen verloren. Die beiden wirkten wie seltene Pflanzen, die ihre Pracht nur kurze Zeit entfalten und dann früh verblühen.

Diesmal nahm ich den Weg über die Gambsheimer Brücke, und natürlich sah ich rechter Hand das aus dem Boden gestampfte Einkaufszentrum von Freistett. Frisch für die Franzosen gebaut, seit in Frankreich Lebensmittel und Kosmetika teurer waren als bei uns. In Scharen kamen sie zum Einkaufen über die Brücke, so wie früher die Deutschen in Massen in den Super U von Gambsheim gefahren waren. Heute kauften sie da nur noch den Cremant d’Alsace, der preisgünstig war, weil die Franzosen keine Sektsteuer erhoben. Tanken tat man, je nach Tagespreis, entweder auf der rechten oder der linken Rheinseite. Geld wechselte gern und leicht die Grenzen, schon meine Urgroßmutter hatte ihre Eier auf dem Straßburger Markt verkauft.

Ich überquerte die Brücke und fuhr über die Autoroute des Cigognes, die Storchen-Autobahn, nach Straßburg hinein. Ein Tipp von Luc, der mir empfohlen hatte, den Wagen auf einem Park-and-ride-Platz abzustellen und dann die Bahn zu nehmen, um der leidigen Parkplatzsuche in der Innenstadt zu entgehen. Das funktionierte tatsächlich ganz wunderbar. Die Bahn fuhr direkt bis zur Place Kleber. In der Straßenbahn versuchte ich noch einmal, Antoinette zu erreichen. Vergeblich.

Es war zehn vor zehn, als ich an der Place Kleber ausstieg. Heute kam ich rechtzeitig zu meinem Patissier-Kurs.

Deville, wieder in seiner rosa Kochjacke, scheuchte mich wie vor zwei Tagen in die letzte Küchenzeile. Zum Glück gesellten sich Thomas und René bald zu mir und erzählten, dass sie den gestrigen Tag mit dem erneuten Herstellen von Macarons zugebracht hatten. Und nein, heute stand nicht die Fabrikation der Macarons-Füllungen auf dem Programm, sondern das Spinnen von Zucker.

Mittels Laptop und Beamer warf Deville zur Einstimmung beeindruckende Bilder an die Wand: einen Turm aus Profiteroles, umhüllt von einem filigranen Zuckernetz; mit Engelshaar verzierte Torten; und, als Königsdisziplin, feinste Spiralen aus Karamell. In Wien hatte ich mich zum letzten Mal in dieser Kunst versucht, aber so etwas Feines wie das, was Deville auf den Fotos zeigte, war mir nie gelungen. Stattdessen viele Karamellklumpen und sehr wenig fein gesponnenes Zuckerhaar.

Einzige Zutat für all diese Wunderwerke war Zucker. Zucker, den man in einem Topf erhitzte, damit er flüssig wurde und karamellisierte. Zunächst brauchte es dafür eine sehr hohe Temperatur, danach eine moderate. Mit ein bisschen Übung kriegte das jeder hin. Doch der Teufel steckte wie überall im Detail. Nur bei einer ganz bestimmten Temperatur hatte der Zucker die richtige Konsistenz zum Fädenziehen. Ich probierte es mit dem Löffel, ich probierte es mit der Gabel. Von streichholzkurzen Fäden bis hin zu fetten Klumpen war alles dabei, nur nie ein wirklich langer Faden, geschweige denn ein ganzes Netz aus Fäden.

Ich war nicht allein mit diesem Problem, alle taten sich damit schwer, einer der Jungspunde ließ bei dem eifrigen Probieren seinen Karamell verbrennen, und nichts riecht so bitter wie verbrannter Zucker.

Deville öffnete eilfertig alle Fenster, bevor er sich wieder an seinen Topf stellte, seine Karamellmasse aufwirbelte, mit ausladenden Bewegungen lange Fäden herauszog und damit ein bisschen in der Luft herumfummelte. Schon hatte er einen lockeren Knäuel Engelshaar gezaubert. Bei ihm sah alles ganz einfach aus. Ich beobachtete ihn eine Zeit lang, versuchte, mir sein Tempo und seinen Rhythmus einzuprägen. Schnell die Gabel eintauchen, dann langsam, aber stetig ziehen. Ich versuchte es erneut. Da! Der erste lange Faden! Leider vergaß ich, ihn zu zwirbeln, der Faden brach ab. Die Bruchstücke warf ich zurück in den Topf, startete den nächsten Versuch.

»Geduld, Geduld«, mahnte uns der Meister. »Geduld und eine ruhige Hand.«

Erstaunlicherweise war meine Hand an diesem Morgen wirklich ruhig. Völlig auf die goldene Flüssigkeit im Topf vor mir konzentriert, versuchte ich es weiter. Und siehe da, mein erstes Knäuel Engelshaar gelang. Jetzt packte mich der Ehrgeiz! Emsig häufelte ich ein Knäuel nach dem nächsten auf das Backpapier neben meinem Topf, während René und Thomas an der Königsdisziplin verzweifelten. Das Gemeine an diesen Kunstwerken ist, dass sie eine sehr geringe Lebensdauer haben. Zucker zieht schnell Feuchtigkeit, die Feuchtigkeit nimmt den Gebilden die Spannkraft, sie sacken zusammen, deshalb können sie nie auf Vorrat hergestellt werden.

Aber ich hatte jetzt den Dreh raus. Also schnappte ich mir eine Glasschüssel, drehte sie um und versuchte mich an einem filigranen Zuckerfadenkörbchen. Einen Faden nach dem nächsten webte ich um die Glaskuppel herum, ein goldenes Spinnennetz der Extraklasse. Ich war so was von stolz, als es mir gelang! Deville, der seinen Topf längst leer gesponnen hatte, trat seinen Kontrollgang an und nickte mir sehr anerkennend zu, als er mein Zuckerkörbchen betrachtete.

»C’est la patience des femmes«, schwärmte er und klopfte mir anerkennend auf die Schulter.

Männer redeten gern von Geduld, so als wäre dies eine geschlechtsspezifische Tugend. Ich bin mit Sicherheit nicht geduldiger als männliche Kollegen, aber ich neige nicht so zur Selbstüberschätzung wie viele von ihnen. Und beim Zuckerspinnen kam mir das jetzt zupass.

»Für die Spiralen ist es wichtig, dass ihr einen glatten, runden Kochlöffel verwendet, keinen, der sich zum Ende hin verdickt, keinen mit einer Öse zum Aufhängen«, erklärte Deville jetzt und hielt mir einen solchen Kochlöffel hin.

Okay, die Königsdisziplin! Es war verdammt schwer, den Faden schnell genug um den Kochlöffel zu wickeln, denn Karamell wurde in Windeseile hart. Wieder ein Fehlversuch nach dem nächsten, dann gelang es mir, den Faden zweimal, dreimal um den Stiel zu wickeln, am Ende gar fünfmal.

Deville lobte mich über den grünen Klee, und ich fragte mich, warum ich überhaupt etwas anderes tat als Kochen. Darin war ich gut, darin war ich geübt, das hatte ich von der Pike auf gelernt, in diesem Metier konnte ich mich jeder Herausforderung stellen. Sogar der, Engelshaar zu spinnen und Spiralen zu rollen. Warum nur wollte ich als Dilettantin einem Mörder auf die Spur kommen?

Bei der Werkschau am Ende des Kurses führte mich Deville als Musterschülerin vor. Die Kollegen schwankten zwischen Neid und Bewunderung, ich strahlte heitere, fast bescheidene Gelassenheit aus, dabei freute es mich schon, dass ich es all diesen Jungspunden gezeigt hatte. Beim Abschied – drei Küsschen – bat mich Deville inständig, nicht noch einen weiteren Termin zu versäumen. Das wäre doch eine Schande bei so viel Begabung.

Natürlich war ich begabt, ich war ehrgeizig, ich war eine ausgezeichnete Köchin. Wenn ich nicht immer über Leichen stolpern und meine Nase in anderer Leute Probleme stecken würde, hätte ich schon längst einen Michelin-Stern für die Weiße Lilie.

Und die letzte Leiche, die von Murnier, ließ mich nicht los. Kaum hatte ich das Hotel in der Rue de Francs Bourgeois verlassen, war’s vorbei mit Gelassenheit und Konzentration, ich wurde von einer inneren Unruhe erfasst. Ich lehnte das Angebot von Thomas und René ab, gemeinsam ein Glas in einem Café auf der Place Kleber zu trinken, und rief stattdessen Luc an, der doch schon längst die Gendarmerie wieder verlassen haben musste. Er ging nicht ans Telefon, genau wie Antoinette, die als Nächste auf meiner Liste stand. Was nun? Auf Verdacht nach Scherwiller fahren? Oder zum Gendarmerie-Posten nach Schlettstadt?

Zuerst musste ich zu meinem Auto zurück, also stieg ich wieder in die Bahn, stand eingeklemmt zwischen einem Pulk junger Leute, die in einem wilden Sprachmix miteinander redeten. Englisch, Französisch, Spanisch, was Osteuropäisches, das ich nicht verstand. Studenten wahrscheinlich, Straßburg hat eine berühmte Uni. Normalerweise mochte ich babylonisches Sprachgewirr, weil es mich an meine Anfänge als Köchin erinnerte, wo es abends nach Feierabend in Wien, Brüssel oder Florenz ähnlich zugegangen war, aber heute nervte es mich. Ich war froh, als ich endlich aussteigen und mich allein in mein Auto setzen konnte. Bevor ich losfuhr, versuchte ich es noch einmal vergebens bei Luc und Antoinette, dann wählte ich FKs Nummer.

»Hast du einen siebten Sinn oder was?«, fragte er überrascht.

»Wieso?«, fragte ich zurück und merkte, wie die innere Unruhe meinen Magen verklumpte.

»Sajdowski ist raus. Die Blutanalyse hat ergeben, dass das Blut auf seinem Hemd sein eigenes ist, wie er immer behauptet hat. Der Stich wurde Murnier übrigens post mortem von einem Linkshänder zugefügt. Sajdowski ist aber Rechtshänder.«

Sofort erinnerte ich mich an das gestrige Spiel mit Messer und Gabel. Luc war Linkshänder.

»Was ist los? Hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragte FK in mein Schweigen hinein.

»Er war’s nicht«, flüsterte ich.

»Wenn er’s nicht war, wird sich das herausstellen«, versuchte FK mich zu beruhigen. »Da sitzen fitte Leute bei der Polizei rechts und links des Rheins, die verstehen ihren Job. Klar werden sie ihn nun erneut durch die Mangel drehen, dich wahrscheinlich auch, jetzt, wo wieder alles offen ist. Es muss jedem Verdacht nachgegangen werden, du kennst doch das Spiel. Und die Ermittlungen sind langwierig, weil so viele Leute befragt und deren Aussagen miteinander verglichen werden müssen.«

»Er war’s nicht«, wiederholte ich.

»Interessieren dich weitere Einzelheiten der Obduktion?«, überging FK mein Mantra. »Der Gerichtsmediziner hat Rostpartikel in der Kopfwunde gefunden, die zu dem alten eisernen Fußabkratzer vor Murniers Hoftor passen, auf den muss der alte Mann gestürzt sein. Wo ihm dein Messer in den Rücken gestoßen wurde, wissen die Experten nicht. Als sicher gilt, dass der Mörder den Toten durch die kleine Gasse bis zum Bach geschleppt hat. Dafür sprechen die Hautabschürfungen am Bauch und an den Schenkeln des Toten.«

Wie klang es, wenn man eine Leiche über die Straße zog? Laut genug, um das Plätschern des Baches zu übertönen? War Martha davon aufgewacht? Hatte sie gesehen, wer den toten Murnier ins Wasser legte? Ich sehnte mich zurück in Devilles Patissier-Kurs, zurück zu den luftig-süßen Spinnennetzen, die so ganz anders waren als die, die ich mit meinen misstrauischen Fragen auslegte.

»Es ergibt überhaupt keinen Sinn, dass Murnier zum Bach geschleppt wurde«, machte FK weiter. »Damit ging der Täter doch ein zusätzliches Risiko ein! Sinn ergäbe, wenn der Mörder sein Opfer nach der Tat versteckt hätte, um nicht entdeckt zu werden, oder es liegen lässt und wegläuft.«

»Vielleicht war der alte Mann noch nicht tot, und sein Mörder hat ihn in den Bach geschleppt, damit er ertrinkt?«

»Murnier war schon tot, als er in den Aubach gelegt wurde. Kein Wasser in der Lunge.«

Ich dachte wieder an Alban Brandt und seine Fakten-Pedanterie und fragte: »Weißt du etwas Näheres zum genauen Todeszeitpunkt?«

»Genaue Todeszeitpunkte gibt es nur in schlechten Krimis. In der Wirklichkeit legen sich Gerichtsmediziner nie genau fest, weil sie das nicht können. Die Tatzeit lässt sich nur aus den Zeugenaussagen rekonstruieren: Gegen halb eins hat Murnier das Fest verlassen, kurz darauf kam es in der Rue de la Mairie zum Streit mit Jakub Sajdowski, der ist gegen Viertel vor eins mit blutender Nase bei seiner Frau in der Rue de la Gare angekommen. Man geht davon aus, dass Murnier nach dem Streit zu sich nach Hause in die Rue Joffre lief und ihm sein Mörder entweder gefolgt ist oder vor seinem Hof auf ihn gewartet hat, Murnier also mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen ein Uhr getötet wurde.«

Gegen ein Uhr war ich mit Luc auf dem Weg zur Winstub Mueller, um die gleiche Zeit tauchten die Hellsass Devils auf dem Fest auf. Danach hatten mit Sicherheit noch mal viele Leute die Salle polyvalente verlassen. Unvorstellbar, dass da mitten im Ortskern ein Mord geschah und keiner es merkte.

»Auch der Mörder muss die Motorräder der Hellsass Devils gehört haben«, fuhr FK fort. »Warum hat er nicht das Weite gesucht? Warum hat er die Leiche noch bis zum Bach geschleppt?«

»Und warum ist er dabei nicht gesehen worden?«, ergänzte ich, erleichtert, entspannt, völlig gelöst, denn Luc konnte nicht der Mörder sein.

»Und genau das fragt sich die Polizei auch. Und genau deshalb steht auch die Tatzeit weiter auf dem Prüfstein.«

Für diesen Satz hätte ich FK am liebsten eine geknallt, weil er die zarte Hoffnung auf den sicheren Beweis von Lucs Unschuld so schnell erstickt hatte, wie sie entflammt war.

»Katharina, bist du noch da?«

FK konnte nichts dafür, dass sich meine Hoffnung zerschlug, er war ein journalistischer Spürhund, er sammelte Informationen, um der Wahrheit nahezukommen. Und genau das wollte ich auch. Wegen Luc, sogar wegen Martha. Denn all die Verdächtigungen, all die misstrauischen Fragen fraßen sich wie Gift ins Fleisch und ins Herz, sie waren zerstörerisch, unerträglich, das alles musste so schnell wie möglich aufhören.

»Weißt du noch was, das ich nicht weiß?«, fragte FK.

Bestimmt. Und sicher würden wir schneller ans Ziel kommen, wenn wir unsere Informationen austauschten. Deshalb sagte ich: »Die Hellsass Devils glauben, dass es einer von uns war.«

»Woher weißt du das?«

»Joe hat es mir erzählt. Drei Hellsass Devils waren am Montagabend im Queen’s Pub. Joe hat ihnen auf dem Gruppenfoto zu deinem Artikel erklärt, wer wer ist.«

»Die Information würde ich mit Vorsicht genießen. Joe ist ein alter Meister im Gerüchteköcheln. Du weißt selbst, mit wie viel Leuten im Dorf er auf Kriegsfuß steht, allen voran deine Mutter.«

»Es geht um eine alte Rechnung, hat er gesagt.«

»Wie alt? Offen zwischen wem?«

»Darüber schweigt er sich aus.«

»Typisch Joe! Viel Lärm um nichts. Aber ich behalte es im Kopf. Weißt du noch was?«

»Murnier hat die Deutschen gehasst. Sagt Luc, sagt Käshammer.«

»Gehasst? So ganz allgemein? Keinen bestimmten? – Der Mann war fünfundsiebzig, das heißt, er ist 1938 geboren, 1944 ist das Elsass befreit worden, da war er sechs Jahre alt. Hast du das Jeanne-d’Arc-Bild über seiner Hofeinfahrt gesehen? Der Mann war ein alter Nationalist, Mitglied des Front national, der hasste alles, was nicht französisch war.«

Ich beschloss, Antoinette danach zu fragen. Wenn Murniers Deutschenhass mit dem Krieg zusammenhing, würde sie das wissen.

»Wo steckst du eigentlich?«, fragte er dann. »Bastelst du noch Törtchen, Schäumchen oder anderen Schi-Schi in Straßburg?«

»Schon erledigt für heute. Ich fahr jetzt heim.«

Genau das würde ich tun. Martha musste endlich mit der Sprache herausrücken.